Harald welzer nachruf auf mich selbst

Harald Welzer hat ein neues Buch geschrieben. Es heißt „Nachruf auf mich selbst“ und handelt also ausweislich des Titels vom eigenen Leben. Doch zuerst einmal geht es um den Kapitalismus, der die Natur ausbeutet, von der sich der Mensch schon längst entfremdet habe. Es fallen Sätze wie: „Eine Kultur, die wie unsere ihre eigenen Voraussetzungen konsumiert, muss im Irrtum sein.“ Dem kann man zustimmen, doch man liest so etwas auch nicht gerade zum ersten Mal. Es geht auch darum, dass die Menschheit durch diese Kultur verlernt habe, aufzuhören, zum Beispiel mit dem Konsum oder der Leistungssteigerung. Ebenso wenig sei sie in der Lage, den Tod als Teil des Lebens zu betrachten, er werde ausgeklammert.

Harald welzer nachruf auf mich selbst

Das alles führt Welzer, von Haus aus Soziologe, zu Feststellungen wie: „Aber ja, das Leben ist endlich“, „wir alle müssen sterben, das weiß man sicher“, und der Tod sei eine „lästige Erinnerung daran, dass Wissenschaft Grenzen hat, und, leider, auch daran, dass jedes Leben endlich ist“. Der Autor versteht sich darauf, seine Einsichten zu wiederholen.

Ansatzlos eine vors Maul

Dann kommt er auf seinen Herzinfarkt zu sprechen, der ihm vor eineinhalb Jahren fast das Leben kostete. Es geht aber gerade noch gut, Welzer liegt im Krankenhaus und ist voller Demut angesichts der Betreuung, die ihm zuteilwird. Und er lässt uns wissen, was er sich damals geschworen hat: „Werde ich irgendwann in einer öffentlichen Situation sein, in der irgendein Idiot darüber schwadroniert, dass in diesem Land nichts funktioniere und überall nur Schwachsinn und Unfähigkeit herrsche, stehe ich auf und haue ihm ansatzlos und erklärungsfrei eine vors Maul. I swear.“

Really? Vorher war ihm noch nicht eingefallen, dass hierzulande gerne auf hohem Niveau gejammert wird? Dafür musste man als Soziologe erst auf der Intensivstation landen? Und wieso unbedingt mit der Beschwörung von Handgreiflichkeiten? Aggressive Ausfälle kommen noch ein paarmal vor. Etwa wenn Welzer von Designerbabys spricht, die „im Auftrag extrem progressiver queerer Paarungen“ von Leihmüttern in Indien ausgetragen würden. Aus unerfindlichen Gründen hängt er hier ein Gendersternchen und ein „-innen“ an das Wort „Leihmütter“. Das soll vermutlich ein Witz sein, aber der Sinn erschließt sich nicht. Über Menschen, die viel „dummes Zeug“ erzählen und „damit beruflich sehr weit kommen“, schreibt er: „Dummheit ist quantitativ eine Konstante, etwa 20 Prozent der Menschen sind in diesem Sinn dumm.“ Aus welcher Quelle diese Prozentangabe stammt, das erfährt der Leser nicht, obwohl das Buch ein Quellenverzeichnis besitzt.

Selbstschutz vor der Banalität

Welzer ist nicht der erste Autor, der seine Nahtoderfahrung in einem Buch verarbeitet. Bei ihm aber hängt gleich alles miteinander zusammen, sein Herzinfarkt, der Kapitalismus und der Untergang der Menschheit. Das Bezugsnetz ist so dicht, dass er sich darin immer wieder verheddert. Die alles verbindende Frage ist Welzer zufolge: „Wer will ich gewesen sein?“ Den Nachruf auf sich selbst solle jeder deutlich vor dem eigenen Lebensabend schreiben, um zu reflektieren, ob er zufrieden sei mit seiner Lebensweise. Welzer gibt zu Beginn des Buches an, sein eigener Nachruf sei auf den letzten Seiten des Buches zu lesen. Dort stehen dann allerdings nur Stichpunkte, etwa: „Ich möchte, dass in meinem Nachruf steht: Er hatte gelernt, das Optimieren zu lassen.“ Das gibt zu denken, vor allem, weil Welzer an anderer Stelle hervorhebt, es käme darauf an, nicht unter seinen Möglichkeiten zu bleiben.

Ein Abschnitt widmet sich Gesprächen mit Menschen wie Reinhold Messner, die wüssten, wann das Aufhören geboten sei. Der Normalsterbliche, wohlgemerkt Adressat der Abhandlung, würde beim Bergsteigen vermutlich deutlich früher hinschmeißen als Messner. Mit dem Aufhören jedenfalls, so Welzer, würde alles besser werden. Was ja stimmen mag. Wie man die Menschen aber zum Aufhören bringt, darüber weiß Welzer bloß zu berichten, dass es „ein komplexer Prozess“ sei. In jedem Fall aber sei Aufhören, und das liest sich gerade in diesem Buch besonders kurios, „Selbstschutz vor der Banalität“.

Harald Welzer: „Nachruf auf mich selbst“. Die Kultur des Aufhörens. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 288 S., geb., 22,– €.

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Harald welzer nachruf auf mich selbst

Podcast 12.05.22 Harald Welzer – Nachruf auf mich selbst

FREIHEIT DELUXE mit Jagoda Marinić

Harald Welzer hat sich entschlossen, Optimist zu sein. Der Sozialpsychologe will Geschichten erzählen von einer gelingenden Zukunft. Von Menschen, die ihre Handlungsspielräume nutzen, um die Welt besser zu machen. Trotz Klimakatastrophe, trotz prekärer Lebensverhältnisse in Zeiten des Neoliberalismus. "In einer freien Gesellschaft gibt es immer die Möglichkeit zu handeln", sagt Harald Welzer im Gespräch mit Jagoda Marinic. Nach einem Herzinfarkt hat er das Leben neu lieben gelernt und einen Nachruf auf sich selbst geschrieben. Jetzt aber sieht er seinen notorischen Optimismus in Frage gestellt - durch die Rückkehr des Krieges nach Europa. Harald Welzers Plädoyer gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sorgt für massiven Widerspruch - auch bei Jagoda Marinic. Und so wird diese Podcast-Folge von FREIHEIT DELUXE auch zum Forum für den freundschaftlich ausgetragenen Streit zwischen Unterzeichner*innen zweier gegensätzlicher offener Briefe. Hier hört ihr, - welche Geschichten Harald erzählen will und warum es immer Handlungsspielräume gibt (7:05), - wie Harald sich mit Elon Musk battelt (9:45) und warum es bekloppt ist, eine neue Autofabrik als Innovation zu verkaufen, - wie Harald ein Blumentopf auf den Kopf fiel (16:15) und warum er in der Intensivstation eine fantastische Erfahrung gemacht hat, - warum wir die Probleme der Menschheit nicht durch Optimierung des Vorhandenen lösen können (31:40), - wieso es in Deutschland scheinbar keine Leichenwagen mehr gibt (36:00), - ein Geständnis, das die Podcast-Hörer*innen auf keinen Fall weitersagen dürfen (48:00), - dass "Abfall" ein Begriff des 20. Jahrhunderts ist (49:00) und wie in der Moderne sinnvolle Praktiken wie das Lumpensammeln abgeschafft wurden, - warum Überzeugungen erschreckend fluide sind (56:00), - wie es dazu kam, dass Harald Welzer den offenen Brief in der Emma unterschrieben hat, und warum er das "Inferno" der anschließenden Diskussion "schlicht total super" fand (1:00:00), - warum man Jagodas Argumenten nicht ausweichen kann (1:09:00), - wie der Streit zwischen Jagoda und Harald seinen Höhepunkt erreicht (1:27:00) und ein beinahe versöhnliches Ende findet (1:35:00), - warum das Leben nur mit Unernst zu ertragen ist (1:36:00). Das Gespräch wurde NACH der Veröffentlichung des offenen Briefs in der "Emma" mit der Unterschrift von Harald Welzer und VOR Welzers viel diskutiertem Auftritt bei "Anne Will" aufgezeichnet. Ein Transkript dieser Folge findet ihr hier: https://download.hr2.de/podcasts/freiheit_deluxe/jagoda-marinic-harald-welzer-100.pdf FREIHEIT DELUXE mit Jagoda Marinic ist eine Produktion des Hessischen Rundfunks und des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.

Was möchte Harald Welzer damit erreichen wenn er einen Nachruf auf sich selbst verfasst?

' Dazu stellt Welzer an das Ende des Buchs fünfzehn Wünsche, was in seinem Nachruf stehen sollte, wie z. B. Er konnte gut Zeit verschwenden, er hat gelernt, das Optimieren zu lassen, er hielt die richtigen Fragen für wichtiger als die falschen Antworten und schließlich: Er hat gelernt, keine Angst vor dem Tod zu haben.

Hat Harald Welzer Kinder?

Sein Sohn Nicholas Czichi-Welzer ist dort ebenfalls tätig. Anfang 2020 erlitt Welzer einen Herzinfarkt, den er 2021 in seinem Buch Nachruf auf mich selbst beschrieb. Welzer lebt in Berlin.