Nicht in die Augen schauen können Autismus

Mit Naoki Higashidas Bestseller "Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann" als Leitlinie porträtiert Jerry Rothwell in seinem Dokumentarfilm fünf junge, nonverbale Autisten: Ein poetischer Teppich aus Bildern und Tönen, der tief in die Wahrnehmung und Gefühle der Porträtierten eintauchen lässt.


Tiefe Einblicke in seine Wahrnehmung und seine Gefühle bot der 1992 geborene nonverbale Autist Naoki Higashida, als er im Alter von 13 Jahren das Buch "Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann. Ein autistischer Junge erklärt seine Welt" schrieb. 2007 erschien dieses Buch, in dem Naoki Antworten auf 58 Fragen zum Autismus bietet, in Japan und entwickelte sich zum weltweiten Bestseller, der in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurde.


Die Produzenten Stevie Lee und Jeremy Dear, die selbst Eltern des autistischen Joss sind, der nun im Film porträtiert wird, wendeten sich mit dem Wunsch einer Verfilmung des Buchs an den Dokumentarfilmer Jerry Rothwell. Da der inzwischen erwachsene Naoki aber nicht selbst vor die Kamera treten wollte, entstand kein Biopic, sondern sein Buch bildet "nur" das Rückgrat des Films, das die Porträts von fünf jungen Autisten zusammenhält. Mit Naoki verbindet diese jungen Menschen, dass sie nonverbale Autisten sind, die ihre Gefühle und Gedanken nicht über die Sprache ausdrücken können.


Bilder eines Jungen mit roter Jacke – Naokis Alter Ego – auf einer Wiese unter Hochspannungsleitungen oder in einem Wald und dazu ein Voice-over zunächst mit Informationen zum Buch und anschließend mit Textpassagen aus dem Buch sind die Leitlinie. Der Einblick, der hier verbal in die Welt eines Autisten geboten wird, wird einerseits durch die Bilder und Töne, andererseits durch die fünf Porträts verstärkt.


Immersive Kraft entwickelt die Bildsprache mit Fokussierung auf Details wie Regentropfen, Seifenblasen oder einem Bleistift oder Verstärkung von Tönen vom Kratzen von Kufen auf Eis übers Geräusch eines Verteilerkasten, der Kette einer Schaukel oder der Federn eines Trampolins bis zum Prasseln des Regens und dem Rauschen des Windes. Ansatzweise nachfühlen kann man so, was es bedeutet nie das ganze Objekt, sondern immer nur Details, diese aber ungleich intensiver wahrzunehmen.


Erfahrbar macht Rothwell mit dem Strom dieser teils mit Makroobjektiv aufgenommenen, immer wieder verschwimmenden und verzerrten Bilder und mit 360° Tonaufnahmen die Intensität der Reizüberflutung, die auf Autisten hereinbricht, und die Andersartigkeit ihrer Wahrnehmung.


Gleichzeitig kommt man durch die Porträts fünf Menschen nahe und gewinnt auch einen Eindruck von den Herausforderungen, die ein autistisches Kind für die Eltern darstellen. Quer um den Globus spannt Rothwell dabei den Bogen von der jungen Inderin Amrit, die Begeisterung fürs Malen entwickelt hat, über den Briten Joss, den die Eltern aufgrund seiner Panikattacken schließlich in ein Internat bringen müssen, und die US-amerikanischen Eishockeyfans Emma und Ben, die enge Freunde sind, bis zur in Sierra Leone lebenden Jestina.


Ganz unterschiedliche Probleme und Lebensfelder werden dabei sichtbar. Der Fürsorge für Joss, dessen Entwicklung die Eltern mit Home-Movies begleiteten, die in den Film Eingang fanden, steht in Westafrika die Stigmatisierung von Autisten als Teufel, Hexen oder Verrückte gegenüber. Wie die Eltern Jestinas dieser Ausgrenzung mit der Errichtung einer Schule für autistische Kinder entgegenwirkten, so lernte in Indien Amrits Mutter die künstlerische Begabung ihrer Tochter zu fördern. Und Emma und Ben wiederum lernten über Buchstabiertafeln zu kommunizieren. Geschickt verzahnt werden die Porträts auch dadurch, dass sie zwar hintereinander angeordnet sind, es aber auch immer wieder Sprünge zu einem schon zuvor Porträtierten gibt.


So zeichnet Rothwell ein vielschichtiges, aber letztlich optimistisches Bild vom Leben mit Autismus, wenn Amrit schließlich die Vernissage einer Einzelausstellung ihrer Bilder feiert und Ben und Emma eine Wohnung besichtigen, in die sie bald einziehen werden. Vor allem aber bringt "The Reason I Jump", dessen Originaltitel sich darauf bezieht, dass Joss mittels Trampolinsprüngen seine Gefühle ausdrückt, die er mit Worten nicht vermitteln kann, mit seinem fulminanten Bild- und Klangteppich die Wahrnehmungswelt nonverbaler Autisten nahe: Augen öffnen kann so dieser Dokumentarfilm und über diese unmittelbare sinnliche Erfahrung auch das Denken über Autismus verändern.

Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann - The Reason I Jump USA / Großbritannien 2020 Regie: Jerry Rothwell mit: Amrit Khurana, Joss Dear, Emma Budway, Benjamin McGann, Jestina Penn-Timity, Jim Fujiwara, David Mitchell, Aarti Khurana Länge: 82 min.


Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan. Spielboden Dornbirn: Di 17.5. + Sa 22.5 - jeweils 19.30 Uhr

Können Autisten in die Augen schauen?

Wenn schon ein Mensch nicht wahrgenommen wird, gibt es auch keinen Blickkontakt. Leicht autistische Menschen scheuen den direkten Blick in die Augen des Gegenübers und fixieren stattdessen zum Beispiel die Stirn, die Nase oder den Mund. Andere schauen seitlich am Kopf des Gegenübers vorbei.

Wie macht sich leichter Autismus bemerkbar?

Drei Hauptmerkmale sind bei den meisten Personen mit Autismus-Spektrum-Störung zu beobachten: gestörte soziale Interaktion. beeinträchtigte Kommunikation und Sprache. wiederholte, stereotype Verhaltensweisen und Interessen.

Wie schauen Autisten aus?

Im Aussehen wirken Autisten auf andere Menschen meist normal und oft auffallend attraktiv. Sie sind auch von normaler Statur und haben einen nor-mal, eher überdurchschnittlich großen Kopf. Schaut man allerdings genauer hin, fällt oft beispielsweise eine leichte Fehlbildung des äußeren Ohres auf.

Was kann ein Autist nicht?

Autisten und ihre Besonderheiten Dazu gehören: Beeinträchtigung im Gebrauch von nonverbalen Verhaltensweisen wie Blickkontakt, Gesichtsausdruck, Körperhaltung oder Gestik. Wortwörtliches Sprachverständnis, was zu Schwierigkeiten bei ironischen Bemerkungen von Mitmenschen oder bei Metaphern führt.

Toplist

Neuester Beitrag

Stichworte