Die erfindung der roten armee fraktion durch einen manisch-depressiven teenager im sommer 1969


von Frank Witzel
Uraufführung
Theaterfassung von Armin Petras und Maja Zade
Regie: Armin Petras


Für die berührend-komische Geschichte eines Jungen aus der hessischen Provinz, der sich im Alter von dreizehneinhalb Jahren auf der Schwelle zum Erwachsenwerden befindet, erhielt Frank Witzel 2015 den deutschen Buchpreis. In diese Geschichte der Lehr- und Wanderjahre eines Heranwachsenden ist eine minutiöse Rekonstruktion der alten Bundesrepublik eingewoben. Witzel zeigt das politische Erwachen eines Landes, das gerade beginnt, sich vom Muff der unmittelbaren Nachkriegszeit zu befreien. Diese Ära des Umbruchs wird in einem kaleidoskopartigen Erzählgewebe heraufbeschworen, welches sich aus unterschiedlichen literarischen Formen zusammensetzt, vom Gesprächsprotokoll zur Action-Szene, vom inneren Monolog bis zum philosophischen Traktat. Das Resultat ist eine waghalsige Zerreißprobe zwischen Beatles und Rolling Stones, katholischer Kirche und Psychoanalyse, erster Liebe und politischer Radikalisierung, zwischen Humor und Depression. Armin Petras, der für seine künstlerische Auseinandersetzung mit der Ost-West-Geschichte Deutschlands bekannt ist und an der Schaubühne zuletzt seine Adaption von Christa Wolfs »Der geteilte Himmel« inszenierte, widmet sich mit der Uraufführung von Witzels Roman nun der Nachkriegsgeschichte aus westdeutscher Perspektive.

>>> Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: The Prism of the Red Army Faction, Reflections and Refraction

Koproduktion mit dem Schauspiel Stuttgart

Trailer

Die erfindung der roten armee fraktion durch einen manisch-depressiven teenager im sommer 1969

Probentrailer

Die erfindung der roten armee fraktion durch einen manisch-depressiven teenager im sommer 1969

Premiere war am 9. April 2016

Achtung: In der Inszenierung kommt sehr laute Musik zum Einsatz.

Hörspiel des Monats

Die erfindung der roten armee fraktion durch einen manisch-depressiven teenager im sommer 1969

Preisträger des Deutschen Buchpreises 2015, der Autor Frank Witzel © picture alliance / dpa / Michael Kretzer

Von Frank Witzel · 03.09.2016

Hörspieladaption des preisgekrönten Romans

In der Begründung der Jury der Akademie der Darstellenden Künste heißt es:

"Es ist eine Kunst, den mehr als 800 Seiten umfassenden Roman von Frank Witzel, der im vergangenen Jahr überraschend mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden ist, in ein nicht mehr als eine Stunde und 40 Minuten dauerndes Hörspiel zu verwandeln, ohne die Substanz dieses ausschweifenden "hybriden Konstrukts aus Pop, Politik und Paranoia" (Jurybegründung), einer Collage aus unterschiedlichen literarischen Verfahren, anzutasten. Dieses kleine Wunder ist der Tatsache geschuldet, dass der Autor gemeinsam mit dem versierten Hörspielregisseur Leonhard Koppelmann an der akustischen Umsetzung des Textes gearbeitet hat und außerdem für die Komposition des Soundtracks verantwortlich zeichnet. Entstanden ist ein unglaublich frisches, lebendiges, den Hörer geradezu anspringendes Hörspiel. Weit davon entfernt, eine "akustische Fassung" zu liefern, gelingt es diesem Hörspiel, den Roman über einen 13-jährigen Schulversager in Wiesbaden-Biebrich, der sich mit Freunden im Sommer 1969 - vor dem Hintergrund der Kaufhausbrandstiftung der späteren RAF - eine paranoide Welt zusammenzimmert, auf ganz eigenständige Weise neu zu erschließen. Wesentlichen Anteil daran hat die durchgehend mitlaufende zweite Tonspur: eine spannende Mixtur aus Tönen, Geräuschen, Musikfetzen und von Witzel komponierten (und gesungenen) Songs, die einen zusätzlichen atmosphärischen Hörraum für "Die Erfindung der RAF" schafft."

Musik: Frank Witzel
Bearbeitung: Leonhard Koppelmann/Frank Witzel
Realisation: Leonhard Koppelmann
Produktion: BR
Länge: 99'25

Anschließend:
Das Hörspielmagazin
Neues aus der Welt der akustischen Kunst

Die erfindung der roten armee fraktion durch einen manisch-depressiven teenager im sommer 1969

Ein gewichtiges Stück Literatur: "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" von Frank Witzel wiegt über 1100 Gramm (Deutschlandradio / Frank Barknecht)

Dieser Roman ist eine Zumutung. Ein Ungetüm. Ein Abenteuer. Eine Frechheit. Eine Verwirrung. Vor allem aber ein fulminantes Stück Literatur, das aus einem engen Wirklichkeitsausschnitt eine Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik herauspräpariert. "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" – schon allein der Titel von Frank Witzels 800-Seiten-Prosa-Rausch hat etwas Maßloses, und man muss sich auf einiges gefasst machen, wenn man in die kleine und immer größer und durchgeknallter werdende Welt dieses Teenagers eindringt.

"Im Wesentlichen ist der Roman der Versuch, mich zu erinnern an die Zeit mit dreizehneinhalb, wie es da war, welche Eindrücke ich da von meiner Umwelt gewonnen habe, wie ich mich gefühlt habe in Bezug auf Familie, Kirche – spielt ja eine große Rolle -, die Schule und was sonst noch in der Jugend passiert. Das ist eigentlich im Zentrum. Und ich hab versucht, mich dem von verschiedenen Seiten anzunähern."

Wirklichkeitswahrnehmung und Erinnerung

Das ist bescheiden formuliert. Denn neben diesem Teenager, den wir auch als nah an die Gegenwart heranrückenden Erwachsenen erleben, ergreifen noch einige andere Figuren das Wort. Sie gruppieren sich in unterschiedlichen Abständen um diesen Teenager herum, ständig wechseln Perspektiven, und zuweilen kann man nur ahnen, wer gerade spricht, wo die übersteigerte Wahrnehmung einer Figur sich schließlich im Wahn auflöst.

Verschiedenste Textsorten stehen Frank Witzel in 99 Kapiteln zur Verfügung: von der Kurzgeschichte über kleine Porträts, Dialoge, Verhörsituationen bis zu Kurzhagiografien der Mitglieder der RAF. So verschwimmen nach und nach die Konturen, es entsteht ein Bewusstsein für die Vielschichtigkeit von Wirklichkeitswahrnehmung und Erinnerung.

"Die Kindheit erscheint uns nur deshalb so unwiederbringlich kostbar, weil wir uns in ihr noch nicht aufgeteilt haben, weil wir uns noch nicht selbst über die Schulter sehen, weil wir nicht nach vorne stolpern, während wir nach hinten blicken und so immer das versäumen, was wir gerade tun, und uns selbst zum Rätsel werden, bestenfalls.

Im Wahn jedoch hat das alles ein Ende. Im Wahn findet alles gleichzeitig statt, erlebe ich parallel die ganze Historie meines Lebens und das, was an beiden Seiten über sie hinauslappt. Ich tauche gleichermaßen in das Dunkel meiner Geburt wie das meines Sterbens ein, und jede Handlung zersplittert in ein unendliches Kaleidoskop von Möglichkeiten."

Dieses Kaleidoskop von Möglichkeiten haben wir vor uns, eine im Wahn sich nach und nach zersetzende, in Wahrheit aber erst konstituierende Welt. Frank Witzel legt mit diesem Buch sein Opus Magnum vor:

"Also, an dem Projekt arbeite ich bestimmt seit Ende der 90er-Jahre, also bestimmt 15 Jahre. Natürlich nicht, dass ich jeden Tag da gesessen hab. Ich hab in der Zwischenzeit ja noch drei andere Romane geschrieben und auch noch andere Sachen gemacht. Aber das Projekt ist eigentlich das, was mich sehr lange umgetrieben hat.

Mir war am Anfang überhaupt nicht klar, wo es hingehen sollte. Das Problem, was sich lange Jahre gestellt hat für mich, war, was kommt alles in den Text rein. Und ich hab versucht, eigentlich immer wieder diesen Text auseinanderzudröseln in zwei oder vielleicht sogar drei Romane, war aber immer unzufrieden, weil mir immer etwas gefehlt hat. Und die Arbeit war wirklich, das zu finden, was zu diesem Text passt, das war die wesentliche Arbeit, die mich auch die letzten Jahre vor allem beschäftigt hat. Ich hab praktisch das Ganze Material heruntergebrochen auf das Wesentliche."

Zum Wesentlichen vorzudringen ist gleichwohl nicht so einfach: Witzels Roman bewegt sich auf verschiedenen Ebenen, die schwanken und unmerklich ineinander übergehen. Die Pubertät und Selbstfindung des Teenagers findet statt im Spannungsfeld von Ordnung gebender Kirche, autoritärer Familie und aus den Fugen geratender Politik, und es gibt ein Springen zwischen den Zeiten, sodass auch das sich verändernde Bewusstsein die Erinnerung immerzu mitformt.

"Erst in der Erinnerung merken wir manchmal, wie dünn das alles ist: Der Weg, die Hecke, der Schein der Lampe, und dass wirklich alles nachgibt unter uns, weshalb es bleibt, während wir, stur wie wir sind, vergehen."

Witzels jugendlicher Erzähler versucht mit seinen 13 Jahren die unübersichtliche Welt zu begreifen, flüchtet sich in Fantasien, bricht schließlich zusammen und landet in einem Sanatorium, in dem der Psychologe Dr. Märklin und der Pfarrer Fleischmann erbittert um seine Seele ringen.

"Und die beiden führen natürlich über seinen Kopf hinweg oder auch durch ihn hindurch einen Kampf im Grunde. Die beiden kämpfen auch gegeneinander, sie kämpfen um eine gewisse Deutungshoheit."

Gegenwart mit einem Werkzeug begreifen

Märklin oder Fleischmann – das sind in diesem Fall nicht nur ganz rudimentäre Entscheidungen, die im Kinderzimmer getroffen werden: Wie und mit welchen Mitteln baut man sich die Welt im H0-Maßstab nach? Märklin oder Fleischmann, das steht überhaupt für das Strukturprinzip bundesdeutscher Sozialisation seit den 50er-Jahren: Das Denken formt sich anhand von Dichotomien – von der Entscheidung für Geha oder Pelikan über Beatles oder Stones, Hippietum oder RAF bis zu BRD oder DDR.
Freund und Feind, die alte Schmittsche Kategorie des Politischen, ist dem Teenager der sechziger Jahre in Fleisch und Blut übergegangen. Witzels Protagonist wird aufgerieben zwischen Rationalität und Mystizismus, Dr. Märklin und Pfarrer Fleischmann sind späte Wiedergänger von Naphta und Settembrini aus Thomas Manns "Zauberberg". Und weil er zwischen die Fronten gerät, muss sich dieser Teenager seine eigene Welt schaffen:

"Er wird praktisch von den politischen Umständen überfordert und auch überrannt. Und gleichzeitig entdeckt er aber in der RAF gewisse Bilder wieder, die er aus seiner katholischen Religion kennt. Nämlich den Märtyrer. Und er fühlt sich automatisch da hingezogen. Er versucht, die Gegenwart praktisch mit einem Werkzeug zu begreifen, was er von seiner Erziehung her bekommen hat, aus seiner religiösen Erziehung in diesem Fall."

Der Katholizismus spielt in diesem Roman eine ebenso große Rolle wie der französische Poststrukturalismus, der manche ideologischen Verhärtungen der 70er-Jahre aufzubrechen half. "Kann ich den Staat nicht fassen", hieß es 1988 in Rainald Goetz' RAF-Roman "Kontrolliert", "hieß die Konsequenz Rekonstruktion der Konstruktion des staatlichen Gesamtgebäudes." Bei Frank Witzel geht es um die Dekonstruktion der Rekonstruktion der Konstruktion eines pubertären Wahngebäudes, das von hunderten kleinen Büchern, Schallplatten, Filmrollen getragen wird.

Ein großes Register gibt Auskunft über die idiosynkratischen Referenzen, die in "Die Erfindung der RAF" Eingang finden, und schon die Lektüre dieses Verzeichnisses erzeugt zuweilen lustige Korrespondenzen, etwa wenn sich "Derrick" in direkter Nachbarschaft zu "Derrida" findet – damit ist die Bundesrepublik der späten 70er-Jahre schon ziemlich genau charakterisiert.

"Also, das Register, was für einen Roman ja recht ungewöhnlich ist, das ist der Versuch, dem Leser noch mal einen Zugang an die Hand zu geben. Man kann zum Beispiel durch das Register blättern und sehen, dass da sehr viele Heilige drin vorkommen, dass auch Figuren aus der griechischen Mythologie vorkommen, man kann Straßennamen finden und dann schauen, was die im Text zu bedeuten haben. Es ist praktisch noch mal der umgekehrte Weg."

Schwankend, schwebend, suchend

Frank Witzels Buch handelt von Ideologien und ist dabei ganz unideologisch, auch in der Art und Weise des Erzählens, eines wilden, oftmals nicht recht fassbaren Erzählens in verschiedenen Stimmen, die sich nicht nur eindeutiger Zuordnung immer wieder entziehen, sondern zudem die eigenen Spuren verwischen:

"Es ist auch eine Bewegung im Schreiben, die sich immer nach verschiedenen Seiten orientiert und etwas, man könnte es als schwankend, man könnte es als schwebend und auch im besten Sinne suchend beschreiben. Mir fällt oft, wenn ich schreibe, immer auch das Gegenteil von dem ein, was ich schreibe. Und es gibt ja in diesem Roman eine große Anzahl von Texten, die eine Art Befragung oder Verhörsituation widerspiegeln."

"Ja, natürlich verstehe ich das. Mein Wahnsinn besteht darin, völlig normal zu sein.
Sehen Sie, das genau meine ich. Immer wissen Sie alles besser, haben alles auch selbst schon gesagt, sich auch selbst schon kritisiert. Das sind alles so Techniken, die Sie bis zur Perfektion entwickelt haben, damit man Sie nicht greifen kann.
Sie sind glitschig wie ein Aal, aber nicht so, wie man es von Hochstaplern oder Betrügern kennt, sondern auf so eine vergeistigte, versponnene Art, die noch schlimmer ist."

Ironische Überwindung

Die Dialoge, aber auch etliche andere Textformen in der "Erfindung der RAF" sind dabei von einer geradezu entlarvenden Komik: Nicht so, als würde der Ernst der Problematik – das Verlorengehen eines Ichs – ins Lächerliche gezogen. Sondern vielmehr zeigt sich im Witz die Absurdität der großen Erzählungen, der Mangel an Empathie derjenigen, die Deutungshoheit beanspruchen, die Fratzenhaftigkeit der Geschichte. Gegen die Farce hilft nur das Lachen.

"Der Humor hat für mich eine ganz wesentliche Funktion, weil auf dem Hintergrund des Humors kann überhaupt für mich eine gewisse auch tiefergehende Reflexion erst stattfinden, die sonst keinerlei Fallhöhe hätte. Die Figuren sind immer bereit, sich auch selbst zu ironisieren. Das ist für mich ganz wichtig."

"Die zweite Generation der RAF wurde aus den ausgeschlagenen und in einem Warmbeet hinter einem Hochhaus im Berliner Bezirk Schöneberg eingepflanzten Zähnen der toten Mitglieder der ersten Generation gezüchtet. Diese Sprösslinge trugen keine langen Haare und Bärte mehr, sondern Pilotenbrillen und Kurzhaarfrisuren. Von Sprengstoff hatten sie keine Ahnung.
Sie nannten sich Epigonen und wollten das Goldene Vlies des Kapitalismus scheren. Theorie war ihnen unwichtig. Hauptsache schnell in den Knast."

"Und umgekehrt kann es nicht dabei stehen bleiben, dass das Ganze nur in einem ironischen Duktus erzählt wird. Das wär mir viel zu wenig. Sondern es muss zwischen den ernsten Passagen aber immer die Möglichkeit geben, noch mal einen Blick darauf zu werfen, aus einer Distanz, mit einer Distanz, um dasselbe noch einmal anders, nämlich in einer Art ironischen Überwindung betrachten zu können."

Die ironische Überwindung gelingt manchen der Erzähler – weil sie von sich wegrücken können. Der Teenager hingegen, die Foucault'schen Disziplinierungs-Institutionen Schule, Sanatorium, Konvikt durchlaufend, verharrt in einer Schleife von Schuld und Scham und Unwissenheit. Aber er hat seine Fantasie, die zugleich Fluch und Segen ist.

"Für den Teenager ist die Erfindung praktisch eine Notwendigkeit, weil er sich sonst die Realität gar nicht aneignen kann. Er versucht, etwas zu verstehen, er sieht immer nur Fragmente um sich herum, ihm wird ja nichts erklärt, in der Schule wurde damals der Nationalsozialismus nicht behandelt im Geschichtsunterricht.

Es ist im Grunde sein Zugang zur Realität, der über die Fantasie funktioniert. Und teilweise gibt es dann erstaunliche Übereinstimmungen und Überschneidungen mit der Realität, und teilweise driftet er natürlich immer wieder ins Mythische ab."

Lohnender Mammutroman

Wie Frank Witzel dieses Abdriften in immer neuen Anläufen schildert, wie viele Geschichten er in diese eine Geschichte packt, wie er mit den Stoffmassen jongliert, ist schlicht großartig.
Es wird wohl eine ganze Weile dauern und eine Legion penibler Leser brauchen, um auch nur einige der Schichten dieses Mammutromans freizulegen. "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" aber lohnt jede Mühe.

Frank Witzel: "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969"
Matthes & Seitz. Berlin 2015. 830 Seiten, 29,90 Euro.