Was bedeuten oranvene pfeile an der autobah

Jo Zybell

Apokalypse Der Tod kommt aus dem All Maddrax HC 01 Version 1.0

Das Buch Als die Hobby-Astronomen Marc Christopher und Archer Floyd an jenem Sommerabend des Jahres 2011 einen kleinen leuchtenden Fleck über dem Saturn entdecken, ahnen sie nicht, dass sie das Ende der Zivilisation kommen sehen. Denn der Komet, der die Bahn des Ringplaneten passiert, hält Kurs auf die Erde. Und nicht nur das: Er zielt geradezu darauf, als würde er selbstständig Kurskorrekturen vornehmen! Aber das ist nicht das einzige Rätsel, das die Menschheit erwartet und das die Zivilisation ins tiefste Mittelalter zurückwerfen wird. Während »ChristopherFloyd« auf die Erde zu rast und die Menschen sich langsam ihres Untergangs bewusst werden, blicken wir in die Zukunft, 500 Jahre nach unserer Zeit. Auf das Leben einer jungen Frau, der Barbarin Aruula, die in einer bizarren postatomaren Welt um ihr Überleben kämpft. Ihr Schicksal ist auf wundersame Weise verknüpft mit einem Mann, der die Apokalypse im Februar 2012 hautnah miterlebt. Als Pilot der US Air Force ist Commander Matthew Drax einer der wenigen Menschen, die einen Logenplatz auf den Untergang haben. Ihn erwartet ein Abenteuer, das gleichzeitig Ende und Anfang ist…

Prolog Der Tod – ihr ständiger Begleiter seit Monden. Oder nicht schon seit jenem Tag vor achtzehn Wintern am Strand von Kalskroona? Jetzt stand er ihr gegenüber. In Gestalt zweier Taratzen. Vier Schritte vor Aruula ragten sie aus dem Schnee, hochaufgerichtet auf ihren Hinterläu­ fen. Zwei Köpfe größer als sie selbst. Ihre Rückenfelle waren gesträubt, ihre spit­ zen langen Schnauzen weit aufgerissen, ihre Klauen gierig gespreizt. Sie fauchten böse. Blut klebte an den Krallen der linken Bestie. Radaans Blut. Der Sohn des Häuptlings lag im Eishang, nur eine Speerlänge neben dem Göt­ tervogel. Mit beiden Händen hielt Aruula ihr Schwert vor den Körper. Die Bestien belauerten jede ihrer Bewegun­ gen. Auch sie ließ die beiden keinen Atemzug lang aus den Augen. Sie sah die Schnurrhaare zittern. Aus den Augenwinkeln spähte Aruula hinüber zu Radaan. Dort steckte der blaue Leib des Göttervogels in der Eisspalte. Ein Göttervogel, der sich nicht bewegte. Genau so wenig wie Ra­

daan. Auch den Kopf des Gottes, der auf dem Vogel geritten war, erkannte sie: eine große glatte Kugel. Sie schimmerte bläulich wie Glet­ schereis. Die Taratzen duckten sich wie zum Sprung. Aruulas Atem flog. Eine Stimme erfüllte ihren Kopf: Fürchte dich nicht! Tausende wird dein Schwert fressen … Wudans Auge hatte es einst prophezeit. Sie hob die Waffe und brüllte ihren Zorn und ihren Willen zu leben hinaus. Die schwarzen Bestien fielen auf ihre Vorderläufe und näher­ ten sich lauernd. Ihre Schwänze peitschten durch den Schnee; weiße Wolken hüllten ihre knotigen Schenkel ein, der Schnee knirschte unter ihren Klauen … Das Ziel Wohin sein Lauschen sich auch tastete – es war allgegenwärtig. In all dem Rauschen, Wispern und Raunen, das ihn umgab. In jeder Bilderwoge, die an ihm vorüber glitt. In jeder Gedankenbrandung, die ihn durchperlte. In jedem Empfindungsstrom, den er berühr­ te. Das Ziel. Alle konzentrierten sich darauf. Auch die kraftlosen Stimmen. Auch die blas­ sen, verschwommenen Bilder, ja selbst die zaghaften Empfindungssplitter aus kaum

noch wahrnehmbaren Quellen – selbst in ih­ nen pulsierte noch das Verlangen. Nach dem unbekannten und doch unter allen Umstän­ den zu erreichenden Ziel. Wie kalter Schwefeldunst streifte ihn das Ge­ danken-Rinnsal einer fremden Aura. Er glaubte zu frösteln. Geduldig lauschte er. Hoffnungslosigkeit und Angst kümmerte ir­ gendwo zwischen unzähligen Auren vor sich hin. Er tastete sich durch lautere, kraftvollere Stimmen und Bilder. Bis er die Erschöpfte füh­ len konnte: eine schwache, in sich verkrümm­ te Lebens-Aura. Es war eine Lan aus einer benachbarten symbiotischen Einheit. (Benenne dich), sendete er. (Liob’lan’taraasis), wisperte es aus der frem­ den Aura. (Wer berührt mich?) (Est’sil’bowaan. Es ist kalt in deiner Nähe, Liob’lan’taraasis.) (Ich kann nicht mehr – so weit, so viel Zeit …) (Zeit? Entfernung? Unsinnig. Denk an das Ziel.) (Wir erreichen es nie …) (Denk an das Ziel.) (Dann höre nicht auf, mich zu berühren. Und erzähle mir vom Ziel …)

1. Blue Mountain Peak, Jamaika, 25. August 2011 Antares, im Sternbild des Skorpions, leuchte­ te hoch im Westen. Darunter, fast in der Mitte des südlichen Ster­ nenhimmels, die Riesensterne Alpha und Beta Centauri und darüber das Kreuz des Südens. Im Osten schwebten die Fische am Horizont. Gegenüber im Westen funkelte Spica im Stern­ bild der Jungfrau. Und hinter Floyd rief eines der Mädchen: »Wünsch dir was! Schnell, wünsch dir was!« Archer Floyds Auge löste sich vom Okular des Teleskops. Über die Schulter blickte er hinter sich: Zwischen den Büschen im hohen Gras standen Marc Christopher und die beiden jun­ gen Frauen. Alle drei blickten in den nördli­ chen Nachthimmel. Die Glutbahnen dreier Me­ teoriten zogen sich über das Sternenfirmament. Sternschnuppen. Vivian, die Jüngere der beiden Frauen, tän­ zelte auf und ab, wie ein kleines Kind in aufge­ regter Erwartung. »Eine Hauptrolle! Eine Hauptrolle in Saxons nächstem Film!«

Floyd wandte sich von seinem Teleskop ab. Durch das hohe Gras stapfte er zu Christopher und den Frauen hinüber. »Einen Millionär«, kicherte Sue, »ja, einen Millionär! Am besten Jeremy Saxon!« Sie box­ te dem Mann neben sich ein paar Mal gegen die Schulter. »Schnell! Mach schnell, Marc, sonst gilt es nicht mehr!« »Schweißfüße!« In der Linken eine Zigarette, in der Rechten eine Flasche, breitete der kahl­ köpfige Schotte beide Arme aus und schrie es in den dunklen Wald hinunter: »Ich will end­ lich meine Schweißfüße loswerden!« Floyd trat neben ihn und nahm ihm die Fla­ sche aus der Hand. »Frommer Wunsch«, sagte er trocken. Er setzte die Sektflasche an und nahm einen tie­ fen Schluck. Am Horizont erloschen die Meteo­ riten. Christopher stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. »Wünsch dir auch was, los!« »Unsterblichkeit.« »Zu spät!«, krähte Vivian. »Zu spät!« »Der Wunsch geht nur in Erfüllung, solange man die Sternschnuppe sieht.« Sue hob die Schultern und mimte Bedauern.

»Schade«, brummte Floyd mit Grabesstimme. »War wirklich eine einmalige Chance …« Er leerte die Flasche. Christopher grinste. »Wird schon noch.« Er klopfte dem Kleineren auf die Schulter. »Was macht unser beringter Freund?« Arm in Arm mit der blonden Vivian Reynolds schlenderte er zum Teleskop. Sue tanzte hinterher. »Wow – ich werd einen Millionär heiraten!« Sie klatschte in die Hän­ de. Aufgekratzt waren sie, außer dem stoischen Floyd – Marc Christopher fast noch mehr als die Frauen. Die Bergtour auf den Zweitausen­ der, der Regenwald, der Sekt, das Picknick un­ ter dem Sternenhimmel. Und natürlich hatte sich Marc Christopher mal wieder verliebt. Schon vor zwei Tagen, als sie die beiden Ame­ rikanerinnen am Strand von Harbour View kennenlernten, hatte Floyd gemerkt, wie es zwischen seinem Freund und der quirligen Vi­ vian knisterte. Er kannte Christopher seit dem ersten Physiksemester in Cambridge, seit fast zwanzig Jahren also. Der gnadenlose Amor zielte öfter mal nach Marc Christophers leicht entflammbarem Herz. Ein bisschen zu oft nach Floyds Geschmack. Er kniete sich auf die Pick­

nickdecke vor dem Zelt und zog die nächste Sektflasche aus der Kühlbox. »Im Osten, hoch über den Fischen, kannst du jetzt dein Sternbild bewundern.« Christopher trat zur Seite und ließ Vivian ans Okular. »Ach­ te auf die fünf eng beieinander stehenden Ster­ ne, die fast ein Trapez bilden …« »Ich sehe sie«, jubelte Vivian. »Das ist der Wassermann? So klein?« »Nein. Er ist nur nicht mehr ganz zu sehen. Wenn du von dem linken oberen Eckstern des Trapezes aus noch weiter hinaufgehst, siehst du drei weitere Sterne, die zu ihm gehören – das Wasser, das von Aquarius weg fließt …« Floyd schmunzelte in sich hinein, während er den Flaschenhals entdrahtete. Sein alter Freund dozierte mal wieder. Das tat er mit Vorliebe. Christopher wäre gern Hochschul­ professor geworden. »… und wenn du dir nun von dem Trapez aus eine leicht gebogene Linie nach Westen denkst, kommst du über das Sternbild des Schützen zum Skorpion. Mein Sternbild. Siehst du den hellen Stern? Das ist Antares; an ihm hängt der Schwanz des Skorpions …« »Da ist er!«, unterbrach ihn Vivian. »Ich kann seine Ringe sehen!«

Der Korken knallte aus der Flasche, flog in die Dunkelheit hinter dem Zelt und schlug dort irgendwo raschelnd im Gebüsch ein. »Schon?« Floyd schnitt eine skeptische Miene und hielt seine Armbanduhr in den Schein der Petroleumleuchte. »Kurz nach acht. Tatsächlich.« Gegen halb sieben war nach ei­ nem zwölfstündigen Tag in Jamaica die Sonne untergegangen. Kurz nach acht sollte der Ring­ planet aufgehen und bis nach halb neun zu be­ obachten sein. Floyd stand auf und ging zu den anderen. »Dann habe ich die Flasche ja keinen Augen­ blick zu früh aufgemacht.« Vivian ließ ihn ans Teleskop. Da stand er im Sternbild der Jungfrau, ganz in der Nähe von Spica: Saturn in seiner ganzen Schönheit. Um einmal im Leben die Ringe des Planeten zu betrachten, hatten die beiden Schauspielerinnen ihre zweitägige Drehpause genutzt und sich ihnen angeschlossen. »Ich will ihn auch sehen!«, flötete Sue. »Lass mich auch mal! Lass mich ans Fernrohr!« Sie drängte Floyd vom Teleskop weg und spähte durchs Okular. »Wow!«, krähte sie mit ihrer hohen Piepsstim­ me. »Zum ersten Mal sehe ich die Ringe des Saturn!«

Floyd grinste müde. Er fand die Gesellschaft des ständig kichernden Mädchens mit den schwarzen Afrolocken nicht besonders ent­ spannend. Die beiden Frauen waren ganz aus dem Häuschen. Alle paar Sekunden wechsel­ ten sie sich am Okular ab, und jede erzählte der anderen, was die doch kurz zuvor mit eige­ nen Augen selbst gesehen hatte. Christopher nahm Floyd die Flasche ab. »Auf unsere beiden Entdeckerinnen!« Er grinste und zwinkerte dem Freund zu. Dann trank er und reichte Floyd die Flasche. »Auf die letzte Stunde deiner Schweißfüße«, sagte Floyd trocken. Geduldig warteten sie, bis die beiden Frauen ihre Neugier gestillt haben würden. Das dauerte. Natürlich hatten die beiden Schotten den Ringplaneten schon unzählige Male beobach­ tet. Abgesehen von der großen Magellanschen Wolke, dem Andromedanebel und dem Kugels­ ternhaufen M 13 vielleicht noch, gab es für Floyd kaum ein schöneres Himmelsobjekt als den Saturn. Nie würde er den Tag vergessen, an dem er als Dreizehnjähriger in der Abend­ dämmerung eines Augusttages im schottischen Hochland einen Schäfer traf, der gerade sein Drei-Zoll-Teleskop aufbaute.

Floyd war mit seinem Vater unterwegs gewe­ sen damals, vor ziemlich genau fünfundzwan­ zig Jahren. Der Schäfer gestattete ihnen, ihr Zelt auf der Weide aufzuschlagen, und als es dunkel wurde und das Sternengeglitzer über ihnen zunahm, teilte Floyds Vater seinen Whisky mit dem Eremiten. Und der Mann be­ gann von dem zu sprechen, was er neben sei­ nen Schafen und seiner Einsamkeit wohl am meisten schätzte und ebenso gut kannte wie diese: von den Sternen. Er wusste über jedes Sternbild Bescheid, kannte jeden Planetenmond, nannte unzählige Fixsterne beim Namen. Er sprach von Astrono­ mischen Einheiten, von Helligkeitswerten, von Ekliptik, von Spektralbereichen und Galaxien­ typen wie andere von Biersorten oder ihren Krankheiten. Nie würde Archer Floyd die verblüffte Miene seines Vaters – Mathematik- und Physiklehrer wie er selbst heute – vergessen, während er dem einfachen Mann zuhörte. In dieser Nacht hatte Floyd nicht nur seinen ersten Whisky ge­ trunken, sondern auch zum ersten Mal den Planeten gesehen, von dem er bis zu diesem Zeitpunkt nur in Büchern gelesen hatte, den Saturn. Nicht ganz ein Jahr später, zu seinem

vierzehnten Geburtstag, schenkte sein Vater ihm ein Teleskop. Als er dann in Cambridge dem zwei Jahre äl­ teren Marc Christopher begegnete, waren es keineswegs die gemeinsamen Studienfächer – Mathematik und Physik – die sie verbanden. Es war die Leidenschaft für die Astronomie. Keine schlechte Basis für eine inzwischen fast zwanzig Jahre währende Freundschaft. Selbstverständlich gab es noch ein paar ande­ re Dinge, die sie verbanden. Anders als Floyd, der kopflastige Stoiker, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte, war Christopher ein schnell zu begeisternder Romantiker gewe­ sen. Er glaubte an von intelligenten Wesen be­ völkerte Planeten da draußen in den Tiefen des Kosmos. Als Junge träumte er davon, dass ei­ nes schönen Tages Vertreter solcher Intelli­ genzen in seinem Vorgarten landen würden, um ihn zu einem Trip durch das Weltall einzu­ laden. Weg von dieser langweiligen Welt. Die Zeit bis zur Erfüllung dieses Kindheits­ traums vertrieb er sich mit Pferdewetten, der Gesundheit abträglichen Sauftouren und hefti­ gen Romanzen. Durchschnittlich einmal im Monat verliebte er sich in eine andere Kommi­ litonin. Mit fast allen denkbaren Folgen. Ohne Floyd hätte er seine Examina vermutlich nie

auf die Reihe bekommen. Gewissermaßen im Gegenzug unterstützte er seinen Freund bei der Entdeckung, dass die Welt neben Zahlen und Naturgesetzen noch ein paar andere Ge­ wissheiten zu bieten hatte. Dinge wie Sue Bertrams Hintern etwa. Den streckte sie ihm entgegen und schwenkte ihn hin und her, während sie sich an seinem neu­ em Meade-Teleskop festhielt und ihrer Freun­ din mit atemloser Stimme den Anblick des Sa­ turns schilderte. Ein kleiner straffer Hintern, wie ein umgedrehtes Herz. Ein göttlicher Hin­ tern. »Er hat einen Pickel«, sagte seine Besitze­ rin. »Du spinnst ja!« Vivian drängte die andere vom Teleskop weg und drückte ihr Auge ans Okular. »Tatsächlich – eine Ausbeulung. Sieht aus wie ein Nebel … Vielleicht ein Vul­ kanausbruch?« »Gibts nicht.« Marc Christopher zog Vivian vom Teleskop weg. »Nicht auf dem Saturn. Lass mich mal.« Er drückte einen Knopf auf der linken Schaltkon­ sole des Zwölf-Zoll-Teleskops. Langsam schob sich das Gerät nach oben, bis das Okular sich auf Christophers Augenhöhe befand. Er spähte hindurch.

Merkwürdig still wurde es. Nur von unten, aus dem Bergwald, hörte man einen Vogel ru­ fen. Und der Nachführungsmotor des Tele­ skops summte leise vor sich hin. »Das gehört nicht zum Saturn«, brach Christopher das Schweigen. »Der Reflex eines hellen Sterns, den er verdeckt, schätze ich.« Er wandte sich zu Floyd um. »Oder ein Sternennebel – schau’s dir mal an, Archie.« Archer Floyd senkte das Stativ ab und stellte sich an seinen neuen Starfinder LXD 900. Es war, als würde er einen anderen Raum betre­ ten. Einen Raum, in dem ihn Stille, Leichtig­ keit und millionenfaches Sternengefunkel empfingen. Ein Raum, der ihm vertrauter – und vertrauenswürdiger – war als die Welt, in der er lebte. Ein Raum, aus dem ihn die Bedeu­ tungslosigkeit menschlicher Existenz anwehte. Im Zentrum dieses Raumes hing der Ringpla­ net zum Greifen nah und doch unerreichbar in seinem kalten unwirklichen Licht, mit seinen über jeden Zweifel erhabenen Konturen und seinen tausendfachen Ringen, von denen nur die beiden größten Massefelder sichtbar wa­ ren: Saturn. Ein warmer Schauer perlte über Floyds Nacken und Schultern, breitete sich in seiner Brust aus und sank hinunter bis in seine

Eingeweide. Einer der seltenen Augenblicke, in denen er so etwas wie Freude erlebte. Was Sue als »Pickel« und Vivian als »Ausbeu­ lung« bezeichnet hatten, war ein verwasche­ ner, annähernd halbkugelförmiger Schimmer auf der rechten Seite Saturns, ein Stück ober­ halb des Äquators, nicht einmal einen Finger breit. Die Basis dieses undeutlichen Schim­ mers verschwamm mit der viel helleren Plane­ tenscheibe, sein Außenbereich aber hob sich relativ gut sichtbar von dem schwarzen Welt­ raumausschnitt zwischen den Planeten und seinen breiten Ringflächen ab. Floyds routi­ niertes Astronomenauge sah sofort, dass der Lichtschimmer von einem anderen Himmels­ objekt stammen musste. »Ein heller Fixstern?«, murmelte er, ohne das Auge vom Okular zu nehmen. »Ein Komet? Oder ein ga­ laktischer Nebel? Frag den MAGELLAN, ob ir­ gendetwas in der Art die Saturnbahn heute Nacht kreuzen soll.« Marc Christopher trat neben Floyd ans Tele­ skop, knipste die kleine LED-Leuchte neben ei­ nem schwarzen Kästchen auf dem Teleskop­ rohr an und tippte ein paar Zahlen in dessen Tastatur ein. Das kleine an der Außenhülle befestigte Käst­ chen war ein Astro-Computer, ein MAGELLAN

V. Über ein Spiralkabel stand er in Verbindung mit der Elektronik des Teleskops. Christopher beobachtete die Kolonnen aus Zahlen, Buchstaben und Namen, die langsam durch das Leuchtdisplay des Astro-Computers glitten – Chiffren für Fixsterne, Galaxien und Sternbilder. »Nichts«, sagte er dann, »kein heller Stern, keine Galaxie und kein aktueller Komet.« »Auch nicht Wirtanen?« Der 1948 entdeckte Komet Wirtanen würde in der kommenden Woche nach knapp sechs Jahren wieder ein­ mal seinen sonnennächsten Punkt erreichen. »Ist erst in acht oder neun Stunden im nördli­ chen Sternenhimmel zu beobachten«, sagte Christopher. »Aber nicht in diesen Breitengra­ den.« »Ist es nun ein Vulkanausbruch oder nicht?« Vivian lehnte sich gegen den kahlköpfigen Schotten und umfasste seine Hüfte. »So was gibts auf der Venus, auf dem Merkur, auf der Erde und auf einigen Monden – aber nicht auf dem Saturn …« Christopher setzte zu einem weiteren Vortrag an. Derweil beobachtete Floyd etwa eine Viertel­ stunde lang den verwaschenen Lichtfleck zwi­ schen Saturn und seiner inneren Ringscheibe, schweigend und ohne nennenswerte Bewe­

gung. Dann erst löste sich sein Gesicht vom Okular. Er nahm Sue die nur noch halbvolle Sektflasche ab. »Sieh durch, Marc«, wandte er sich an den Kahlkopf in Vivians Arm, »und sag mir, ob du siehst, was ich sehe.« Seine Stimme klang hei­ ser; er setzte die Flasche an die Lippen. Christopher nahm seinen Platz vor dem Tele­ skop ein. »Unglaublich!«, rief er augenblick­ lich. »Das Ding hat sich bewegt!« Christopher umfasste das Teleskoprohr mit beiden Händen und presste sein Auge regelrecht gegen das Okular. »Es war viel kleiner vorhin! Ich schwörs euch – es hat sich bewegt!« »Du meinst …«, Floyd setzte eine skeptische Miene auf, »doch ein Komet?« Im Minutentakt wechselten sie sich vor dem Teleskop ab. Auch die Amerikanerinnen wur­ den von ihrem Jagdfieber angesteckt. Der ver­ schwommene Lichtfleck löste sich von der Au­ ßenkante der Saturnscheibe und stand nun im Raum zwischen Planetenkugel und Innenring. »Die Koma!« Christopher war vollkommen aus dem Häuschen. »Sogar Konturen des Schwei­ fes kann man erkennen! Siehs dir an, siehs dir an!« Floyd wurde immer schweigsamer. Wie in Trance schaltete er die integrierte Astro-Kame­

ra seines Starfinder ein. Die Elektronik des Te­ leskops lichtete das Hunderte von Millionen Kilometer entfernte kosmische Ereignis ab. Gegen halb neun verschmolz der Lichtfleck mit der Innenscheibe des Saturns. »Ein neuer Komet!« Marc Christopher packte Floyds roten Lockenkopf küsste das stoppel­ bärtige Gesicht seines Freundes. »Wir haben einen neuen Kometen entdeckt!« »Ich glaubs nicht«, flüsterte Floyd. »Dann lass es bleiben! Wir müssen die IAU benachrichtigen!« Christopher lief zum Zelt. Die beiden Frauen schienen für ihn nicht mehr zu existieren. Nicht einmal die blonde Vivian. »Wir kommen zu spät.« Archer Floyd blickte durch das Teleskop. Saturn und das Sternbild der Jungfrau neig­ ten sich gegen den westlichen Horizont. Keine Spur mehr von dem seltsamen Lichtfleck. »Ich komm doch immer zu spät.« »Blödsinn!«, schrie Christopher aus dem In­ neren des Zeltes. »Du wirst unsterblich, Junge! Unsterblich wirst du!« Die International Astronomical Union – IAU – hatte ihren Sitz in Cambridge. Nicht Cam­ bridge, Großbritannien, sondern Cambridge, Massachusetts, USA. Ihr Central Bureau for

Astronomical Telegramsam Smithsonian war die offizielle Registrierungsstelle für neu ent­ deckte Himmelskörper. Christopher schob sich aus dem Zelt, in der Hand sein Mobiltelefon. Er warf sich auf die Picknickdecke und hielt das Gerät in den Schein der Petroleumlampe. »Die Werte, du verdammter Pessimist! Los, die Werte!« Hek­ tisch stach er auf die Tastatur seines Telefons ein und wählte seinen Laptop im Hotelzimmer in Harbour View an. »Wir haben einen neuen Kometen entdeckt, wir dämlichen Glückspilze, wir …« Mit monotoner Stimme, als würde er der Poli­ zei, die ihn bei einer Geschwindigkeitsübertre­ tung erwischt hatte, Name und Adresse geste­ hen, spulte Floyd die Werte herunter: Datum, Uhrzeit, Entdeckungsort, astronomische Koor­ dinaten, Bewegungsrichtung des Himmelskör­ pers, geschätzte Helligkeit und so weiter – al­ les eben, was eine Standardmeldung an das Central Bureau for Astronomical Telegrams enthalten musste. »Raus mit dir! Raus!« Christopher schickte die eMail ab. Danach knallte er das Handy ne­ ben die Lampe auf die Decke und sprang auf. Nacheinander umarmte er Vivian, Sue und Floyd. »Wir haben einen neuen Kometen ent­

deckt!«, rief er dabei ständig. »Ab sofort sind unsere Namen unsterblich.« »Ich glaubs erst, wenn wir morgen einen An­ ruf aus Cambridge bekommen«, murmelte Floyd. Kopenhagen – Malmö, 26. August 2011 Zuerst fiel ihm nur der Wagen auf. Ein Volvo C 70 Coupe von mattem Metallicrot. Er hielt auf der anderen Seite der Zapfsäule, an der Matthew Drax seinen schwarzen Chrysler be­ tankte. Dann stieg die Frau aus. Matt konnte sie zunächst nicht sehen, weil die Zapfsäule die Fahrertür ihres Volvos verdeck­ te. Aber er sah die Köpfe der vier oder fünf Männer herumfliegen, die vor geöffneten Tankklappen an den Hecks ihrer Limousinen standen und die Zapfhähne festhielten. Eine Wagentür fiel zu, ein langbeiniges blon­ des Wesen erschien zwischen den Zapfsäulen – braungebranntes, sommersprossiges Gesicht, die Augenpartie von einer Sonnenbrille ver­ deckt, schulterfreies weißes Kleid, eng ge­ schnitten und kurz. Ein dicker blonder Zopf pendelte zwischen ihren Schulterblättern hin und her, während sie mit routiniertem Hüft­ schwung den Tankstelleneingang ansteuerte.

Es war nicht das Spiel ihrer Schulterblätter, das Matt faszinierte, nicht einmal der Tanz ih­ rer Gesäßmuskeln unter dem straffen weißen Stoff. Es war die Selbstverständlichkeit, mit der sie den Schönling ignorierte, der ihr die Tür zur Tankstelle weit aufhielt. Wie eine Kö­ nigin, dachte Matt. Ein Klicken – die Arretierung des Zapfhahns löste sich, das Gesumme aus der Zapfsäule ver­ stummte. Matt sah eine andere Frau, während er den Zapfhahn einhängte und den Tankde­ ckel aufschraubte. Keine der Frauen, die hier an der letzten dänischen Tankstelle vor dem Öresund aus einem Fahrzeug stiegen oder den Tankstellenshop verließen. Eine Frau vor sei­ nem inneren Auge. Fast stündlich tauchte sie dort auf, seit Wochen. Eine zierliche Frau mit kurzen schwarzen Haaren, einem auffallend großen Mund und braunen Rehaugen. Liz. Sei­ ne Frau. Seit Wochen spielte sie die Hauptrolle in zahl­ losen Szenen, die ihm durch den Kopf zogen wie ein Film. Ein sich ständig wiederholender Film. Szenen aus ihrer fast zwölfjährigen Ehe … Keineswegs nur schöne Szenen. Vergeblich versuchte Matthew Drax diese Szenen zu lö­ schen.

Ein heranrollender Toyota hupte und musste bremsen, als Matt die Tankbucht durchquerte. Der große blonde Mann schreckte aus seinen Gedanken hoch; Liz’ Bild verschwand von sei­ nem inneren Auge. Der Mann hinter dem Steu­ er des Toyota zog ein vorwurfsvolles Gesicht. Wie ein Blinder war Matt ihm vor den Kühler­ grill getappt. »Sorry«, murmelte er und hob die Rechte zu einer Geste der Entschuldigung. Ähnliches passierte ihm des öfteren in letzter Zeit: er verlegte Schlüssel oder Brieftasche, stand vor dem Küchenschrank und wusste nicht mehr, was er herausholen wollte, sah rote Ampeln erst im letzten Moment. Die Bil­ der in seinem Kopf zapften seine Kraftreser­ ven an, schoben sich zwischen ihn und die Wirklichkeit, lenkten seinen Blick von der Ge­ genwart weg in die Vergangenheit. Ein einziger großer Schmerz waren sie, die Bilder von Liz in seinem Kopf. Nur in der Luft konnte er vergessen. Sobald er in der Maschine saß und die Cockpit-Kuppel sich auf ihn herabsenkte, war sein Kopf frei. Aber kein Luftwaffenoffizier konnte den gan­ zen Tag fliegen. Sie stand vor dem Zeitschriftenregal und blät­ terte in einem Magazin, als Matt den Tankshop betrat. Die Sonnenbrille hatte sie sich nach

oben über die Stirn ins Haar geschoben. Er sah ihr Profil. Ein großer Mund mit vollen Lippen – wie Liz, dachte Matt – eine leicht vorgewölb­ te Stirn und eine kleine Stupsnase. Liz’ Nase ist gerader, dachte Matt, und größer ist sie auch. Vielleicht ist es die scharfgeschnittene Nase, die ihr Gesicht manchmal so streng er­ scheinen lässt … Er zog eine New York Times aus dem Regal, angelte sich zwei Dosen Tuborg aus dem Getränkeschrank und stellte sich ans Ende der Warteschlange vor der rechten Kas­ se. Aus dem pyramidenartigen Aufbau des Süßig­ keitenregals ragte eine Spiegelsäule. Ein kanti­ ges Männergesicht blickte Matt entgegen – rechteckig, schmale blaugrüne Augen, ausge­ prägte Wangenknochen, energischer, schmal­ lippiger Mund. Sein eigenes Gesicht. Zwei Urlaubswochen hatten es bräunen, aber nicht den bitteren Zug um Mund und Augen vertreiben können. Er zog die Brieftasche aus der Lederweste und kramte eine Kreditkarte heraus. Natürlich hatten sie auf dem Luftwaffenstütz­ punkt schnell gemerkt, was mit ihm los war. Jedenfalls die, die ihn gut genug kannten. Hank Williams zum Beispiel, einer der Naviga­ toren seines Geschwaders. Jenny Jensen wuss­

te sogar, dass es seit langem in seiner Ehe kri­ selte. Die kleine Kanadierin im Rang eines Lieutenants hatte einen scharfen Blick für alles Menschliche. Der Captain seiner Staffel war es schließlich gewesen, der sich ein Herz fasste und ihn an­ sprach: Irvin Chester, ein hünenhafter Afro­ amerikaner, den alle nur »Big Boy« riefen. »Wo drückt der Schuh, Commander?«, hatte er Matt eines Tages in den Umkleideräumen gefragt. »Will ja nicht indiskret sein, aber wir vermissen dich im Zwiebelfisch, und dein La­ chen vermissen wir auch.« Zwiebelfisch – so hieß ihre Stammkneipe in Berlin-Köpenick. »Liz denkt daran, sich scheiden zu lassen.« Matt neigte noch nie dazu, viele Worte zu ma­ chen. »Shit …!« Big Boy zog eine betretene Miene. »Jenny erzählte so was – tut verdammt weh, was?« »Davon geht die Welt nicht unter.« Genau das hatte Matt seinem Kameraden geantwortet. Hin und wieder hörte er seine eigene Stimme im Traum diesen Satz wiederholen: Davon geht die Welt nicht unter … »Manchmal schon …«, sagte Big Boy. Drei Tage später fand er Post von Liz im Briefkasten, zwölf eng beschriebene Seiten,

aber Matts Augen mussten immer zu dem einen kleinen Satz zurückkehren: Ich will die Scheidung. Und noch einmal drei Tage später hatte der Geschwaderkommandant ihn in sein Büro bestellt und ihm vier Wochen Urlaub ver­ ordnet. »Fliegen Sie nach Kalifornien und bla­ sen Sie Ihrer Frau den Marsch, Drax. Und in vier Wochen will ich die Falte zwischen Ihren Brauen nicht mehr sehen.« Major Bellmann gehörte zu den Leuten, die eine Gebrauchsan­ weisung kannten, nach der man sein Leben managen konnte … Matthew Drax zahlte, klemmte Zeitung und Bierdosen unter den Arm und wandte sich zum Gehen. An der anderen Kasse stand die Frau. Ihre Blicke begegneten sich kurz. Sie hatte hellblaue Augen, und Matt sah, dass sie schön war. Doch ihre Schönheit berührte ihn kaum. Nicht einmal als sie ihn anlächelte, regte sich etwas in seinem Bauch. Zurück am Wagen warf er Zeitung und Dosen auf den Beifahrersitz. Dorthin, wo eigentlich Liz sitzen sollte. Seit Jahresbeginn hatten sie den gemeinsamen Europatrip geplant. Für den Herbst. Ein letzter Versuch, ihre Ehe zu retten. Matt hatte den Chrysler PT Cruiser im Früh­ jahr angeschafft, extra für die geplante Reise. Einen Diesel, Baujahr 2002. Von vorn sah er

mit seiner stumpfen Schnauze und seinem nostalgischen Kühlergrill wie ein Auto aus den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts aus. Von hinten mit seiner steilen Heckklappe wie ein Van. Nun steuerte Matt den Wagen al­ lein durch die nordeuropäischen Metropolen. Nicht direkt ziellos, aber doch wie jemand, der auf der Flucht war. Oder jemand, der etwas suchte, das zu finden er längst nicht mehr hoff­ te. Den Flug nach Kalifornien hatte er storniert. Liz war untergetaucht. »Fotosafari irgendwo in Mittelamerika«, hatte ihre Mutter ihn wissen lassen. Liz arbeitete für das California Muse­ um of Photography. Wo genau sie sich auf­ hielt, wollte ihre Mutter um keinen Preis ver­ raten. Als er den Gurt ins Schloss drückte, streifte Matts Blick die Titelseite der New York Times. Schlagzeilen sprangen ihm ins Auge – »Rote Armee fliegt neue Luftangriffe gegen usbeki­ sche Rebellen«, »Koalitionskrise in Israel«, »Schottische Hobbyastronomen entdecken bislang unbekannten Kometen« … Nichts da­ von blieb in Matts Hirn haften. Später, auf der Autobahn zwischen Stadtrand und Flughafen, blendete ein Wagen hinter ihm auf. Im Rückspiegel erblickte er das metalli­

crote Volvo-Coupe. Der Wagen zog an ihm vor­ bei und hupte. Für Augenblicke sah Matt den Blondschopf und das Stupsnasenprofil der Frau. Höflichkeitshalber blendete Matt eben­ falls auf. Kurz darauf erreichte er die Tunneleinfahrt der Sundpassage. Fünfunddreißig Euro zahlte man seit Neues­ tem für die Benutzung von Öresund-Tunnel und – Brücke. Durch das offene Wagenfenster schob er die Karte, die er am Vortag in Kopen­ hagen gekauft hatte, in den Automaten. Die Schranke öffnete sich und Matt fuhr in die Tunnelröhre hinein. Beklemmung überfiel ihn auf dem Gefälle zur Tunnelsohle – die Enge, das künstliche Licht – er wünschte sich, die vier Kilometer lägen schon hinter ihm. Anders als sonst bei Tunneldurchquerungen und ob­ wohl er ganz andere Belastungen gewöhnt war. Wie ein Abbild des eigenen Lebens wollte ihm die Fahrt durch den Tunnel erscheinen. Hoff­ nungslosigkeit legte sich bleiern auf sein Ge­ müt. Alles erinnert mich an dich, Liz, dachte er. Die Welt ist voller Zeichen, und sie sagen: »Du hast keine Chance mehr« … Die trübe Stimmung fiel auch dann nicht von ihm ab, als er den Tunnel auf der schwedi­ schen Seite verließ und das Licht der Vormit­

tagssonne gegen die Windschutzscheibe prall­ te. Weitere vier Kilometer lang führte die Au­ tobahn über eine künstliche Insel. Danach ging es über eine Steigung hinauf auf die Öresund-Brücke. Fast acht Kilometer weit fuhr Matt zwischen Stahlbetonträgern hindurch und an Stahlsei­ len vorbei über den Öresund. Blauer Sommer­ himmel wölbte sich über der Meerenge, Fisch­ kutter, Frachter und Segelboote pflügten links und rechts der Brücke durch die See und das Sonnenlicht lag glitzernd auf den Wogen. Matt nahm es kaum wahr. Die Gedanken an seine Frau füllten sein Hirn. Dann Malmö, das Tor nach Südschweden. Auf dem Weg in die Innenstadt fuhr Matt durch den neuen Stadtteil »Scanstad«, den die Schweden in den letzten zehn Jahren aus dem Boden gestampft hatten. Die Euphorie über die damals noch als architektonisches Wunder­ werk geltende Brücke hatte dabei Pate gestan­ den. Gewaltige Gebäudekomplexe und Wol­ kenkratzer zogen an Matt vorbei, eine Skyline, die es mit der amerikanischer Großstädte auf­ nehmen konnte. Und dazwischen ein Heer von Baukränen. Wie Skelette von Dinosauriern ragten sie aus dem Steingebirge.

Die Stadtautobahn tangierte eine Großbau­ stelle. Hubschrauber kreisten über ihr. Unzäh­ lige Kräne ragten auf einer Fläche von gut zehn Fußballstadien in den Himmel. Der Verkehr kam ins Stocken; Matt ging vom Gas. Der Anblick des gigantischen Neubaukomple­ xes, der dort links der Autobahn entstand, wischte die trübsinnigen Bilder und Gedanken aus seinem Hirn. Der Neubau bestand aus sie­ ben ringförmigen Gebäuden, die wie konzen­ trische Kreise ineinander lagen. Einem Schutzwall gleich erhob sich das äuße­ re Ringgebäude über die inneren sechs, und zur Mitte des Kreises hin nahm die Höhe jedes Gebäudes ab, sodass der ganze Komplex den Eindruck einer antiken Arena machte. Glasund Rundbögen dominierten, auch bei dem Turm, der sich im Mittelpunkt des Kreises er­ hob. Kräne flankierten ihn. Er war schon gut achtzig Meter hoch und noch immer nicht fer­ tig, wie es aussah. Ein Messezentrum, mit dem die Schweden Wirtschaftskraft demonstrieren und in dem sie die Weltausstellung im Jahr 2013 ausrichten wollten. Das architektonische Konzept war eine moderne Mega-Variation des Hallenkomplexes der Pariser Weltausstellung vor hundertvierundvierzig Jahren. All das

wusste Matt aus seinem Skandinavien-Reise­ führer. Das Hotel, das er am Tag zuvor von Kopenha­ gen aus gebucht hatte, lag in der City von Mal­ mö, hinter dem Stortorget, dem zentralen Rat­ hausplatz in der Innenstadt. Ein bitteres Grinsen flog über die Miene des blonden Ame­ rikaners, als er über dem Eingang an der mit­ telalterlichen Fassade des Hauses den Hotel­ namen las: »Tunneln«. Passt zu deinem Gemütszustand, dachte er und betrat das alte Gebäude. Schon im Foyer hatte er den Eindruck, sich in ein Museum verirrt zu haben: schwere barocke Schränke, Kommoden und Sitzgruppen, fins­ terstes Eichenholz, an den Wänden Schwerter, Ritterrüstungen und Hellebarden zwischen fast lebensgroßen Portraits von Königen, Feld­ herren und Prinzessinnen … Der gleiche Eindruck dann oben im Zimmer selbst: gedrechselte Bettpfosten, Sessel- und Tischbeine, ein wuchtiger Eichenschrank, ein hoher Sekretär mit zigtausend Schubkästchen, zwei Portraits und einige Kupferstiche jahr­ hundertealter Stadtansichten auf der Stoffta­ pete. »Als hätte man sich in eine andere Zeit ver­ irrt.« Matt warf seine Ledertasche auf die dun­

kelblaue, gelb bestickte Tagesdecke des Bettes, knallte Bierdosen und Zeitung auf ein rundes Barocktischchen und ließ sich in den schweren Sessel fallen. »Das wärs doch: Ich bin in der Vergangenheit gelandet, siebzehntes Jahrhun­ dert, und die Gegenwart gilt nicht mehr.« Er legte die Beine auf das Tischchen und knackte die erste Bierdose. Während er trank, betrach­ tete er eines der beiden Portraits an der Wand auf der anderen Seite des Zimmers. Ein Ölge­ mälde mit dem Konterfei Gustav Adolfs, des Schwedenkönigs. »Sie müssen schon entschuldigen, Sir.« Matt­ hew Drax grinste das Aristokratengesicht im goldfarbenen Barockrahmen an. »Ich bin Jahr­ gang 1980, machs mir gern bequem und trinke das Bier aus Blechdosen. Hätten Sie eventuell einen Job für mich?« Er prostete dem Portrait zu und nahm einen tiefen Schluck. »Ich bin bei der Army, falls Ihnen das was sagt.« Matt sprach so laut, als würde ihm ein Gesprächs­ partner gegenüber sitzen. Der Gedanke, es könnte ihn jemand belauschen und für ver­ rückt halten, machte ihm nichts aus. »WestPoint-Absolvent 2004 – sagt Ihnen vermutlich auch nichts, ist aber eine Menge wert bei uns drüben in der Neuen Welt.«

»›Neue Welt‹ sagt Ihnen doch sicher was, Sir?« Wieder goss er sich einen Schluck Tu­ borg in die Kehle. Das Bier hätte kühler sein dürfen. »Ist auch nicht mehr die Jüngste in­ zwischen, die Neue Welt …« Das Gesicht im Barockrahmen schien ihn ver­ wundert zu mustern. »Flugzeuge gibts ja nicht bei Ihnen, wenn ich meinen Geschichtslehrer richtig verstanden habe. Aber Sie kommandieren eine stolze Flot­ te, wie man hört. Ich verstehe was von Naviga­ tion – glauben Sie’s mir. Könnte Ihnen eventu­ ell den einen oder anderen Trick zeigen. Wie wärs mit einem Kommando für mich? Kann ruhig ein Kriegsschiff sein. Strategie war mein Lieblingsfach auf der Militärakademie. Habe sogar Kampferfahrung. Wir hatten vor ein paar Jahren auch mal so eine Art Religions­ krieg. Ihr schlagt euch zurzeit doch mit den deutschen Katholiken herum, oder? Bei uns waren es radikale Moslems. Ist erst ein paar Jahre her … Also Sir, überlegen Sie es sich.« Matt nahm einen weiteren Schluck, wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe und rülpste ungeniert. »Sie haben Bedenken wegen des Alkohols, Sir?« Er streck­ te dem Portrait die Bierdose entgegen. »Halb so schlimm, Sir. Zugegeben, momentan trinke

ich öfter mal einen über den Durst. Hab Pro­ bleme mit einer Frau, aber davon geht ja die Welt nicht unter …« Er hob die Achseln und lä­ chelte wehmütig. »Ist ja sowieso vorbei, jetzt wo ich mich zu Ihnen ins Siebzehntejahrhun­ dert verlaufen habe. Die Frau ist nun gewissermaßen unerreichbar für mich …« Matt leerte die Dose. Sein Blick fiel auf das Bild neben dem Königsportrait: die Büste ei­ ner jungen Frau, ebenfalls in Öl. »Ist das Ihre Tochter, Sir? Nettes Mädchen, wirklich. Könn­ ten Sie uns gelegentlich miteinander bekannt machen?« Matt blickte in das blasse schmale Frauengesicht, während er die zweite Dose öff­ nete. Die Frau hatte große braune Augen, Rehau­ gen. Und plötzlich sahen Liz’ Augen auf ihn herab. »Verdammt …«, flüsterte er. Er legte den Kopf in den Nacken und kniff die Lider zusam­ men. Etwas stieg heiß und drückend aus sei­ nem Bauch durch den Brustkorb bis in seine Kehle hinauf. Viel weiter ließ Matt seine Trä­ nen selten gelangen. Als er Minuten später die Augen wieder öffne­ te, fiel sein Blick auf den Nachttisch neben dem Bett – ein Telefon stand darauf.

Matt stemmte sich aus dem Sessel hoch und schleppte sich zum Bett. Er ließ sich auf die Bettkante fallen, nahm den Hörer ab und tipp­ te eine New Yorker Nummer in die Tastatur, die Nummer von Burt Cassidy, seinem besten Freund. Sie waren zusammen in Riverside, Ka­ lifornien aufgewachsen. Burt war Beamter; er hatte einen gut bezahlten Job in der New Yor­ ker Stadtregierung. Lange tönte das Freizeichen, bis endlich je­ mand abnahm. »Matt hier. Wie gehts so, Burt?« Sekundenlanges Schweigen am anderen Ende. Dann: »Darüber wollte ich frühestens in zwei, drei Stunden nachdenken, nach dem Du­ schen, oder nach dem Frühstück.« Burts Stim­ me klang verschlafen. »Oh, Mist …« Matt blickte auf seine Armband­ uhr – halb elf. In New York City war es jetzt halb fünf Uhr morgens. »Sorry, Burt … habe ich glatt vergessen.« »Demnach geht es dir nicht besonders gut, schätze ich.« »Es geht mir verteufelt gut! Endlich allein Ur­ laub – besser könnt es mir gar nicht gehen …« »Hör auf, Matt!«, sagte Burt streng. »Okay, okay, es geht mir beschissen. Hast du inzwischen etwas von Liz gehört?«

»Sie war hier in Manhattan, auf der Durchrei­ se, hat eine Freundin besucht. Wir haben uns unten am Fast River Hafen im North Star Pub getroffen.« »Und?« Matts Gestalt straffte sich, als würde er einen Angriff erwarten, gegen den er sich wappnen musste. »Was sagt sie?« Seine Stim­ me klang plötzlich heiser. Deutlich konnte er Burts tiefe Atemzüge hö­ ren. »Ich bin dein Freund, Matt. Deswegen sag ich dir die Wahrheit: Sie will nie wieder zurück nach Europa. Sie will nicht länger mit einem Soldaten verheiratet sein, um keinen Preis der Welt. Vergiss sie, Matt, es ist vorbei …« Burt sprach weiter und erzählte noch ein paar Ein­ zelheiten, aber Matt hörte nicht mehr zu. Ir­ gendwann legte er auf. Er leerte sein Bier und streckte sich auf dem Bett aus. Stundenlang lag er so, starrte die Stuckdecke an und gab sich nutzlosen Grübeleien hin. Am späten Nachmittag zwang er sich aufzu­ stehen. Er fühlte sich müde und seine Knie und Knöchel schienen mit Blei gefüllt zu sein. Eine kalte Dusche vertrieb die schwarzen Lö­ cher aus seinem Schädel und weckte seine Le­ bensgeister, zumindest vorübergehend. Er versuchte die New York Times zu lesen, um auf andere Gedanken zu kommen.

Lustlos schweiften seine Augen über die Titel­ seite und blieben an einer Schlagzeile hängen, die ihm bekannt vorkam: »Schottische Hobby­ astronomen entdecken bislang unbekannten Kometen.« Ein Thema, das ihm ähnlich reali­ tätsfern erscheinen wollte wie das museums­ reife Inventar seines Hotelzimmers oder das Portrait des Schwedenkönigs an der Wand. Vielleicht überflog er den Artikel deswegen. Die beiden Schotten hatten den neuen Him­ melskörper von einem Berg in Jamaica aus entdeckt, rein zufällig. Sie wollten eigentlich den Saturn beobachten. Am Schluss des Arti­ kels hieß es: »Das Astrophysical Observatory am Smithsonian in Cambrigde, Mass befasst sich seit den Morgenstunden mit der Berech­ nung der Kometenbahn. Dem wissenschaftli­ chen Leiter des Observatoriums zufolge, Pro­ fessor Doktor Jacob Smythe, wird ›Christopher-Floyd‹, wie der Komet nach sei­ nen Entdeckern benannt wurde, in nicht ein­ mal fünfzehn Millionen Kilometern Entfer­ nung an der Erde vorbeiziehen. Über den genauen Zeitpunkt, an dem der Komet sein Perihel – seinen sonnennächsten Punkt – schneiden wird, wollte der Astrophysiker sich nicht äußern.«

»Dann ist ja für Unterhaltung gesorgt in den nächsten Monaten«, murmelte Matt. »Unter­ haltung aus dem All …« Er warf die Zeitung auf den Tisch und verließ das Hotel. Ohne Plan schlenderte er über den Stortor­ get, vorbei am Reiterdenkmal des Schweden­ königs, vorbei an dem alten historischen Rat­ haus. Ziellos lief er durch die Innenstadt – ziellos, wie er seit zwei Wochen durch Deutschland, die Beneluxstaaten, Dänemark und Norwegen gefahren war. Gegen Abend merkte er, dass er im Kreis lief – rot und prachtvoll ragte wieder die Fassade des Rat­ hauses vor ihm auf. Im Kreis laufen – auch das schien ihm bezeichnend für seinen Zustand zu sein. Er erreichte einen großen Platz, der an den Rathausplatz angrenzte. Die Abenddäm­ merung sog bereits das Licht aus dem Himmel. Matt sah sich um – Cafes, Restaurants, Bars. Ein Lokal reihte sich ans nächste. Das Bermu­ dadreieck der Stadt. »Dich hab ich gesucht«, knurrte Matt. Er landete in einer Jazzkneipe. Es war nicht so, dass Matthew auf Jazz stand – er bevorzug­ te eher den Rock der Neunziger und den schwarzen Reggae Hip-Hop aus der gleichen Zeit. Doch manchmal genoss er es, sich von heiseren Saxofon- und träge dahinplätschern­

den Pianoklängen einlullen zu lassen. Vor al­ lem dann, wenn die Gedanken in seinem Schä­ del Karussell fuhren. Nicht viele Gäste saßen in dem schlaucharti­ gen Lokal. Die meisten scharten sich um zwei Billardtische. Ein Ventilator kreiste unter der Decke. Ein Hauch der Sechziger des vergange­ nen Jahrhunderts lag über dem Raum: Stahl­ rohrtische und -stühle mit pastellfarbenem De­ kor, neben dem Garderobenständer eine Musikbox aus Elivs-Zeiten, an der Wand über der Theke Kühlergrill, Scheinwerfer und der vordere Teil eines roten Volvo, Baujahr 1966. Auch Theke und Barhocker bestanden aus Stahlrohr und Plastik. Matt rutschte auf einen Hocker an der Schmalseite der nur dünn be­ völkerten Theke und bestellte ein Bier. Anderthalb Stunden etwa vergingen – das Ka­ russell in Matts Kopf hatte dem Klacken der Billardkugeln und den Saxofonklängen Platz gemacht. Er hörte nicht, wie die Frau die Knei­ pe betrat. Sie setzte sich auf den Barhocker ne­ ben ihm: braungebranntes, sommersprossiges Gesicht, Stupsnase, blonder Zopf, weißes är­ melloses Kleid … Matt wusste nicht, was er sagen, wie er rea­ gieren sollte. Aber sie wusste es. »Schwarzer Chrysler, PT Cruiser«, sagte sie, ohne ihn an­

zuschauen. »Berliner Kennzeichen, blaugrüne Augen, zwei Dosen Tuborg, die New York Ti­ mes, wahrscheinlich Amerikaner.« Sie zog eine Schachtel Nil aus ihrem schwarzen Leder­ bag und bot ihm eine Zigarette an. Zum zwei­ ten Mal an diesem Tag trafen sich ihre Blicke. »Sie haben ein gutes Gedächtnis.« Matt nahm eine Zigarette und ließ sich von ihr Feuer ge­ ben. »Ein sehr gutes sogar.« Ihre blauen Augen schienen jeden Quadratzentimeter seines Ge­ sichts zu studieren. »Darauf bin ich mächtig stolz. Als Journalistin brauche ich ein gutes Gedächtnis.« Sie sprach tadelloses Englisch. »Und was machen Sie hier?« »Ich versuche mein gutes Gedächtnis loszu­ werden.« Matt grinste müde. Sie lächelte ihn an. Etwas Rätselhaftes lag in diesem Lächeln. »Beryl«, sagte sie. »Beryl Nordström.« »Matthew Drax – nennen Sie mich Matt.« Matt wusste plötzlich, wie der Abend verlaufen und wie er enden würde. Und er behielt Recht. Sie plauderten, tranken Bier, irgendwann be­ rührten sich wie zufällig ihre Knie und kurz darauf ihre Hände. Gegen Mitternacht dann, in einer Diskothek, berührten sich ihre Körper. Sie tanzten.

Beryl nahm ihn mit in ihr Hotelzimmer. Matt erinnerte sich später kaum, ob es gut gewesen war. Er erinnerte sich dafür sehr deutlich an das, was er dachte, während sie auf ihm lag und ihr nackter Körper in seinen Armen tanz­ te. Er dachte an Liz … Cambridge, Massachusetts, 27. August 2011 Der achteckige Raum wirkte wie die Kom­ mandozentrale eines jener Raumschiffe, wie man sie aus Science-Fiction-Filmen kannte. Mannshohe und nach oben hin leicht abge­ schrägte anthrazitfarbene Kunststoffkonsolen umgaben ihn. In ihnen flimmerten Monitore, leuchteten Kontrolllämpchen, huschten Zah­ lenkolonnen oder Diagramme über schmale Displays. Auf den Tischflächen davor ruhten Tastaturen, Drucker, Telefone und kleine Tischlampen. Zusammen mit der Leinwand an der Stirnsei­ te des Raumes sorgten sie für spärliches Licht. Sieben der vierzehn Sessel vor den Konsolen waren in dieser Nacht besetzt. Vier Männer und drei Frauen bestritten den Nachtdienst am Smithsoman Astrophysical Observatory in Cambridge, Massachusetts. Seit zwei Tagen, seit der neue Komet auf der Bildfläche erschie­ nen war, arbeitete man hier rund um die Uhr.

Ein achter Mann stand mitten im Raum – nicht besonders groß, auffällig hager, fast dürr und mit einem blonden Haarzopf. Ein Mann, der sich ununterbrochen bewegte. Ein wenig erinnerte er darin an einen Eis­ kunstläufer, der seine Pirouetten und Sprünge auf dem Trockenen übt, bevor er sich aufs Eis wagt. Oder wie ein Pelzjäger aus der Frühzeit des Wilden Westens, der sich im undurch­ dringlichen Wald der Rocky Mountains von feindlichen Indianern umgeben sieht und nach allen Seiten sichern zu müssen glaubt. Ständig wirbelte der Mann um seine eigene Achse, wo­ bei sein Haarzopf von Schulter zu Schulter flog und sein weites Hemd um seinen sehnigen Körper flatterte. Ständig ruderte er mit den Armen, ständig sprang er hin und her und stieß halbe Sätze oder gar nur einzelne Worte aus, und zwar mit hoher, für einen außenste­ henden Beobachter leicht hysterisch klingen­ der Stimme. Seine Mitarbeiter hatten gelernt, die unvoll­ ständigen Sätze oder herausgebellten Worte als Fragen, Anweisungen oder zufällig laut ge­ äußerte Gedankenfetzen zu deuten. Das muss­ ten sie lernen. Keinem, der am Astrophysical Observatory Karriere machen wollte, blieb et­ was anderes übrig, als sich ganz und gar auf

die Absonderlichkeiten von Professor Dr. Ja­ cob Smythe einzustellen. Er war der Chef. Bei Gott – das war er. Und es gab eine Menge Absonderlichkeiten, an die sich seine Mitarbei­ ter gewöhnen mussten, vorausgesetzt, sie woll­ ten ihren Job behalten. Genaugenommen war der Mann eine einzige fleischgewordene Ab­ sonderlichkeit. »Den Neigungswinkel, ich will den exakten Neigungswinkel hören …! Haben die Spanier sich gemeldet?« Smythe zog einen Schokorie­ gel aus der Brusttasche seines Hemdes. »Na­ türlich bremst der Saturn ihn ab, was denn sonst … Den Neigungswinkel, verdammt noch mal …! Haben Sie auf Hawaii das Perihel neu berechnet?« Hektisch riss er das Papier von seinem Scho­ koriegel und biss in selbigen, »… eine Hellig­ keit von zwei Komma zwei …« Mit vollem Mund sprach er weiter, »… zwei Komma zwei – bei dieser Entfernung, ich glaubs nicht, ich glaubs einfach nicht … Wir hätten den Brocken schon vor Tagen entdecken müssen … Was zum Teufel mailen die Spanier …?« Er deutete nach links und nach rechts, mal auf diesen Mann, mal auf jene Frau vor den Bildschirmen und Armaturen. Zwischendurch legte er die freie Hand auf die Stirn, hörte auf

zu kauen und schloss seine weit aus den Höh­ len tretenden Augen. Wie ein Dichter, der an einem Vers schmiedet, sah er dann aus, oder wie ein Regisseur, der versucht sich eine schwierige Szene vorzustellen. Ein absonderli­ cher Mann, wie gesagt. Wenn er die Augen dann wieder aufriss, warf er jedes Mal einen flüchtigen Blick auf die Leinwand, bevor er zum nächsten Redeschwall ansetzte. Auf der Leinwand funkelte ein Ausschnitt des südlichen Sternenhimmels. Deutlich war er zu sehen, der kleine spindelförmige Lichtfleck knapp über dem westlichen Horizont – »Chri­ stopher-Floyd«, der neu entdeckte Komet. In knapp zwanzig Minuten würde er das Objektiv­ feld des Smithsonian Observatoriums verlas­ sen. »Der Bahnneigungswinkel beträgt exakt zwölf Grad, neunzehn Minuten und siebenunddrei­ ßig Sekunden, Sir.« Spencer Levington drehte sich von seinem Sessel aus zu Smythe um. Der junge Astronom saß an der Konsole direkt un­ ter der Projektionsfläche. »Humbug!« Smythe lief zu ihm, beugte sich über dessen Schulter und beäugte die Tabelle auf dem Monitor in der Konsole. »Es stimmt … Verdammt, es stimmt tatsächlich! Gestern wa­ ren es noch mehr als dreizehn Grad!«

»Das Gravitationsfeld des Saturn, Sir«, gab Levington zu bedenken. »Immerhin hat er sich dem Planeten auf zwei Komma drei Astrono­ mische Einheiten genähert.« »Eine Grafik!«, zischte Smythe. »Weg mit der Tabelle – ich will eine Grafik!« Während Le­ vingtons Finger über die Tastatur flogen, rich­ tete Smythe sich auf und blickte auf die große Projektionsfläche. »Das Bild aus Hawaii! Wo bleibt es? Ich will den Himmel über Hawaii sehen!« »Wir sind gleich so weit, Sir!«, rief eine Frau­ enstimme von der rechten Seite der Observato­ riums-Zentrale. Christine Perlman – die Ma­ thematikerin und Astrologin gehörte erst seit drei Monaten zu Smythes Mitarbeiterstab. »Und die NASA, zum Teufel …!« Der Zeigefin­ ger seines ausgestreckten Armes stach nach links. »Warum habe ich noch immer nicht mit der NASA gesprochen?« »Rufen zurück, Sir«, sagte eine gelassene Männerstimme zwei Tische neben Levingtons Arbeitsplatz. Louis Garfield, ein beleibter Far­ biger, war nach dem Professor der dienstältes­ te Mitarbeiter am Smithsonian. Ein Astrophy­ siker wie Smythe. »Unmöglich kann der Neigungswinkel sich verändern.« Smythe drehte eine Runde durch

den Raum. »Völlig ausgeschlossen …« Mit bei­ den Händen hielt er sein knochiges Gesicht fest, als wollte er das Chaos unter seiner Schä­ deldecke bändigen. »Was sagt Hawaii? Ich will endlich ihr Bild … Und das Perihel, das Perihel – warum weiß ich immer noch nicht, welchen sonnennächsten Punkt die Schnarchnasen ausgerechnet haben?« »Eins Komma null zwei Astronomische Ein­ heiten, Sir!«, rief Christine Perlman. »Deckt sich mit unseren Berechnungen!« »So nahe kommst du der Sonne?« Smythe fuhr herum; die Absätze seiner Turnschuhe quietschten auf den Fliesen. Er starrte die Leinwand an. Der Komet verließ eben den von Cambridge aus sichtbaren Sternenhimmel. »Fast so nah wie die Erde … Willst du uns einen Besuch abstatten …?« Die Leinwand verblasste. Für Augenblicke blieb sie dunkel. »Das Bild vom CFHT, Sir!«, sagte Garfield. Und wieder funkelte der Ster­ nenhimmel auf der Projektionsfläche. Der Sternenhimmel, wie man ihn in Hawaii vom Mauna Kea aus, durch das dort stationierte Canada-France-Hawaii-Telescope – abgekürzt CFHT – mit einem Spiegeldurchmesser von 3,6 Metern, sah.

Smythe trat hinter Levingtons Sessel und um­ fasste dessen Lehne. Seine unnatürlich großen Augen glitten über das Bild aus Hawaii. Er fand den Lichtfleck nur wenig oberhalb des un­ teren Projektionsrandes zwischen Centaurus und der Mittelachse der Wasserschlange. »Da bist du ja, du merkwürdiger Vagabund …« Seit der Entdeckung des Kometen vor zwei Tagen stand Smythes Observatorium praktisch ununterbrochen mit dem Laser-Teleskop auf dem Calar Alto in Spanien und mit dem CFHT in Verbindung. Die Berechnungen der Kometen waren schwierig. Ihr Neigungswinkel zur Ekliptik – zur Erdbahn also – bereitete Smythe Kopfzer­ brechen. Und die widersprüchlichen Daten über den voraussichtlich erdnächsten Punkt sowieso. »Die NASA!«, brüllte er plötzlich los. »In Hawaii wird man ihn auch nicht mehr lan­ ge sehen! Ich will endlich Bilder von Hubble zwei!« Viermal hatte Smythe in den vergangenen vierundzwanzig Stunden mit der NASA telefo­ niert. Man hatte versprochen, ihm Aufnahmen des neuen Weltraumteleskops Hubble II zur Verfügung zu stellen. Nichts war passiert. »Wollten zurückrufen, Sir!«, kam es von einem der Arbeitsplätze.

»Rufen Sie an!«, verlangte Smythe, »sonst warten wir noch das ganze Wochenende! Ver­ dammte Bürokraten! Zu blöd, um über den ei­ genen Tellerrand zu blicken! Es fliegen noch ein paar andere Sachen im Weltall herum als ihre bescheuerten Sonden! Der Komet müsste doch ein gefundenes Fressen für ihr Discove­ ry-Programm sein!« »Die Grafik, Sir!«, unterbrach Levington sei­ nen Wutanfall. Smythe sprang zu Levingtons Computerkon­ sole. Seine Augen saugten sich förmlich an der grafischen Darstellung von Erd- und Kometen­ bahn fest. Die Ekliptik war als blaugetönte, fast kreisför­ mige Scheibe um die Sonne dargestellt, die wahrscheinliche Kometenbahn als langgezoge­ ne rote Ellipse. »Eine Hyperbel, Sir. Ihre Scheitelpunkte sind extrem schwer zu berech­ nen.« Die rote Ellipse durchstieß die blaue Scheibe in einem sehr spitzen Winkel; fast deckten sich die Flächen. »Ist das wahr?«, flüsterte Smythe. »Zwölf Grad, neunzehn Minuten … Ist das wirklich wahr …?« Ein gelber Punkt blinkte am Perihel, am son­ nennächsten Punkt also, den der Komet durch­ queren würde. Der gelbe Punkt lag erschre­

ckend nah an der Erdbahn, daneben ein Da­ tum: 12. Februar 2012 – der voraussichtliche Termin der größten Sonnennähe des Kometen. »Entfernung!«, bellte Smythe. »Wie weit ist die Erde am zwölften Februar von seinem Perihel entfernt?« Levingtons Finger tanzten über die Tastatur. Ein Fenster öffnete sich in der Grafik. Darin eine Zahl: 13.640.320 Kilometer. »Gestern wa­ ren es noch fast fünfzehn Millionen Kilometer!«, schrie Smythe. Er stieß sich von Levingtons Sessellehne ab und wirbelte herum. »Die Daten aus Spanien!« Und wieder tänzel­ te er durch den rechteckigen Raum. »Wo kommst du her? Aus der Oortschen Wolke? Aus einem anderen Sonnensystem?« Er blieb stehen, legte beide Hände auf den Kopf und starrte die Leinwand an. »Wieso haben wir dich nicht früher entdeckt? Und dann deine Bahn …!« Er drehte sich einmal um sich selbst und riss die Arme hoch. »Eine Hyperbel! Eine Hyperbel, die sich fast mit der Ekliptik deckt – der Bursche kommt aus dem Nichts und wird auf Nimmerwiedersehen aus dem Sonnensys­ tem verschwinden …!« In der Nähe der Tür blieb er wieder stehen, griff in die Tasche seiner weiten Leinenhose

und zog einen Stanniolstreifen heraus, ein Ta­ blettenbriefchen. »Haben Sie jemanden bei der NASA erreicht? Was erzählen die Penner?« Smythe drückte ein Dragee aus dem Stanniol­ streifen. Ein Medikament, das die Produktion seiner Schilddrüsenhormone drosselte. »Sie holen gerade den Chef vom Dienst aus dem Bett, Sir«, rief Christine Perlman ihm zu. Sie drückte das Telefon ans Ohr. »Wird auch Zeit.« Smythe schob sich das Dra­ gee zwischen die Lippen und schluckte es. Die übliche Dosis wäre dreimal ein Dragee pro Tag gewesen. Smythe, selbst Mediziner, verordnete sich meist nur zwei oder eins. Eine Schilddrü­ senüberfunktion war nicht die allerschlechtes­ te Krankheit – man lief fast ununterbrochen auf Hochtouren und brauchte wenig Schlaf. Smythe kam mit drei Stunden aus. Wenn nur der chronische Hunger nicht wäre. Er zog einen neuen Schokoriegel aus der Hemdtasche und riss das Papier ab. »Die Spanier haben eine Datei geschickt, Sir!«, rief einer der Astronomen. »Die neues­ ten Berechnungen vom Calar Alto …« »Auf die Leinwand damit!« Sekunden später projizierte der Beamer eine Tabelle auf die Leinwand. »CHRISTOPHER-FLOYD, 16:20 UHR, MEZ« lautete die Titelzeile. Darunter die

aktuellen Werte: Albedo, Helligkeit, Sublimati­ on, Schweiflänge, aktive Fläche, Geschwindig­ keit, und so weiter. »Die NASA, Sir!« Christine Perlman drehte ihren Sessel herum und strecke ihm das Tele­ fon entgegen. Smythe schoss auf sie zu und riss ihr das Gerät aus der Hand. »Professor Doktor Smythe!« Er sprach laut und betonte jede einzelne Sil­ be. »Schön, so außerordentlich rasch von Ih­ nen zu hören! Ich brauche Daten von Hubble zwei!« Eine Männerstimme nuschelte einen Namen aus dem Hörer. Smythe verstand ihn nicht und er interessier­ te ihn auch nicht. »Das dauert noch, Sir«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Unser Hubble-Team hat in den nächsten Stunden noch eine Menge Messungen vor der Brust. Sie wissen ja – die Rosetta-Sonde …« Die ROSETTA-Mission war ein Projekt der ESA. Im Januar 2003 hatte eine Ariane-Rakete die Sonde von Kourou, Französisch-Guayana aus ins All geschossen. Acht Jahre später, im Juni 2011, hatte die Sonde den Kometen Wirta­ nen erreicht. Die Landung auf Wirtanen sollte in neunzehn Tagen stattfinden. »Und ganz ne­

benbei müssen wir noch Contour im Auge be­ halten. Die Sonde …« »Nichts gegen Ihr Spielzeug da oben, Mister«, unterbrach Smythe den Mann, »aber im Au­ genblick haben wir dringendere Sorgen, schät­ ze ich …!« Das schnurlose Telefongerät mit der Rechten ans Ohr gepresst, tippelte er durch die Observatoriums-Zentrale. Während er sprach, schlug sein linker Arm Schneisen in einen ima­ ginären Dschungel. »Der neue Komet, ›Chri­ stopher-Floyd‹ – vor zwei Tagen hat er den Sa­ turn passiert, in nur dreihundertfünfzig Millionen Kilometer Entfernung! Jetzt ist er nicht einmal mehr acht Komma fünf zwei Astronomische Einheiten von uns entfernt, etwa eins Komma zwei Milliarden Kilometer! Er muss also mit unglaublicher Geschwindig­ keit ins Sonnensystem hineingerauscht sein, denn Saturn stand vorgestern über zehn Astro­ nomische Einheiten weit entfernt.« Smythe blieb stehen und warf einen Blick auf die Leinwand. »Geschwindigkeit wahrscheinlich fünfzig Ki­ lometer pro Sekunde. Saturn hat ihn abgebremst. Aber der Nei­ gungswinkel seiner Bahn hat sich in den letz­ ten zweiunddreißig Stunden um fast ein Grad verringert. Das kann man nicht allein mit Sa­

turns Gravitationsfeld erklären. In voraus­ sichtlich hundertneunundsechzig Tagen, am zwölften Februar zweitausendzwölf wird er sein Perihel erreichen und zwar in einer ver­ flucht geringen Distanz zu unserem hübschen Planeten …« »Schicken Sie uns Ihre Daten rüber«, ver­ suchte der Anrufer Smythes Wortschwall zu stoppen. »Das werde ich tun«, bellte der Professor ins Telefon. »Und Sie werden Ihre Leute zusam­ mentrommeln und ihnen klar machen, dass ich morgen die Hubble-Daten auf dem Tisch liegen haben muss. Und ich brauche eins Ihrer Spielzeuge. Ich will so viel wie möglich über den Kometen erfahren …« »Das geht nicht!« Der NASA-Mann wurde schroff. »Unsere Discovery-Sonden sind ausge­ lastet, und zwar bis zum Anschlag. Das NewMillenium-Programm tritt gerade in seine hei­ ße Phase …« »Dann wende ich mich ans Weiße Haus! Viel Spaß noch!« Smythe unterbrach die Verbin­ dung, stach zurück zu Perlmans Platz und knallte ihr das Telefon auf den Tisch. »Verbin­ den Sie mich mit Washington!« Er drehte sich um und deutete auf die Leinwand.

»Nachrichtensperre! Kein einziges Wort dar­ über dringt an die Öffentlichkeit …« Dortmund, 29. August 2011 Die S-Bahn hielt, Türen öffneten sich zi­ schend, Menschen schoben sich durch den Mit­ telgang und eine Stimme verkündete, dass der Zug hier endete. Also stemmte sich auch Her­ bert Fuchs aus dem Sitz, griff nach seiner bun­ ten Plastikreisetasche im Gepäcknetz und drängte sich in die Menge zwischen den Sitz­ reihen. Auf dem Bahnsteig ließ er seine Tasche auf eine Bank fallen. Er war lange nicht in der Stadt gewesen, musste sich erst an den Gedan­ ken gewöhnen, wieder hier zu sein, nur nichts zu überstürzen. Er drehte sich eine Zigarette. Die Menge strömte zu den Treppenabgängen in die Bahnhofshalle, und noch bevor er sich seine Zigarette anzündete, fand sich Herbert allein auf dem Bahnsteig. Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr. Normalerweise lag Her­ bert um diese Zeit in seiner Zelle und bog im Traum starke Drähte zu Kleiderbügeln oder schraubte Plastikhülsen, Minen, Federn und Druckknöpfe zu Kugelschreibern zusammen. Damit hatte er in den letzten zehn Jahren seine

Tage zugebracht. Heute war er entlassen wor­ den. Er rauchte, und die Treppe zur Bahnhofshalle spuckte wieder Menschen aus. Der Bahnsteig füllte sich. Herbert kam sich plötzlich etwas verloren vor, und in seinem Bauch schien sich ein großes Loch zu öffnen – das Gefühl, etwas würde ihm fehlen, beschlich ihn. Mach dir nicht ins Hemd, Herbert, dachte er, es ist leichter als du denkst … In Malmö verließ Matthew Drax zu diesem Zeitpunkt gerade Beryls Hotel. Drei Tage wa­ ren sie nicht aus dem Bett gekommen, aber am Abend hatten sie sich gestritten – Beryl forder­ te, dass er mit ihr nach Stockholm fuhr, aber Matt wollte nicht. In Cambridge, Massachusetts war es später Nachmittag. Das Telefon in der Hand, lief Pro­ fessor Dr. Jacob Smythe in seinem Büro hin und her. Das ganze Wochenende über hatte er vergeblich versucht, einen Regierungsvertre­ ter aus der engsten Umgebung des Präsidenten an die Strippe zu bekommen. Jetzt meldete sich einer seiner Berater. Smythe versenkte einen angebissenen Schokoriegel in seiner Hemdtasche. In Harbour View lagen Archer Floyd und Marc Christopher im weißen Sand. Durch Feldstecher beobachteten sie einen fla­

chen Viermaster, etwa vierhundert Meter auf dem Meer vor der abendlichen Küste. Ein Dra­ chenkopf zierte als Galionsfigur den Bug des Schiffes, und ein Ruderboot voller Wikinger steuerte den Strand an, wo ein Dutzend nack­ ter Frauen hastig ihre Kleider zusammenraff­ ten. Eine Filmszene, in der Vivian und Sue Ne­ benrollen spielten. Floyd und Christopher hatten Kopfschmerzen und tranken Wasser. Seit ein gewisser Dr. Smythe sie am vergangenen Freitag in ihrem Hotelzimmer angerufen hatte, um ihnen zur Entdeckung eines neuen Kometen zu gratulie­ ren, hatten sie praktisch ununterbrochen ge­ feiert. Man wird ja nicht jeden Tag unsterblich. »Christopher-Floyd« war zu diesem Zeitpunkt noch 1.163.747.520 Kilometer von der Erde entfernt. Und Herbert Fuchs verließ den Dortmunder Hauptbahnhof. Er sah sich um. Der Bahnhofs­ vorplatz hatte nichts Vertrautes mehr. Vor fast elf Jahren, als er hier die S-Bahn zum Düssel­ dorfer Flughafen bestiegen hatte, war der Hauptbahnhof noch eine Großbaustelle gewe­ sen. Jetzt thronte ein überdimensionaler Hut auf ihm, ein Ufo-förmiger Leichtmetallbau. Er erstreckte sich über den Königswall fast bis zur Treppe Richtung Petri-Kirche. Die Welt

hat sich weitergedreht, Herbert, so ist das nun mal … Er entschied sich, zu Fuß in die Nordstadt zu gehen. Dazu hätte er eigentlich den Nordaus­ gang nehmen können, aber der kleine Umweg würde ihm guttun. Gemach, Junge, langsam ankommen, ganz langsam … Sein trockener Mund signalisierte ihm seine Angst. Angst vor der Begegnung mit Julia. Es war über ein Jahr her, dass sie ihn zuletzt im Gefängnis besucht hatte. Und ihr letzter Brief kam vor zehn Mo­ naten. Nichtssagende Worthülsen, keine Er­ klärung, kein Abschied, nichts. Herbert ahnte, was ihn erwartete. Am Harenberg-Center ging er an der Bahn­ trasse entlang und dann rechts durch die Un­ terführung hindurch Richtung Nordstadt. Er überquerte die Straße, die links zum Ar­ beitsamt führte und vor allem zum Nordaus­ gang des Hauptbahnhofs, wo er als Siebzehn­ jähriger seine Laufbahn als Drogendealer begonnen hatte. Achtundzwanzig Jahre her. Rechts auf der anderen Seite der Schützenstra­ ße wohnte der Bestatter, der seine Eltern beer­ digt hatte. Sein Hosenschlitz hatte offen ge­ standen, als er nach der Trauerfeier an den Sarg seines Vaters trat, um die Träger einzu­

weisen. Herbert musste grinsen, als er daran dachte. Zwei Häuserblocks weiter war eine der vielen Kneipen, in denen er Musik gemacht hatte, und dann die Kirche, die er als vierzehnjähri­ ger Konfirmand zum letzten Mal betreten hat­ te. Je weiter er in die abendliche Nordstadt vordrang, desto mehr Bilder aus seiner Jugend stiegen aus einer Erinnerung hoch. Und desto fremder fühlte er sich. Wie jemand, der kein Zuhause mehr hatte. Die Welt hat sich weiter­ gedreht, Junge – du gehörst nicht mehr dazu. Er bog in die Mallinckrodt ein, die Hauptver­ kehrsstraße der Nordstadt, und schlenderte wie ziellos Richtung Borsigplatz. Dabei lag dort das einzige Ziel, das es in seinem Leben noch gab. Hier hatte sich nicht viel verändert: türkische Imbiss-Stuben, türkische Schuhmacher, türki­ sche Lebensmittelläden und an jeder Straßene­ cke ein Kiosk. Ein paar Schritte vor ihm schob eine Frau einen Kinderwagen aus einer Knei­ pe. Blaue Strähnen durchzogen ihr Kurzblond­ haar, sie war kräftig gebaut. Sie trug eine Art ärmellose Weste auf nackter Haut, und auf dem Rückteil der Weste las Herbert in weißen Buchstaben das Wort Destiny. Schon wieder musste er grinsen. Besser aber noch als das

Schicksalsetikett gefiel ihm der füllige Hintern der Frau. Er steckte in knappen weißen Shorts und pendelte auf eine Weise hin und her, die Herbert sich in seiner Gefängniszelle oft vorge­ stellt hatte. In unzähligen sehnsüchtigen Stun­ den hatte er geradezu eine Meisterschaft darin entwickelt, sich Frauenhintern vorzustellen, die sich auf erbauliche Weise bewegten. Ihm wurde heiß und er beschleunigte seinen Schritt. Es kam ihm selbst albern vor, die Frau nur deswegen überholen zu wollen, um einen Blick auf ihre Frontseite werfen zu können. Er hatte sie fast eingeholt, als etwas Buntes aus dem Wagen rutschte und auf den Asphalt fiel. Herbert blieb stehen und sah nach unten – eine Plüschfigur lag vor den Spitzen seiner al­ ten Mokassins. Er bückte sich und hob sie auf. Das kleine Kerlchen im Kinderwagen fing an zu krähen. Im Licht der Straßenbeleuchtung betrachtete Herbert die Figur. Sie trug ein schwarzes Kostüm. Ihre Füße steckten in gel­ ben Gummistiefeln. Sie war mit einem sand­ farbenen Trenchcoat bekleidet, hatte einen un­ glaublich breiten Mund und lustige Augen. Auf der breiten Heldenbrust stand in gelben Groß­ buchstaben »JIM TRASH«. Das Kerlchen streckte seine kurzen Ärmchen aus und schrie herzzerreißend. Herbert reich­

te ihm die Figur in den Kinderwagen. Augen­ blicklich verstummte das Geplärre. Der Junge, höchstens anderthalb Jahre alt, drückte Jim Trash an seine Brust, gluckste und blinzelte Herbert aus verheulten Augen an. Das feiste Kerlchen sah ein bisschen aus wie ein Ferkel, das man in blaue Hosen und in ein grünes Hemdchen gezwängt hatte. »Danke«, sagte die Frau. Sie mustere ihn von oben bis unten und wirkte deutlich reserviert. Eine Hitzewelle schoss Herbert ins Gesicht – schlagartig wurde ihm klar, dass er aussah wie ein Penner in seinen dutzendfach geflickten al­ ten Jeans, seinem abgetragenen grauen Jackett, der speckigen Lederweste und seinem ehemals weißen Hemd darunter. Die Frau packte den Griffbügel des Kinderwagens und stach davon. Vor lauter Peinlichkeit hatte Her­ bert vergessen auf ihre Brüste zu schauen. Ein paar Schritte weiter, vor einem Schau­ fenster, in dem sich seine Gestalt spiegelte, blieb er stehen. Er hatte Fett angesetzt. Von der Seite wölbte sich sein Bauch aus den Knopfleisten seines Jakketts. Das graue Haar hing ihm strähnig über die Schultern und ein stellenweise schon weißer Vollbart wucherte in seiner unteren Gesichtshälfte.

»Original Herbert Fuchs – so ist er und so bleibt er.« Er sprach mit sich selbst, und so et­ was wie Trotz schwang in seiner Stimme. Die Eigenwilligkeit seiner äußeren Erschei­ nung hatte er sich durch die ganze lange Ge­ fängniszeit bewahrt. Abgesehen von ein paar Büchern, einem silbernen Gasfeuerzeug mit seinen eingravierten Initialen, seiner Elfen­ beinzigarettenspitze und einem schwarzen Sie­ gelring war sie das Einzige, was ihm geblieben war aus seinem ersten Leben. Das Einzige, das wirklich ihm gehörte. Sein Blick fiel auf die Auslagen des Schau­ fensters: Musikinstrumente. Darunter eine teure akustische Gitarre, Marke Fender. Er dachte an die achthundertzwanzig Euro, die sie ihm heute Morgen bei der Entlassung aus­ gezahlt hatten. Der klägliche Rest seines Ar­ beitslohns. Tausende von Kleiderbügeln hatte er dafür zurechtgebogen und Tausende von Kugelschreibern zusammengeschraubt. Diese Gitarre kostete zweihundertfünfund­ zwanzig Euro. Den Rest des Sommers könntest du mit Straßenmusik überstehen … Er klemmte sich die schäbige Kunststoffta­ sche unter den Arm und ging weiter. Die Fen­ der-Gitarre nahm er mit. In seinem Kopf.

ZweihundertfünfundzwanzigEuro …, fast ein Drittel deines Gesamtvermögens … Wehmütig dachte er an die Zeiten, in denen er vierhundert, fünfhundert Mark wie nichts ausgegeben hatte. An einem Tag, einfach so – für Kleider, CDs, Restaurantrechnungen, Ha­ schisch und so weiter. Fette Jahre waren das gewesen, Jahre, in denen er im Schnitt alle vier Monate mal für zwei oder drei Wochen gear­ beitet hat. Arbeiten hieß damals als Drogenku­ rier nach Kolumbien fliegen, oder nach Marok­ ko, oder in die Türkei. Und jedes Mal vierzigbis fünfzigtausend Mark mit nach Hause neh­ men. Zwei Monate im Jahr arbeiten, zehn Mo­ nate das Leben genießen und Musik machen. Acht Jahre lang ging das so, bis sie ihn eines schönen Tages auf dem Düsseldorfer Flugha­ fen mit zwei Kilogramm Heroin erwischten. Vorbei, dachte er, vergiss es. Du musst noch einmal anfangen. Ganz unten … Er hoffte, ein paar Wochen lang bei Julia un­ terschlüpfen zu können. Soweit er wusste, gab es noch zwei oder drei alte Freunde in der Stadt. Sie würden sich an ihn erinnern. Män­ ner, die Discotheken und Kneipen besaßen, in denen er früher verkehrte oder Musik gemacht hatte. Nachts kellnern, tagsüber Straßenmu­ sik …

Mit solchen bescheidenen Zukunftsplänen im Kopf näherte er sich dem Borsigplatz. Der plötzliche Anblick der vertrauten Häuserfront riss ihn aus den Gedanken. Sie war noch grau­ er und schmutziger als er sie in Erinnerung hatte. »Julias Grillstube« stand auf einem der beiden Schaufenster. Der Abendverkehr ras­ selte an ihm vorbei – Straßenbahnen, Busse, Pkws, Fahrräder. Hinter ihm, auf dem Bürger­ steig, gingen Passanten vorüber. Er nahm es kaum wahr. »Julias Grillstube « … Julia … Die Trockenheit in seinem Mund wurde ihm bewusst, der Druck hinter seinem Brustbein und der Herzschlag in seinen Schläfen. Er überquerte die Straße. Die Hand schon an dem schwarzen Kunststoff des Türgriffs, atmete er noch einmal tief durch. Dann zog er die Tür auf. Es war kurz vor halb elf. Zu dieser Stunde etwa hatte Matthew Drax in Malmö seine Hotelrechnung bezahlt und sein Museumshotel verlassen. Er lief über den großen Rathausplatz zu den Parkplätzen und blickte nicht ein einziges Mal zurück auf die mittelalterliche Fassade. Und in Cambridge, Massachusetts legte Pro­ fessor Dr. Jacob Smythe nach einem langen Telefonat mit dem Präsidentenberater den Te­

lefonhörer auf und zog seinen angebissenen Schokoriegel aus der Hemdtasche. In Harbour View, Jamaika, telefonierte Ar­ cher Floyd mit seiner Frau und beglück­ wünschte sie, bei ihrer Hochzeit seinen Namen angenommen zu haben. Und sein Freund Marc Christopher und dessen neue Flamme Vivian trösteten Sue Bertram. Die hatte Arme und Kopf auf einen der Tische des Strandcafes ge­ legt, von dem aus Floyd telefonierte. Ihre Trä­ nen verwandelten ihr Make-up und ihren Lid­ schatten in lauter schmierige Farbflecken. Saxon, ihr Regisseur, hatte sie nach der letzten Szene des Drehtages zur Schnecke gemacht. In New York City, in einem der gelben Cabbys am Grand Central Terminal, saß ein Taxifah­ rer, ein Schwarzer. Die abendliche Rushhour rasselte an ihm vorbei, und er rechnete die Kosten durch, die ein drittes Kind verursachen würde. Etwas weiter nördlich, in der Radio City Music Hall, betrat der bekannte Fernseh­ moderator Timothy LaHaye den Masken­ bildnerraum. In dreieinhalb Stunden würde seine beliebte Talk-Show beginnen. Etwas weiter südlich, in Downtown, in einem Büro des Municipal Buildings, packte ein Re­ gierungsbeamter Terminplaner, Handy und die New York Times in seinen Aktenkoffer und

lächelte, weil er an den Abend mit seiner Fami­ lie dachte. Er hieß Burt Cassidy und war zufrie­ den. Sehr zufrieden sogar. Und der neue Komet hatte sich inzwischen um weitere 2392 Kilometer auf die Erde zu be­ wegt. Und auf Julias Grillstube. Herbert begriff, noch bevor die Tür hinter ihm zufiel. Ein Mann stand an den Friteusen, mit dem Rücken zum Tresen. Er hatte dichte blauschwarze Locken und trug ein weißes Muscleshirt, sodass Herbert die braune Haut seiner muskulösen Schultern und Oberarme sehen konnte. Ein Südländer, vermutete er. Julia machte sich hinter dem Tresen ganz links an der Spüle zu schaffen. Silbrige Fäden durchzogen ihr brünettes Haar. Wie früher hatte sie es zu einem Dutt im Nacken zusam­ mengesteckt. Wasser strömte ins Spülbecken, und Julia fummelte ihre Armbanduhr vom Handgelenk. Als sie die Uhr auf den Tresen legte, sah sie auf. Herbert stand noch immer am Eingang. Ihre Blicke begegneten sich. Julias schmales, noch immer schönes Gesicht nahm die Farbe schmutzigen Kerzenwachses an. »Du … Her­ bert …?« »Curry-Wurst mit Pommes und ein Pils«, sag­ te Herbert. Er schritt zum Tresen und ließ dort

seine Tasche fallen. Der Südländer an den Fri­ teusen hatte sich umgedreht. Aus dunklen, misstrauischen Augen musterte er Herbert. Er konnte nicht älter sein als Mitte dreißig. Her­ bert spürte die Blicke der sieben oder acht Männer und Frauen an den Stehtischen. Die angespannte Atmosphäre war mit Händen zu greifen. »Ist das …?« Die Blicke des Mannes an den Friteusen flogen zwischen Julia und Herbert hin und her. Julia nickte. Die Augen des Süd­ länders wurden noch schmaler. Er hob zwei Siebe voller Pommes Frites aus dem siedenden Fett und stellte sie zwischen den Fettpfannen ab. Merkwürdig langsam tat er das, und genau so langsam drehte er sich um und baute sich vor Herbert hinter dem Tresen auf. Er war nicht unbedingt größer als Herbert, aber we­ sentlich drahtiger. »Pommes und Curry-Wurst …«, die Kontrolle über ihre Stimme drohte Julia zu entgleiten, »… mit Ketchup oder mit Majo?« Sie hätte Her­ bert genau so gut nach seinem Namen fragen können. »Rot-Weiß«, sagte er heiser. Und wesentlich lauter und an den Südländer hinter dem Tre­ sen gewandt: »›Rot-Weiß‹ – was ‘ne Frage, Mann! Hat sie mir tausendmal gemacht!« Der

Italiener oder was auch immer fixierte Herbert schweigend, nichts als Feindseligkeit in seinen Augen. Herbert wusste genau, dass er besser den Mund halten, seine Tasche greifen und »Julias Grillstube« verlassen sollte. Aber ähnlich wie er eine halbe Stunde zuvor gegen das Urteil seines Verstandes die Frau mit dem Kinderwa­ gen überholen wollte, nur um einen Blick auf ihren Busen werfen zu können, so handelte er auch jetzt gegen das, was die Vernunft ihm ge­ bot. Kein Damm war hoch genug, um seine jah­ relang eingesperrten Bedürfnisse und Gefühle aufzuhalten. Wie eine Springflut überspülten sie jetzt Herberts Verstand. Er legte sich also über den Tresen und fixierte Julias neuen Lover – denn das war er ohne Zweifel. »Sie hat mich mal geliebt.« Julia stand jetzt an den Friteusen und schien eifrig be­ schäftigt zu sein, als würde sie das alles nichts angehen. Aber Herbert sah, wie ihre Schultern nach oben zuckten. »Sie wollte mich sogar hei­ raten.« Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass sämtliche Gäste in »Julias Grillstube« ihn und den Südländer beobachteten. Absichtlich sprach er so laut, dass jeder ihn hören konnte.

»Sie wollte ein Kind von mir, stell dir das vor, Mann!« Julia drehte sich um und stellte einen Plastik­ teller mit Pommes und Curry-Wurst vor Her­ bert auf den Tresen. »Herbert … bitte …« »Wir haben gevögelt wie die Weltmeister!« Herbert sprach jetzt noch lauter. »Das kannst du mir glauben, Mann!« »Verpiss dich …« Der Spanier – oder was auch immer – hinter dem Tresen bewegte kaum die Lippen, als er das sagte, und er sprach bedrohlich leise. Herbert merkte es und ließ trotzdem nicht locker. Als wollte er die Bombe explodieren sehen, die er doch schon ticken hörte. »Sie hat mich fast sechs Jahre lang im Ge­ fängnis besucht, sie hat mir jede Woche ge­ schrieben, bis vor einem Jahr, sie hat mir Ta­ bak geschickt und Kuchen und Geld …« »Verpiss dich!«, schrie ihn der bronzefarbene Mann an. »… und jetzt komme ich hierher«, schrie Her­ bert zurück, »und ein Arschloch wie du hat sich bei ihr breit gemacht! Verpiss du dich! Verpiss dich, verpiss dich …!« Der andere warf sich über die Theke und packte Herbert an den Kragenaufschlägen sei­ nes Jacketts. Besteckkästen knallten auf den

Boden, Salzstreuer, Servietten-Halter und Juli­ as Uhr. »Mustafa …!« Julia versuchte, ihren Freund vom Tresen wegzuziehen. Von der Seite stürz­ ten zwei Männer heran, um die Streithähne zu trennen. Herbert griff nach seinem Plastiktel­ ler und klatschte Curry-Wurst und Pommes Rot-Weiß in das braune Gesicht. »Scheißkerl! Verdammter Scheißkerl …!« Die Männer rissen Herbert vom Tresen weg, und er brüllte Flüche und Beschimpfungen heraus. Sie galten nicht allein dem vor Schmerz heulenden Mann hinter dem Tresen, sie galten allem und jedem. Julias neuer Lover schrie nicht weniger laut – frisch frittierte Pommes sind scheußlich heiß und Curry brennt gemein in den Augen – und taumelte nach hinten gegen die Friteusen. Be­ stecke, Plastikteller und ein Sieb voller Pom­ mes fielen auf den Boden. Herbert schlug um sich, um die Männer los­ zuwerden, die ihn festhielten. Ein Fausthieb traf ihn in der Nierengegend, ein zweiter an der linken Schläfe. Er strauchelte, stürzte hin und trat nach den Männern aus. »Weg mit dem Messer, Mustafa!«, brüllte je­ mand. Der Südländer stürzte um die Außensei­ te des Tresens herum. Fritten- und Wurst­

stückchen klebten in seinen schwarzen Lo­ cken, Ketchup und Majonäse auf Stirn und Nase. Seine Rechte umklammerte ein Fleisch­ messer und Julia umklammerte seinen Arm. Sie schrie hysterisch, doch er zerrte sie einfach mit sich. Drei Männer von den Stehtischen warfen sich von hinten auf ihn und hielten ihn fest. »Lass den Scheiß, Mustafa! Wir rufen die Bullen!« Herbert sah, wie einer der Gäste sein Handy zückte. »Die Bullen« – ein Wort, das keine schönen Erinnerungen in ihm weckte. Er stieß die Männer, die ihn festhielten, mit den Beinen weg und robbte zu seiner Tasche. Daneben, inmitten von Servietten, Messern und Gabeln, lag Julias Uhr. Seine Faust schloss sich darum, er packte seine Tasche, sprang auf und stürzte aus »Julias Grillstube«. Im Laufschritt jagte er über den Bürgersteig, drängte sich durch die Passanten, rannte über die Straße. Niemand hielt ihn auf. Zwei Häuserblocks weiter hielt eine Straßen­ bahn. Herbert sprang hinein und ließ sich auf einen Sitz fallen. Er schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen das Fenster. Sein Herz raste und sein Atem flog. Vorbei, dachte er, vergiss es …

Ein paar Mal stieg er um. Irgendwie geriet er in die U-Bahn nach Aplerbeck. Am Hauptfried­ hof – es war inzwischen tiefe Nacht stieg er aus. Wenig später stand er vor dem Grab sei­ ner Eltern. Er beleuchtete es mit einem Feuer­ zeug. Der Grabstein war aus rötlichem Mar­ mor, das Grab selbst von Efeu zugewuchert. Der Anblick tröstete ihn. Ihr habt eure Zeit ge­ habt, dachte er. Ich atme noch, ich hab noch eine Zukunft … wenigstens das … Später, in Aplerbeck zog er Julias Uhr aus dem Jackett. Im Schein einer Straßenlaterne betrachtete er sie. Ein flaches, ziemlich großes Gehäuse mit weißem Zifferblatt und blauen Zeigern. »Made in Switzerland« stand auf dem Zifferblatt. Eine Comic-Figur grinste ihm vom Zifferblatt entgegen. Schwarzes Kostüm, bei­ ger Trenchcoat, gelbe Stiefel. »JIM TRASH« stand auf der breiten Brust. Herbert schüttelte den Kopf. »Von deiner Karriere habe ich im Knast nichts gehört«, murmelte er. Es war eine kitschige Uhr, aber es war Julias Uhr. Er ließ sie in seine Jackentasche gleiten. Ein Stück von Julia trug er nun bei sich, im­ merhin ein Stück. Eine Zeitung ragte aus dem Papierkorb am Pfahl der Laterne.

Herbert zog sie aus dem Abfall. Ein Boule­ vardblatt. »Der Todeskomet kommt – wird er uns verschonen?« Das halbseitige Foto unter der reißerischen Schlagzeile zeigte einen spin­ delförmigen Lichtfleck, an der Spitze rund und hell, zu seinem Ende hin blasser und mit einer weit gefächerten Fontäne. Herbert las den Bericht. Der Komet würde Mitte Februar des kommenden Jahres die Erd­ bahn kreuzen, hieß es darin, und alle Anzei­ chen sprächen dafür, dass er aus einem ande­ ren Sonnensystem stamme und nach einer einmaligen Stippvisite in unserem Sonnensys­ tem für immer in den Tiefen des Weltalls ver­ schwinden würde. »Na prächtig«, murmelte Herbert. »Du bist ja wie ich – tauchst einfach auf, gehörst nirgend­ wo hin, kein Schwein weiß, was aus dir wird und alle sind froh, wenn du schnell wieder ab­ haust.« Er blätterte um und fand das Phantombild ei­ nes Mannes, nach dem die Polizei fahndete. Der Mann hatte drei Tage zuvor, am vergange­ nen Freitag, eine Bank in einem Essener Vor­ ort überfallen und vierhundertsiebzigtausend Euro erbeutet. Bisher fehlte jede Spur von ihm. »Glückwunsch«, grinste Herbert. »Herzli­ chen Glückwunsch!«

Zur selben Zeit läutete in Cambridge, Massa­ chusetts, Jacob Smythes Handy. Der Astrophy­ siker saß gerade beim Abendessen bei seinem Stamm-Italiener und verdrückte eine Portion Rigatoni mit Gorgonzola-Sauce. Garfield, sein Assistent, teilte ihm mit, dass der Neigungs­ winkel der Kometenbahn sich noch einmal ge­ ringfügig verringert hatte und dass der Komet nach neuesten Berechnungen die Erdbahn schon am 11. Februar kreuzen würde. New York City, 29. August 2011 Seidenwäsche bedeckte die Glasplatte des Verkaufstresens. Höschen, Büstenhalter und Unterhemden mit Spagettiträgern in allen denkbaren Farben. Burt Cassidy schwankte zwischen Schwarz und Kobaltblau. Abwech­ selnd hielt er ein schwarzes und ein blaues Höschen gegen das Licht. Der feine Stoff be­ stand aus kleinen Blatt- und Blütenornamen­ ten, hundertfach durchbrochen, nur im Schritt durchgewebter Stoff in der Form einer offenen Rosenblüte. »Ein wundervolles Modell«, sagte die Verkäu­ ferin, eine elegante Enddreißigerin mit kurzen blonden Haaren und angeklebten PerlmuttFingernägeln. »Und von hochwertiger Quali­ tät. Ihre Freundin wird begeistert sein.«

»Meine Frau«, korrigierte Burt sie lächelnd. Natürlich war ihm aufgefallen, dass sie seine Hände betrachtet hatte. Er trug keinen Ring. Keinen Ring, keine Uhr, kein Armband – er litt unter einer Kontaktallergie. »Wir haben mor­ gen Hochzeitstag.« »Oh, wie schön für Sie! Eine runde Zahl?« »Nein.« Er wunderte sich ein bisschen über die Fragen von Mrs. Jane Tollgate, wie die Verkäuferin von Macy’s ihrem Namensschild nach hieß. Zwanzig Minuten lang breitete sie Dutzende von Wäschegarnituren auf dem Tre­ sen aus, mimte die kühle, sachliche Profiver­ käuferin, und jetzt stellte sie plötzlich persönli­ che Fragen. »Zwölf Jahre.« Er schob die Wäschestücke beiseite und ordnete die kobalt­ blauen und schwarzen Teile untereinander an. »Aber zwölf ist meine Glückszahl.« »Gratuliere.« Mrs. Jane Tollgate seufzte, und Burt fiel auf, dass sie keinen Ring trug. »Wenn Sie schon zwölf Jahre verheiratet sind, haben Sie wirklich Glück gehabt. Wenige Ehen halten heutzutage noch so lange. Wenn Sie sich allein die Statistik für Manhattan anschauen …« Burt hörte nicht mehr zu. Er dachte an seinen Freund Matt und dessen Frau. Exfrau, korri­ gierte er sich in Gedanken. Höschen und BH der beiden Garnituren ordnete er übereinan­

der an und versuchte sich Leas weißen Körper in den edlen Stücken vorzustellen, mal in den schwarzen, mal in den blauen. Das Lächeln, das dabei in seine hellblauen Augen trat und um seine Mundwinkel spielte, war ihm nicht bewusst. Aber Mrs. Jane Tollgate bemerkte es. »Welche Haarfarbe hat Ihre Gattin, wenn ich fragen darf?« »Keine Ahnung.« Burt lachte. »Sie trug schon Mahagonirot, als ich sie zum ersten Mal traf. Auf Kinderbildern ist sie dunkelblond.« Er hatte Lea vor vierzehn Jahren kennen ge­ lernt. Auf einem Michael-Jackson-Konzert im Madison Square Garden. Zwanzig war er da­ mals gewesen und hatte Jura im dritten Se­ mester an der Columbia University studiert. »Dann empfehle ich Ihnen das blaue Dessous. Das passt besonders gut zu Mahagoni.« Jane Tollgate sagte das sehr bestimmt und mit der Miene des Profis, dessen Urteil ein Mensch mit durchschnittlichem Selbstwertgefühl nicht an­ zweifelte. »Ich nehme trotzdem das Schwarze.« Zu den Anlässen, zu denen er das Dessous an Lea se­ hen wollte, kam es ihm in erster Linie auf sei­ nen Geschmack an. Burt stand auf schwarze Unterwäsche.

»Ein Mann, ein Wort«, flötete Mrs. Jane Toll­ gate. Sie kam Burt sichtlich entspannt vor, als sie Höschen, BH und Spitzenhemd einpackte. Er kramte seine Kreditkarte aus der Briefta­ sche und merkte, wie ihre Augen bewundernd über seinen dunkelgrauen Dreiteiler glitten. Burt war es gewohnt, dass Frauen ihn mit sol­ chen Blicken bedachten. Er war nicht nur ein gut angezogener Mann – er war ein attraktiver gut angezogener Mann: schlank, athletisch ge­ baut, mit markanten Gesichtszügen, braunem Teint und dichtem schwarzen Haar. Während er mit dem Päckchen unter dem Arm die Rolltreppe ansteuerte, zog er seine Ta­ schenuhr aus der Weste. Kurz nach sieben. Viele Menschen schoben sich durch die Abtei­ lungen von Macy’s. Manhatties, die nach Feier­ abend schnell noch etwas einkaufen wollten, bevor sie nach Hause fuhren – genau wie er. Burt Cassidy hatte sein Büro in der Stadtver­ waltung heute schon vor fünf Uhr verlassen. Seit Tagen brannte ihm das Geschenk für Lea unter den Nägeln, seit Tagen schob er den Ein­ kauf bei Macy’s vor sich her. Obwohl es nicht seine Art war, dringende Dinge erst auf den letzten Drücker zu erledigen. Doch die Arbeits­ belastung war in den letzten Wochen einfach zu groß gewesen.

In der Lebensmittelabteilung kaufte er eine Flasche Champagner und dazu Schokolade für die Kinder. Auch hier waren unglaublich viele Menschen unterwegs. Das war nicht immer so gewesen in den letzten Jahren. Nach der Ver­ hängung des Ausnahmezustands war es Macy’s eine Zeit lang schlecht gegangen. Die Existenz des noch zu Beginn des Jahrhunderts größten Kaufhauses der Welt hatte auf der Kippe ge­ standen. Die Manhatties hatten sich nur noch sehr zögernd in den großen Gebäudekomplex gewagt. In vielen Gebäuden und öffentlichen Einrichtungen New York Citys hatte es wäh­ rend der schlimmen Jahre 2005 und 2006 Giftgasanschläge gegeben. Doch nirgendwo fünf innerhalb eines einzigen Jahres, wie bei Macy’s. Und nirgendwo hatte es Tausende von Toten auf einmal gegeben. Abgesehen viel­ leicht von der Grand Central Station. Das Kauf­ haus hatte seine Tore schließen müssen und erst wieder Mitte 2007 aufgemacht. Doch das Image des »Totenhauses« hatte Macy’s noch eine lange Zeit angehangen. Ein paar Minuten später trat Burt an die Bordsteinkante der vierunddreißigsten Straße. Er winkte einem freien Cabby zu, das sich vom Herald Square aus näherte. Das Taxi hielt, Burt stieg in den Fond des Wagens. Der Fah­

rer, ein Afroamerikaner seines Alters, blickte ihn fragend an. »Brooklyn Heights«, sagte Burt, »Cranberry Street.« Der Chauffeur nickte, fuhr an und wendete seinen Wagen. Eine monotone Män­ nerstimme drang aus dem Autoradio. Es ging langsam aber doch stetig voran. Vom Herald Square in den Broadway hinein, dann nach Sü­ den vorbei am Madison Square Park, und aus Chelsea hinaus nach Downtown hinunter. Es war zwanzig nach sieben, als sie an der Kreuzung East Houston Street vor einer Ampel stockten. Noch immer klang die Männerstim­ me aus dem Radio. Jetzt konnte Burt sie ver­ stehen. Sie dozierte über Elektronenrastermi­ kroskope, über Quantencomputer, über synthetische Moleküle und DNS-Bausteine. Burt – er saß hinter dem Beifahrersitz – be­ trachtete das Profil des schwarzen Mannes hinter dem Steuer. Seine hohe gewölbte Stirn fiel ihm auf, der für einen Afro erstaunlich schmale Mund und der goldene Kreolenring in seinem rechten Ohr. Eine steile Falte stand zwischen den Brauen des Mannes – das konnte Burt im Rückspiegel erkennen und er neigte den Kopf nach rechts. Aufmerksam schien er der Männerstimme aus dem Autoradio zu lau­ schen.

Burt fragte sich, welchen Sender er da hörte, und als er sich streckte, um einen Blick auf die Mittelkonsole zu werfen, sah er das Wort »Disc« im Display des Radios leuchten. Ein schwarzer Taxifahrer, der eine Scheibe mit ei­ nem wissenschaftlichen Vortrag hört … Burt war beeindruckt. Er konnte nicht wissen, dass im Handschuhfach des Cabbys noch zwei Dut­ zend DVDs mit ähnlichen Vorträgen lagen, und er konnte nicht wissen, dass der Taxifahrer Molekularbiologie studierte. Auf keiner Uni­ versität, sondern als Autodidakt – meistens in seinem Taxi. Und Burt würde es auch nie er­ fahren. Die Ampel sprang auf Grün, der Verkehr nach Süden rollte weiter. Burt versuchte an Lea und seine Kinder zu denken, er versuchte die Ter­ mine zu sondieren, die in den nächsten Tagen anstanden – als stellvertretender Leiter der New Yorker Baubehörde würde er eine Bür­ gerinitiative der südlichen Bronx davon über­ zeugen müssen, dass ihr Stadtviertel neuen Hochhäusern weichen musste; New York platzte aus allen Nähten –, doch wie magisch zog der Taxifahrer Burts Aufmerksamkeit an. Dessen Hand fuhr zu den Armaturen des Ra­ diogeräts. Er drückte auf einen Knopf und ließ die monotone Männerstimme einen Satz wie­

derholen. Burt sah den Siegelring an seinem Ringfinger. Ein schwarzer quadratischer Stein mit einem roten Symbol. Burt konnte es nicht genau er­ kennen. Aber die Tätowierung am Handgelenk erkannte er: zwei ineinander verschlungene Buchstaben, ein W und ein T. Burt fragte sich, ob der Mann womöglich ein ehemaliges Mit­ glied einer jener radikalen Moslembruder­ schaften war, die seit dem Ausnahmezustand verboten waren. Seit den so genannten Religi­ onskriegen. »Kriege« deshalb, weil sie sich nicht auf die USA beschränkten, sondern die ganze westliche Hemisphäre in Mitleiden­ schaft gezogen hatten. Sie durchquerten SoHo und Chinatown und schließlich Lower Manhattan. Um zur Broo­ klyn Bridge zu gelangen, musste der Fahrer nach rechts abbiegen und eine Schleife am World Trade Center vorbei fahren. Der direkte Weg über die Lafayette Street war wegen zahl­ reicher Baustellen gesperrt. So fuhren sie durch die Church Street und die Fulton Street Richtung East River und passierten dabei die Ruine der St. Paul’s Chapel. Eine Bombenex­ plosion hatte sie Anfang 2005 zerstört, genau wie die Trinity Church sechs Straßen weiter südlich. Burt mochte die Bezeichnung »Religi­

onskriege« nicht. Es war ein zweijähriger Aus­ nahmezustand gewesen, weiter nichts. Ein von Washington verhängter Ausnahmezustand für alle amerikanischen Großstädte. Anders hät­ ten Armee und Nationalgarde die islamischen Fundamentalisten nicht in die Knie zwingen können. Das Gesicht des Taxifahrers zeigte kei­ ne Regung, als sein Blick die zerklüftete Ruine streifte … Sie erreichten die Auffahrt zur Brooklyn Bridge. Ein Stau auf der Brücke hielt sie auf. Der schwarze Taxifahrer drückte auf einen Knopf seines Autoradios. Die monotone Män­ nerstimme verstummte, stattdessen ertönte eine Frauenstimme. Die Nachrichtenspreche­ rin von WCBS. »Es ist neunzehn Uhr, Sie hören Nachrichten von WCBS. Unser Präsident hat die europäi­ sche Union aufgefordert, mehr Flüchtlinge aus den russischen Bürgerkriegsgebieten auf­ zunehmen. Auf einer Pressekonferenz im Wei­ ßen Haus sagte er, es sei humanitär nicht zu verantworten, dass …« Der Taxifahrer senkte das Seitenfenster her­ ab und zog eine Zigarette aus der Hemdtasche. »Sie haben doch nichts dagegen, Sir.« Bevor Burt antworten konnte, zückte er ein Feuerzeug und zündete sich die Zigarette an.

Burt war schlicht sprachlos. In keinem Thea­ terfoyer, in keinem öffentlichen Gebäude in New York City wurde geraucht. Seit Jahren nicht, seit Jahrzehnten. Ein Taxi war ein öf­ fentlicher Raum. Der Mann schien sich einen Dreck um Geset­ ze zu scheren. Wut stieg in Burt hoch, ein Ge­ fühl, das er selten empfand. Er legte sich ein paar scharfe Worte zurecht und beugte sich vor. »… der neu entdeckte Komet ›ChristopherFloyd‹ wird seine größte Erdnähe nach neues­ ten Berechnungen nun doch früher erreichen als anfangs erwartet …« Der Taxifahrer er­ höhte die Lautstärke, »… statt am zwölften Fe­ bruar nächsten Jahres wird er die Umlauf­ bahn der Erde bereits am elften Februar schneiden und unseren Planeten in nur drei­ zehn Millionen Kilometern Entfernung passie­ ren. Gravitatorische Auswirkungen auf die Erde seien nach Auskunft von Professor Dr. Jacob Smythe vom Smithsonian Astrophysi­ cal Observatory aber nicht zu erwarten. Wie am Abend aus dem Weißen Haus zu erfahren war, denkt die NASA daran, den Kurs einer Sonde des Discovery-Programms zu korrigie­ ren und diese in die Nähe der Kometenbahn zu manövrieren. Man verspricht sich von ei­

nem derartigen Unternehmen Aufschlüsse über Oberfläche …« Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. »Dafür hat die Regierung Geld.« Er drehte sich zu Burt um. »In der Lower East Side prügeln sich die Kids um die Mülltonnen, und in der Bronx ist die Säuglingssterblichkeit höher als zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts – aber Wa­ shington kann Dollars locker machen, um eine dieser Scheißsonden auf den bescheuerten Ko­ meten anzusetzen.« Etwas funkelte in seinen schwarzen Augen, etwas, das Burt erschauern ließ. Dann verzog sich das harte Gesicht des Mannes zu einem bitteren Grinsen. »Ich werde meine Kids damit trösten, wenn sie mich heute Abend fragen, wann es endlich mal wieder Fleisch gibt.« Er wandte sich ab und schaltete wieder auf die Disc um. Der Verkehr rollte weiter, der Ta­ xifahrer warf die Zigarette aus dem Fenster und fuhr an. Burt ließ sich gegen die Sitzlehne fallen. Die Papiertüte mit dem teueren Dessous für Lea kam ihm plötzlich heiß vor auf seinem Schoß, und Champagner und Schokolade in der Plastiktüte neben ihm erschienen ihm auf einmal wie Symptome einer peinlichen Krank­ heit. Er schämte sich, und zugleich war er wü­ tend. Wütend auf diesen seltsamen Taxifahrer,

wütend auf sich selbst, weil er ihn nicht wegen des Rauchens zurechtgewiesen hatte und weil ihm keine vernünftigen Argumente eingefallen waren, mit denen er ihm hätte widersprechen können. Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Wider Willen musste Burt über das nachdenken, was der schwarze Mann gesagt hatte. Die Slums in der Bronx wucherten wie Krebsgeschwüre. Harlem war ein einziges Elendsviertel, dessen südliche Grenze sich allmählich in die West Side hinunter schob. Die Verelendung der Lower East Side hatte längst die East Village und China Town erfasst. In Brooklyn und New Jersey sah es nicht besser aus. Fast jeder zwei­ te Bewohner der wohlhabenden Stadtviertel – die Upper East Side, Chelsea und Lower Man­ hattan, Fiat Bush in Manhattan und Brooklyn Heights in Brooklyn leistete sich inzwischen einen bewaffneten Wachtdienst. Raubüberfälle und Einbrüche waren an der Tagesordnung, und im letzten Jahr war die Mordstatistik für New York City auf über 10.000 Morde geklet­ tert. Eine Entwicklung, die nach dem Ausnah­ mezustand so rasant zugenommen hatte wie eine galoppierende Schwindsucht. New York City war endgültig zu einer Zweiklassengesell­ schaft geworden – die Underdogs ohne Vermö­

gen, ohne Zugang zu moderner Informations­ technologie und meist ohne Arbeit auf der einen Seite und die Reichen auf der anderen: der Geldadel, die Bildungsschicht, die Winner. Dazwischen gab es kaum noch Nuancen. Ein Pulverfass, das plötzlich mit Burt in diesem Taxi mitzufahren schien. Er konnte die bren­ nende Zündschnur förmlich riechen. Es ging nun schneller voran. Nicht schnell genug für Burt. Nach der Brooklyn Bridge steuerte der schwarze Chauffeur das Cabby rechts in eine Seitenstraße und dann nach Brooklyn Heights hinauf. Über die Middagh Street ging es in die Willow Street. Gepflegte Vorgärten, hohe He­ cken, kein Papierfetzen auf dem Bürgersteig, Platanen an beiden Seiten der Straße. Villen aus Sandstein, Ziegelsteingebäude und Holzhäuser fast durchgehend im Federal Style; eine verträumte Idylle. Die schönsten Häuser New York Citys standen hier. Die Platanen bil­ deten einen hohen grünen Tunnel über der Straße. Wer hier lebte, war auf der Sonnensei­ te des Lebens und konnte vorübergehend so­ gar vergessen, dass nur fünfzehn, zwanzig Au­ tominuten entfernt Elend und Gewalt regierten. Es sei denn, er hatte beruflich damit zu tun, wie Burt Cassidy zum Beispiel.

Endlich kam die unverputzte Buntsandstein­ fassade seines Hauses in Sicht. »Halten Sie dort vor dem Tor.« Der Taxifahrer ging vom Gas und stoppte den Wagen vor einem gusseisernen Rolltor. Das Gebäude dahinter, ebenfalls im Federal Style, stammte aus der glorreichen Gründerzeit, Baujahr 1852. Bis in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts war es eine Spedition ge­ wesen. Damals lieferte man das Bier noch in Holzfässern und mit Pferdegespannen aus. Stallungen, Werkstätten und Lagerhallen wa­ ren schon vor Jahrzehnten zu Luxusapart­ ments umgebaut worden. Lea und Burt hatten den Gebäudekomplex bereits vor sechs Jahren restauriert gekauft. Leas Großvater, ein Bör­ senspekulant war damals gestorben und hatte seiner Enkelin ein beträchtliches Vermögen vererbt. Der Taxifahrer zückte seine Geldta­ sche und nannte den Fahrpreis. Burt zahlte auf den Cent genau. Er gab dem Mann kein Trink­ geld. »Ich danke Ihnen, Sir!« Wieder dieses an­ griffslustige Lodern in seinen schwarzen Au­ gen. »Und wünsche noch einen angenehmen Abend!« Er betonte jedes Wort. Es klang wie eine Ohrfeige. Burt besaß feine Antennen für die Gefühle seiner Mitmenschen. Er stieg aus und schlug die Tür zu. Die Reifen des Cabbys

drehten durch, als es anfuhr. Der Afroameri­ kaner am Steuer hieß Washington Roots, aber das würde Burt erst in einigen Wochen erfah­ ren. Ganz New York City würde den Namen dann kennen … »Hey, Baby!« Vor dem großen Garderoben­ spiegel drehte sich Timothy LaHaye im Kreis. »Seh ich nicht fantastisch aus?« Graziös wie eine Diva hob er beide Arme, bewegte sie wel­ lenförmig vom Körper weg und tanzte im Wal­ zerschritt auf die beiden Frauen am Schmink­ tisch zu. »Ich will hören, dass ich aussehe wie ein junger Gott!« Die Schöße seines Silber­ schuppenfracks und seine langen blonden Ra­ stalocken wirbelten ihm um Kopf und Hüften wie Strahlenkränze. »Okay, okay – du siehst aus wie ein junger Gott.« Rozanne Bernhard, die Maskenbildne­ rin verdrehte die Augen und sog an ihrer Ziga­ rette. »Nochmal, Timmy! Noch mal!«, rief Kim Yong, die Regisseurin. »Dreh dich noch einmal so, dann siehst du aus wie ein tanzender Stern!« »Ein Stern! Die Sonne! Genau! Ich bin die Sonne, die in«, – er blickte auf seine Armband­ uhr –, »genau acht Minuten für siebenund­

zwanzig Komma fünf Millionen Zuschauer auf­ gehen wird.« Vor der fast gleich großen Rozan­ ne blieb er stehen, nahm ihr Kindergesicht zwischen beide Hände und küsste sie auf den Mund. »Gib zu – du brauchtest mich eigentlich gar nicht schminken. Keine Runzel, kein Krä­ henfuß, keine Falte, kein Pickel – nichts was du mit Make-up oder Puder vertuschen müss­ test. Gib es zu!« »Okay, ich geh es zu«, sagte die dicke Masken­ bildnerin. »Je älter du wirst, desto weniger Ar­ beit hab ich mit dir, ich geb es zu. Eigentlich tu ich nur so, als würde ich dich schminken. Will ja schließlich meinen Job nicht verlieren.« »Hast du es gehört?« Timothy LaHaye fasste die Regisseurin an beiden Schultern und hielt sie fest. »Hast du es gehört, Kim?« Er riss sei­ nen großen Mund und seine Augen weit auf. Wie ein Magier sah der Fernsehmoderator manchmal aus – oder wie ein wahnsinnig ge­ wordener Clown. »Hast du es gehört?« Ohne die zierliche Asiatin loszulassen drehte er sich zu Rozanne um. Die stand vor dem Spiegel und toupierte ihr kurzes, Blau gefärbtes Haar. »Das gibst du mir schriftlich! Wir gehen zum Notar!« »Aber vorher kriege ich einen Vertrag auf Le­ benszeit«, brummte Rozanne. Die kleine Asia­

tin legte die Hand auf den Mund gluckste vor Lachen. Man war sich bei Timothy LaHaye nie ganz sicher machte er Spaß? Meinte er ernst, was er tat und sagte? Die beiden jungen Frauen hatten sich irgendwann entschieden ihn als eine Art Nationalnarren zu betrachten, als einen Entertainer, der sich selbst rund um die Uhr die Zeit damit vertrieb, nichts und nie­ manden ernst zu nehmen. Seitdem hatten sie keine Schwierigkeiten mehr mit dem Exzentri­ ker. »Nimm auch du meinen allergnädigsten Pussi hin!« LaHaye umfasste den kleinen Kopf der Asiatin, behutsam als würde er eine Vase aus chinesischem Porzellan anheben, und küsste sie zärtlich auf beide Augen. Dann wirbelte er herum, tänzelte zurück zum Garderobenspie­ gel und hob in einer pathetischen Geste beide Arme. »Und nun lasset uns dem nationalen Höhepunkt der Woche entgegen gehen, einem der vier wichtigsten Ereignisse des Monats – ich spreche von Timmys MoonTalk am ersten Montag des Monats, ich spreche von Timmys MoonTalk am zweiten Montag des Monats, ich spreche von Timmys MoonTalk …« »Du hast fünf Gäste heute Abend«, sagte Kim Yong.

»Dann nenne sie mir! Wen darf ich heute Abend in der Radio City Music Hall begrüßen?« Es gehörte zum Konzept seiner Talkshow, Na­ men und Spleens der Gäste erst kurz vor Be­ ginn der Livesendung zu erfahren. Selten wich er davon ab. Alles andere, so pflegte er zu sa­ gen, »erwürgt meine Spontanität.« Kim frei­ lich und der Produzent der Sendung suchten die Menschen sorgfältig aus, die LaHaye jeden Montag zwei Stunden lang der Fernsehnation vorführte. Selten hatten sie eine Niete gezogen während der vier Jahre, in denen die Talkshow die Hitliste der amerikanischen Quotenbre­ cher anführte. Und wenn doch einmal ein Blindgänger durch ihren Filter fiel, verstand LaHaye auch aus dem noch etwas zu machen. »Da ist zunächst einmal Mary Stafford«, be­ gann Kim. »Seit zwei Jahren rennt sie den Be­ hörden von Anderson, Indiana die Türen ein, weil sie ihren Schäferhund heiraten möchte.« »Armes Mädchen«, sagte LaHaye mit weiner­ licher Stimme. »Bringt sie ihren Zukünftigen mit?« »Selbstverständlich. Dann haben wir William Baxter aus Lubbock, Texas, dreiundsechzigjah­ re alt, Milliardär, Hodenkrebs im Endstadiurn. Er sucht einen Mann, nicht älter als dreißig,

der eine hübsche Frau und ein paar Kinder hat. Baxter ist bereit, Frau und Kinder und alle Verwandten ersten Grades mit seinen Dollars zu beglücken, wenn der junge Mann im Gegen­ zug sich Baxters Hirn einpflanzen lässt …« »Genial!« LaHaye rieb sich die Hände. »Wäre doch gelacht, wenn wir da niemanden finden! Weiter!« »Mrs. Evelyn Moreno aus Lincoln, Nebraska. Sie ist Wahrsagerin …« »O nein!« LaHaye schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Müsst ihr mir das antun? Die Leute finden sich immer so wichtig! Was ist Besonders an ihr?« »Sie spricht jeden Tag mit Jesus.« »Halb Amerika tut das!« »Aber nicht am Telefon«, lächelte die Regis­ seurin. »Er ruft sie jeden Tag nach den NeunUhr-Nachrichten an.« LaHaye winkte ab. »Sie soll ihr Handy mit ins Studio nehmen. Weiter.« »Ein Gentleman, der uns seinen Namen nicht verraten will; wir sollen ihn Bruce Wayne nen­ nen. Er sucht jemanden, der bereit ist, ihn ge­ gen ein Honorar von tausendfünfhundert Dol­ lar zu erschießen.« Kim zuckte mit den

Schultern. »Seine Familie braucht die Lebens­ versicherungssumme.« »Hohes Risiko, schlechte Bezahlung.« Rozan­ ne stand in Unterwäsche vor der offenen Schrankwand und zwängte sich in ihre Biker­ hose. »Bescheuert!«, rief Timothy LaHaye. »Ein Versicherungsagent wird vor der Mattscheibe sitzen und ihn erkennen!« »Falsch, er kommt in einem Batman-Kostüm. Und wir haben noch einen Lustmörder. Er will, dass du ihn Donald nennst, und er will nur zwanzig Minuten bleiben. Wir haben einen Helikopter organisiert. Der wartet mit laufen­ den Rotoren auf dem Dach« »Genial! Absolut fett!« LaHaye klatschte in die Hände. »Na dann los! Auf in den Spaß!« Er tänzelte zur Tür. Die Klinke schon in der Hand, wirbelte er noch einmal herum. »Einen Tages­ gag brauche ich noch – irgendwas Aktuelles.« Erwartungsvoll wanderte sein Blick zwischen Rozanne und Kim hin und her. »Die Stadtverwaltung der Bronx will künftig von jedem fünfzig Dollar Strafe kassieren, der sich Ratten zum Mittagessen schießt«, sagte Rozanne trocken. »Selbst wenn er einen Waf­ fenschein hat.«

»Ordnung muss sein.« Er bleckte die Zähne und fixierte die Regisseurin. »Sag mir was, Baby. Komm, sag mir was.« »Hollywood hat dem Präsidenten letzte Wo­ che eine Hauptrolle angeboten. Sie wollen sein Leben verfilmen.« LaHaye lachte meckernd. »Eine Komödie, was? Der Terminator im Weißen Haus …« »Der Komet.« Rozanne streifte sich die Biker­ handschuhe über. LaHaye und die Regisseurin blickten sie fra­ gend an. »Zwei Schotten oder Iren oder was weiß ich was haben doch letzte Woche einen neuen Kometen entdeckt«, sagte die Masken­ bildnerin mit gelangweilter Stimme. »Ziemlich großes Ding. Soll nächstes Jahr in der Nähe vorbeirauschen.« Sie stülpte sich den Fahrrad­ helm auf ihr blaues Haar und schloss die Schranktür ab. »Komet? Warum nicht? Mal was Anderes. Dazu fällt mir was Hübsches ein.« Er warf sich in Pose. »Also los! Lassen wir unser schmach­ tendes Volk nicht länger warten!« Auf den Stufen der Vortreppe saßen Männer und spielten Karten oder würfelten. Aus einer Hofeinfahrt hörte man das Hämmern dumpfer Trommeln und einen dröhnenden Bass, dazu

vielstimmiges Gebrüll einer dieser neuen Afri­ cabands. Halbwüchsige hatten sich dort um einen alten Ghettoblaster versammelt. Gut zwanzig Jungen und Mädchen, schwarz wie alle hier. Einige tanzten unter dem Torbogen und auf dem Bürgersteig. Fast alle kreischten den kriegerischen Rap mit. Jungle-Hip-Hop, der neueste Trend. Frauen hockten am Bord­ steinrand zwischen den parkenden Wagen oder standen vor offenen Fenstern, tranken Wein und schnatterten. Kleine Kinder rannten auf der Straße herum und jagten einem Ball hinterher. An zwei oder drei Stellen am Stra­ ßenrand scharten sich Männer um ein umge­ stülptes Ölfass oder einen alten Barhocker. Schachbretter standen darauf. Schweigend beugten die Spieler ihre Köpfe darüber. Ir­ gendwo in einem Hauseingang spielte jemand Gitarre und sang einen Blues. Und nicht weit von der Stelle, wo Washington Roots sein Cab­ by in eine Parklücke rangierte, wurde schon der erste Standgrill entzündet. Frauen wickel­ ten Kartoffeln in Stanniolpapier und zwei Männer schleppten Eimer herbei. Einer war voller Fische, die sie tagsüber im nahen Har­ lem River gefangen hatten. Gerupfte und ge­ schlachtete Tauben füllten den zweiten Eimer. Die Kinder der Familien, die hier in der 129.

Straße zwischen Malcolm X Boulevard und 5th Avenue lebten, hatten die Vögel im Laufe des Tages in selbstgebastelte Fallen gelockt. Roots stieg aus und schlug die Wagentür hin­ ter sich zu. Er schloss sein Cabby nicht ab. Nie­ mand der hier wohnte, brauchte irgendetwas abzuschließen. Und Roots schon gar nicht. Er hätte sogar seine Geldtasche im offenen Wagen liegen lassen können. Köpfe hoben sich, Arme und Hände – von al­ len Seiten grüßten sie ihn. »Hi, Wash!« – »Nett dich zu sehen, Bruder.« – »Hey, Wash, wie gehts so?« – »Wie lief das Geschäft, Bruder?« und so weiter. Roots winkte zurück. »Muss hoch, lass mich später blicken, stellt mir ein Bier in den Kühl­ schrank.« Er lief um den Wagen herum auf den Bürger­ steig. Neben der Vortreppe lehnten zwei Frau­ en im offenen Fenster des Erdgeschoss-Apart­ ments, vier Frauen darunter. Sie lachten ihn an. Eine hielt ein Kleinkind im Arm, es krähte. Roots grüßte und lief die Vortreppe hinauf. Er liebte die Menschen in dieser Straße. Er liebte Harlem, hier war er aufgewachsen. Stimmengewirr im Treppenhaus, die Tür zum Hinterhof stand offen, kleine Mädchen saßen auf Mülltonnen oder hockten davor auf dem

Betonboden und beschmierten ihn mit Ölkrei­ de. Vier Treppen hoch ins zweite Oberge­ schoss. Die Tür zu seinem Apartment war an­ gelehnt. Er trat ein. Es roch nach Kohl und Zigarettenrauch. In der Küche saß Sarah am Tisch und lackier­ te sich die Fingernägel. Auf dem Gasherd stand ein großer Topf; der Deckel vibrierte und Dampfwölkchen stiegen an die Decke. »Hi, Mrs. Roots!« Er beugte sich zu der klei­ nen, zerbrechlich wirkenden Frau hinunter und küsste ihre schwarze Schulter. Sie schwieg, und er hatte nichts anderes erwartet. »Was gibt es zum Essen?« Er mimte den Launi­ gen, um die eigene innere Anspannung zu überspielen, und ging zum Herd. Mit einem Lappen hob er den Deckel vom Topf. Ein gelbli­ cher Sud brodelte darin und warf schaumige Blasen, um die Wirsingstücke, Kartoffelwürfel, Kümmelkörner und Möhrenscheiben tanzten. »Na prächtig.« Roots knallte den Deckel wie­ der auf den Topf. »Das ist doch besser als nichts. Wo sind die Kinder?« »Amoz spielt auf der Straße und Yassin sitzt vor der Glotze. Wir haben Besuch.« Roots zog die Brauen hoch. Er vermied es, ih­ ren Bauch anzuschauen. »Wer?«

»Watonga und Diego.« Endlich sah sie ihn an. Ihr Blick war eine einzige Frage. Sie fragte aber nichts. Sie sagte: »Ich habe einen Ter­ min.« »Was für einen Termin?« Sie senkte den Blick und beschäftigte sich wieder mit ihren Nägeln. »Ich war beim Frau­ enarzt. Ein Junge.« »Wie vielte Woche?« Roots stützte sich ihr ge­ genüber auf den Tisch. »Am achtundzwanzigsten Februar käme es zur Welt.« Der kleine Nagellackpinsel in ihrer Linken schlug plötzlich aus; ein rosefarbener Strich zog sich über das Nagelbett ihres Zeige­ fingers hinaus fast bis zum Gelenk des ersten Fingerglieds. »Wieso ›käme‹?« »Ich habe einen Termin.« »Was für einen Termin, zum Teufel?« Roots wurde laut. Er beugte sich weit über den Tisch. »Um es wegmachen zu lassen …« Tapfer be­ pinselte sie sich den Nagel mit dem rosa Lack. Ihre Hände zitterten. »Niemand wird hier weggemacht«, sagte Roots bestimmt. »Aber Wash! Wir haben kein Geld!« Hilflos blickte sie ihn an. »Meine Sache«, blaffte er.

»Das schaffst du nicht! Du wirst mich verlas­ sen …« Er griff in ihr Kraushaar und zog ihren Kopf zu sich heran. »Ich bin Washington Roots«, sagte er leise. »Ich sage: Ich will das Kind. Und ich sage: Ich schaffe es. Es gibt immer einen Weg, immer.« Er ließ sie los und lief mit großen Schritten zur Wohnzimmertür des Zweizimmer-Apart­ ments. Sarah hatte es gemietet, während er im Gefängnis saß. Vier Jahre hatten sie ihm nach Ende der Religionskriege aufgebrummt. We­ gen Unterstützung einer kriminellen Vereini­ gung. Vor zwei Jahren war er im Rahmen einer Generalamnestie entlassen worden. Sarah hat­ te mit zwei kleinen Kindern auf ihn gewartet. Im Wohnzimmer saßen Diego und Watonga auf der zerschlissenen Couch vor dem Ess­ tisch. Diego rauchte und trank Whisky. Vor Watonga stand ein Becher Kaffee. Yassin hock­ te auf dem Teppich, keine drei Schritte vor dem TV-Gerät. Der Vorspann einer Talkshow flimmerte über die Mattscheibe: »MoonTalk«. Ein Mann im silbrig schimmernden Frack und mit langen blonden Rastalocken verbeugte sich. Musik und Applaus waren zu hören. »Hi, Wash« sagte Diego. Watonga nickte zur Begrüßung. Roots küsste seine Tochter, die wie

in Trance auf den Bildschirm starrte, und setz­ te sich dann zu den beiden Männern an den runden Tisch. Diego, ein kleiner stämmiger Puertoricaner von etwa 38 Jahren lebte in der südlichen Bronx. Er hielt seine große Familie mit einer Autowerkstatt über Wasser und war Vorsitzen­ der einer Bürgerinitiative, die die chaotischen Lebensumstände in der Bronx so gut es ging zu managen versuchte. Watonga, ein alter Freund von Roots’ Vater, hatte seinen inoffiziellen Wohnsitz in einer Blockhütte in den Rocky Mountains von Wyoming. Er gehörte zum Stamm der Dakota und hatte gutes Geld mit Survival-Trainings für Manager verdient. Zwei bis drei Monate im Jahr hielt er sich in New York City auf, weil viele seiner Freunde hier lebten. »Sie wollen das ganze Viertel platt machen. Hast du es schon gehört, Wash?« Diegos ver­ narbtes Gesicht hatte die Farbe feuchten Lehms; ein zorniger Zug lag um seinen breiten Mund und sein Silberblick wirkte etwas trübe, wie meistens. Diego trank viel zuviel. Roots nickte langsam. Über den Krauskopf der siebenjährigen Yassin hinweg blickte er auf die Mattscheibe. Das Stichwort »Komet« ließ ihn aufhorchen. »… Besuch aus dem

Weltall, Ladies und Gentlemen! Ein Eisbro­ cken, versprüht eine Menge Staub, der hübsch aufleuchtet, wenn ihn die Sonne anstrahlt. ›Christopher-Floyd‹ heißt der Besucher, hat es in Nullkommanix auf die Titelseiten der Zei­ tungen geschafft und – man mag es kaum glauben – in die beliebteste Talkshow der Ver­ einigten Staaten …« Applaus brandete auf. Der Mann auf dem Bildschirm ruderte mit den Ar­ men und schnitt einige Grimassen, die Yassin zum Lachen brachten. Natürlich kannte Roots die LaHayes Talkshow; fast jeder in der Straße kannte sie. »… welch ein Trost, Ladies und Gentlemen, wir sind nicht die Einzigen im Universum, die sich wichtig machen …« Applaus und Gelächter. »Was ist ein Komet, Dad?«, piepste Yassin ohne den Blick von der Mattscheibe zu wen­ den. »Ein vereister Dreckklumpen«, sagte Roots. »Er fliegt durchs Weltall und sieht ein bisschen aus wie ein bengalisches Feuer.« »Wie groß?« »Vielleicht wie Manhattan, nur höher.« »Wow! Wenn der vom Himmel fällt!« Jetzt drehte Yassin sich herum; der Schreck stand ihr ins Gesichtchen geschrieben.

Washington Roots schüttelte den Kopf. »Tut er nicht. Kometen sind ganz ungefährlich.« »… von unserem Gast aus den Tiefen des Weltalls nun aber zu den Gästen aus den Un­ tiefen unseres paradiesischen Landes …« Der aufgedrehte Gigolo im Silberfrack tänzelte zu einer Sitzgruppe, wo zwei Männer, zwei Frau­ en, ein Hund und eine Gestalt im Batman-Ko­ stüm saßen. Neben einem schmächtigen Glatz­ kopf mit Hornbrille und zerknittertem Anzug ließ er sich in den Sessel fallen. »Darf ich vor­ stellen: Donald, von Beruf Lustmörder …« Wieder Applaus. »Bevor ich etwas Falsches in die Welt setze, Donald, ist das mehr ein Beruf oder ein Hobby …?« »Raus mit dir, Yassin!«, sagte Roots. »Was ist ein Lustmörder, Dad?« »Ein vereister Dreckklumpen, der aussieht wie ein Mensch«, knurrte Diego. »Viel gefährli­ cher als ein Komet.« Washington Roots stand auf und bückte sich zu seiner Tochter hinab, um ihr die Fernbedie­ nung aus der Hand zu nehmen. Yassin hielt sie fest, und sie kämpften darum. Schließlich er­ oberte Roots das Gerät und das Allerweltsge­ sicht des Mannes, der auf dem Bildschirm ge­ rade seine zwanghaften Mord-Fantasien schilderte, löste sich auf, während seine Stim­

me verstummte. »Los, geh hinunter auf die Straße und such Amoz. Wir essen gleich.« Roots schob seine Tochter zur Tür hinaus. »Scheißkerl!«, knurrte Diego. Er leerte sein Whiskyglas. »LaHaye ist der Scheißkerl«, sagte Roots. »Gibt solchen Wahnsinnigen die Gelegenheit den ganzen Dreck auszubreiten, den sie im Hirn haben, und zahlt ihnen auch noch eine Gage dafür. Pervers.« »Passt zu dieser Stadt.« Zum ersten Mal mel­ dete sich die tiefe raue Stimme Watongas zu Wort. Washington Roots setzte sich wieder an den Tisch zu seinen Freunden. »Wann sollen die Bauarbeiten beginnen?« »Ende nächsten Jahres«, zischte Diego. »Das heißt: In ein paar Monaten rücken sie uns mit Dynamit und Planierraupen auf den Hals. Sie wollen uns irgendwo im nördlichen HudsonTal ansiedeln. Oder auf stadteigene Wohnungen in der East Village und der Lower East Side verteilen. Übermorgen sprechen wir mit einem Vertreter der Stadtregierung.« »Sorg dafür, dass die Sache in allen Zeitungen steht. Ihr müsst jetzt schon den Widerstand or­ ganisieren …«

»Sie werden uns platt machen!«, unterbrach Diego. »Seit dem Ende des Ausnahmezustands lauert doch die Nationalgarde mit Argusaugen auf Harlem und die Bronx.« »Ihr stellt die Weichen«, mischte Watonga sich ein. »Ihr geht oder ihr kämpft – entschei­ det euch.« Burt verwünschte den Zufall, der ihn ausge­ rechnet in das Cabby dieses Fahrers geführt hatte. Warum hatte er Macy’s nicht zwei Minu­ ten früher verlassen können? Oder zwei Minu­ ten später? Die Begegnung mit dem Afroameri­ kaner hatte seine Feierabendstimmung verdorben. Seiner Familie gegenüber ließ Burt sich nichts anmerken. Er lobte Leas Lammbraten, lobte frittierte Kartöffelchen, Rosenkohl und das Va­ nilleeis mit der heißen Himbeersoße. Geduldig hörte er seinen Kindern zu, die ihre letzten Fe­ rientage am Strand von Coney Island verbrach­ ten und wie immer eine Menge zu erzählen hatten. Burt besaß die Gabe, das freundlichste Ge­ sicht zu machen, selbst wenn der Ärger an sei­ nen Eingeweiden nagte. Lea berichtete von ihrem Vormittag in SoHo, wo sie eine kleine Galerie hatte. In allen Ein­

zelheiten schilderte sie das Gespräch mit ei­ nem Nachtclubbesitzer, dem sie in den nächs­ ten Tagen ein paar Bilder zu verkaufen hoffte. Sie erzählte von Telefonaten mit gemeinsamen Freunden und Bekannten, von ihrer Arbeit an ihrem neuen Artikel – Lea schrieb Kolumnen für eine Frauenzeitschrift und von den Bü­ chern, in die sie sich zu diesem Zweck einar­ beiten musste. Burt nickte, Burt fragte nach, Burt machte ein aufmerksames, freundliches Gesicht. Irgendwo aus seinen Hirnwindungen funkte ihm ständig die gallige Stimme des Mannes dazwischen. Und wenn sein Blick sei­ nen zwölfjährigen Sohn Dennis und seine zehnjährige Tochter Patricia streifte, waren da plötzlich unappetitliche Bilder vor seinem in­ neren Auge: Kinder in schmierigen Kleidern, die sich in Hinterhöfen und an Straßenrän­ dern um Mülltonnen drängten … Nach dem Essen verschwanden Dennis und Patricia im Wohnzimmer. Kurz darauf hörte Burt Stimmen aus dem Fernsehgerät. Und Lea hatte sich warm geredet, »… sie hat­ ten zwei Kalendersysteme …«. Sie sprach von den Maya. »Den Sonnenkalender Haab mit dreihundertfünfundsechzig Tagen und einen rituellen Kalender, den Tzolkin mit zweihun­ dertsechzig Tagen …«

Burt dachte an die bevorstehenden Gespräche mit den Leuten aus der Bronx. Er versuchte sich vorzustellen, wie er sich verhalten würde, wenn er mit Männern an einem Tisch sitzen musste, die ähnlich gestrickt waren wie dieser Taxifahrer. »… jeder der zwanzig Tzolkin-Tage wurde von einem anderen Gott regiert, und jeder der neunzehn Haab-Monate ebenfalls. Gute Götter, böse Götter – beide Kalender waren miteinan­ der verzahnt wie das Räderwerk einer Uhr …« Wie meistens gestikulierte sie aufgeregt, wäh­ rend sie sprach. Burt liebte ihre lebendige Kör­ persprache. »An jedem Tag jedes Monats also trafen die verschiedensten Götter zusammen, sie harmo­ nierten oder sie kriegten sich in die Haare, und je nachdem prophezeiten die Kalenderpriester der Maya für jeden Tag Unglück oder Glück, Tod oder Gesundheit, Krieg oder Frieden, das musst du dir einmal vorstellen …« Wir haben keinen Verhandlungsspielraum, dachte Burt, nicht die Spur. Die verrotteten Ruinen müssen weg … »… die Leute lebten in ständiger Bedrohung, sie hatten immer Angst – und nun kommt der Hammer …«

Die Hochhäuser müssen gebaut werden, wir brauchen Platz … »… die dritte Kalenderzählung war so eine Art System, um Jahre und Tage zu zählen. Sie be­ ginnt ziemlich genau vor fünftausendzweihun­ dert Jahren …« »Was haben eigentlich die Maya mit deinem Artikel zu tun?«, unterbrach Burt seine Frau. »Ich dachte immer, du schreibst für ein Frau­ enmagazin.« »Du weißt doch, dass die Zeitung esoterisch angehaucht ist.« Lea machte ein vorwurfsvol­ les Gesicht. »Ich schreibe über die verschiede­ nen Phasen im Leben einer Frau aus astrologi­ scher Sicht. Also, hör zu – der dritte Kalender der Maya, die so genannte große Zählung, be­ ginnt mit der Erschaffung des dritten Univer­ sums. Die Maya glaubten nämlich, die Schöp­ fung würde in regelmäßigen Abständen untergehen und neu entstehen. Die große Zäh­ lung umfasst fünftausendzweihundert Jahre bis zum Ende der vierten Schöpfung. Und wann, glaubst du, gehen diese fünftau­ sendzweihundert Jahre zu Ende?« Lea richtete sich auf, ihre Augen leuchteten. Sie sah Burt mit der Miene eines Menschen an, der es ge­ nießt, eine Neuigkeit als Erster erfahren zu ha­ ben.

Burt dachte gerade daran, dass es Spaß ma­ chen müsste, sein Geld mit einer kleinen Kunstgalerie und sporadischen Artikeln für eine Frauenzeitschrift zu verdienen. Er zuckte mit den Schultern. »Du wirst es mir sicher gleich verraten.« »Im Jahre zweitausendzwölf«, verkündete Lea. Die Tür zum Wohnzimmer ging auf; Patricias blonder Lockenkopf erschien im Türrahmen. »Mum, Dad! Da ist eine Frau im Fernsehen, die lässt sich von ihrem Hund ficken …!« Das triumphierende Lächeln fiel Lea aus dem Gesicht, Burt sprang auf. »Patricia!«, sagte er streng. »Solche schlechten Worte will ich von dir nie wieder hören! Hat etwa Dennis dir das beigebracht?« Er lief zur Wohnzimmertür. »Nicht Dennis«, sagte das Mädchen verstört. »Der Mann im Fernsehen …« Burt stürmte ins Wohnzimmer. »Was guckt ihr denn da überhaupt?« »Timmys Moontalk«, sagte Dennis trocken. Eine korpulente Frau, die einen Hund liebkos­ te, flimmerte über die Mattscheibe. Aus dem Publikum drang donnernder Applaus und der Fernsehmoderator der Lifeshow wünschte den beiden »Alles Glück dieser Welt«.

Burt kannte die Show. Er sah sie sich selbst manchmal an, obwohl er den Moderator nicht mochte. Er hielt LaHaye für einen oberflächli­ chen Gecken, der vor nichts und Niemandem Respekt hatte, nicht einmal vor den heiligsten Werten der Menschheit. Umständlich suchte er nach Worten, um sei­ nen beiden Kindern den Begriff »Sodomie« auf eine Weise zu umschreiben, der ihre kindliche Phantasie nicht allzu sehr belastete und sie doch gleichzeitig einigermaßen aufklärte. Das fiel ihm nicht ganz leicht, zumal er mit halbem Ohr und einem Auge bei der Sendung war. Ein krebskranker Mann erregte seine Auf­ merksamkeit. Ein Milliardär, der sein Gehirn in einen gesunden Körper verpflanzen lassen wollte. Er benutzte seinen Auftritt in der Talks­ how, um einen Körperspender zu finden. »Ein Hoch auf die Medizin!«, krähte der Mo­ derator. »Ein Hoch auf die Mikrochips der neuesten Generation, ein Hoch auf unsere mit allem kompatiblen Nervenzellen!« Seine hohe Stimme bewegte sich immer an der Grenze zum Spott. »Wer also will seinen gebrechli­ chen Eltern, seiner liebenden Gattin, seinen hungernden Kindern, seinem arbeitslosen Bruder, seiner zickigen Schwester ein sorgen­ freies Leben verschaffen?« Er hob mahnend

den Zeigefinger und schnitt eine unglaubhaft ernste Miene. »Denken Sie gründlich darüber nach – die Entscheidung kann Sie gewisserma­ ßen Ihren Kopf kosten. Aber was sind schon lä­ cherliche dreizehnhundert Gramm Hirn …« Kopfschüttelnd verließ Burt das Wohnzim­ mer. Im Esszimmer räumte Lea den Tisch ab. »Du hast mir gar nicht richtig zugehört, stimmts?« »Doch«, sagte Burt, »nein.« In einer Geste der Entschuldigung breitete er die Arme aus. »Ent­ schuldige, Darling – mir geht so viel im Kopf herum. Ich habe einfach andere Sorgen als den Kalender der Maya …« Stockholm, 30. August 2011 Es war drei Uhr nachts. Beryl Nordström saß am Schreibtisch ihres Arbeitszimmers. Sie konnte nicht schlafen. Nicht so sehr wegen des Amerikaners, den sie in Malmö kennen gelernt hatte. Drei Tage entfesselte Leidenschaft bis zur Besinnungslosigkeit. Und prompt hatte sie sich wieder verliebt. Nein, der Brief war es, der ihr den Schlaf raubte. Der Brief, der zwischen Weinflasche und Aschenbecher vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Am Nachmittag, als sie in ihr Apartment zurückgekehrt war, hatte sie ihn gefunden. Ihre Stimmung, knapp nach der

abrupten Trennung von dem Amerikaner so­ wieso schon im Keller, sackte endgültig auf den Nullpunkt, nachdem sie ihn gelesen hatte. Es war einer von diesen Briefen, wie sie schwedische Intellektuelle, Kommunalpoliti­ ker, Theologen oder Journalisten seit zwanzig Jahren öfters in ihren Briefkästen fanden. In den vergangenen sechs Monaten wieder häufi­ ger. Anonyme Briefe. Einige Empfänger waren inzwischen eines unnatürlichen Todes gestor­ ben. Beryl zog die vorletzte Nil aus der Zigaretten­ schachtel und zündete sie an. Wieder nahm sie den Brief und las, wohl zum hundertsten Mal, seitdem sie das Kuvert geöffnet hatte. »Unsere Geduld ist zu Ende. Du wirst nie mehr über Dinge schreiben, von denen du nichts ver­ stehst …« Beryl hatte zwei Artikel über die rechte Mu­ sikszene geschrieben. Dort tummelten sich in Schweden gewaltbe­ reite Extremisten, die nicht nur Gefallen an Black Metal fanden, sondern auch an Satanis­ mus, rassistischen Ideen und nordischer Pri­ mitivmythologie, alles verrührt zu einer blut­ rünstigen Weltherrschafts-Ideologie. Diese Leute hatten Kirchen angezündet, Brandsätze

in Redaktionsbüros geworfen und Pfarrer und Künstler ermordet. »Du bekommst keine Chance mehr, dazuzu­ lernen. Darum höre unser Urteil: Tod durch den Stahl. Schlampen wie du sind es nicht wert, auf Wotans Erde zu Üben. Lokis Krie­ ger.« Beryl hatte sofort die Polizei angerufen. Und ihre Redaktion. Und zwei äußerst hilfreiche Empfehlungen gehört: Von der Polizei, einen Antrag auf Per­ sonenschutz zu stellen, und von ihrem Chef, ihren restlichen Jahresurlaub zu nehmen und für drei Wochen außer Landes zu gehen. Drei Wochen Aufschub, bevor die große Angst beginnt, dachte Beryl bitter. Drei Wo­ chen Berlin vielleicht … Ihr Blick fiel wieder auf den verfluchten Brief. »Tod durch den Stahl« – Beryl wusste, was das bedeutete. Es bedeutete schlicht eine durchgeschnittene Kehle. Karlskrona, Schweden, 30. August 2011 Matt war betrunken. Die Whiskyflasche, die er sich in Kopenhagen gekauft hatte, stand halb leer neben ihm auf dem Nachttisch. Whis­ ky gegen das Karussell im Kopf, Whisky gegen den Ekel vor sich selbst. Wirkungslos. Das Glas

in der Hand, lag er angezogen auf dem Bett. Es war früher Morgen, nach halb vier; an Schlaf war nicht zu denken. Den ganzen Tag hatte er hinter dem Steuer verbracht, war an der Küste entlang gefahren, meistens zu schnell, wie einer, der auf der Flucht ist. Es war schon dunkel gewesen, als er in Karlskrona ankam. Mit viel Glück hatte er noch ein Hotelzimmer erwischt. Und nicht das Schlechteste. Vom großen Fenster aus sah man die Positionsleuchten der Schiffe, Leuchttürme und ferne Lichter; einzelne Gebäude auf den vielen Inseln vor der Küste. Während der Whiskyspiegel in der Flasche allmählich sank, zappte Matt sich durch alle achtundachtzig Programme, die der Fernseh­ apparat in seinem Hotelzimmer zu bieten hat­ te. Von 1 bis 88 und von 88 bis 1. Bei einer Talkshow von CBS blieb er hängen. Vielleicht weil ihn das Gefühl von Heimat an­ rührte, als er den Sender aus den Staaten erwi­ schte, vielleicht weil er sich plötzlich erinnerte, die Talkshow dieses Exoten mit den blonden Rastalocken das letzte Mal gemeinsam zusam­ men mit Liz gesehen zu haben. Ende vergangenen Jahres, in Riverside, als er seinen Weihnachtsurlaub zu Hause verbrach­ te.

Der Moderator saß neben einer Frau mit ei­ nem schwarzen Haarturm und in einem lan­ gen roten Kleid. Die Frau telefonierte, und der Moderator grinste in die Kamera. Die Frau am Telefon sprach kaum etwas, sie nickte nur ständig. Ihr unsichtbarer Gesprächspartner schien ein Vielredner zu sein. »Und?«, sagte der Moderator, als sie endlich die Verbindung unterbrochen hatte. »Was hat der Herr Jesus gesagt?« »Dass es Unrecht ist, Mörder und Selbst­ mordkandidaten in so einer Sendung auftreten zu lassen.« Der stechende Blick der Frau fixier­ te den Moderator. Der tat sehr betroffen und nickte. »Und Menschen, die mit ihren Hunden …« Die Frau unterbrach sich und schnitt eine angewiderte Grimasse. »Hat die Regie das gehört?«, rief der Mann im Silberfrack über die Schulter. »Schreibt euch das hinter die Ohren!« Er wandte sich wieder der Frau zu. »Und sonst hat er nichts gesagt?« »O doch.« Die Frau nickte würdevoll. Sie blickte in die Kamera und hob die Stimme. »Er hat gesagt, dass er bald wiederkommt!«, rief sie. »Oh! Welch berauschende Neuigkeit!« Der Moderator mimte den Pathetischen. »Aber halt

– sagte das nicht schon jemand vor knapp zweitausend Jahren?« »Jetzt aber ist es so weit«, verkündete die Frau im Brustton der Überzeugung. »Nächstes Jahr wird er kommen!« »Uff!«, stöhnte der Moderator mit aufgeblase­ nen Wangen. Als wäre er geschockt, ließ er sich tief in seinen Sessel sinken. »Gut, dass man das noch rechtzeitig erfährt!«, rief er. Er zückte seinen Kalender und wollte von der Frau den genauen Tag der Wiederkunft Christi erfahren. Sie versprach Jesus danach zu fra­ gen, wenn er sie das nächste Mal anrufen wür­ de. Der Moderator bat ihm auszurichten, er möge an einem Montag kommen, um in seiner Show aufzutreten. Aus dem Publikum Geläch­ ter und Applaus. »Hohler Schwätzer«, brummte Matt. Er zapp­ te den Sender weg. Ein paar Minuten verweilte er bei einer Mu­ siksendung – Hip-Hop der Neunziger Jahre –, betrachtete sich eine schwedische Nachrich­ tensprecherin, die ihn an Beryl erinnerte, ließ Bilder eines russischen Zeichentrickfilms an sich vorbei rauschen, Bilder einer italieni­ schen Oper, Bilder eines französischen Ko­ stümfilms, aktuelle Börsendaten, Wetterkar­ ten, Tabellen europäischer Fußball-Liegen,

Pornoszenen und so weiter. Zwischendurch Whisky. Die Bilder zogen spurlos vorbei, die Wirkung des Whiskys blieb. Und das Gefühl des Ekels. Irgendwann kam wieder die Talkshow an die Reihe. In Großauf­ nahme war ein Mann im Fledermauskostüm zu sehen. »Wer ist bereit, Mister Wayne zu er­ schießen?«, krähte der Moderator in die Ka­ mera. »Tausendfünfhundert Dollar Beloh­ nung!« Durch den Whiskynebel hindurch bekam Matt mit, dass der Vermummte ein Kopfgeld ausgesetzt hatte – auf seinen eigenen Kopf. Ein Selbstmordkandidat … »Idiot«, murmelte Matt, und gleichzeitig kam der Gedanke: Mach so weiter, dann bist du auch bald an dem Punkt … Er schaltete das Fernsehgerät aus. Flieh bis nach Hammerfest, flüchte dich in Sex mit wildfremden Frauen, dröhn dich mit noch so vielen Flaschen Whis­ ky zu – dein Leben nimmst du überall hin mit … Eine Kugel ist wenigstens eine ehrliche Lö­ sung … Er stellte das Glas auf den Nachttisch und schwang sich aus dem Bett. Vor dem offenen Fenster sog er die kühle Nachtluft ein. Der Ne­ bel in seinem Kopf lichtete sich. Aber keine Lö­

sung für mich … Er lauschte der Brandung und beobachtete die Positionslichter eines Schiffes, das auf dem Meer zwischen den der vorgela­ gerten Inseln bewegte. Ich will nämlich leben, weiter nichts als leben, und wenn Liz meint, sie kann das ohne mich, dann muss ich es eben auch probieren. Es ist, wie es ist … Er beschloss, am nächsten Tag eine Boots­ fahrt zu einer der Inseln vor Karlskrona zu un­ ternehmen. Und er beschloss, Major Bellmann anzurufen um ihm zu sagen, dass er nun genug Urlaub gemacht hatte. Cambridge, Massachusetts, 31. August 2011 Professor Dr. Jacob Smythe stellte seinen Tel­ ler mit dem angebissenen Hühnerfleisch-Sand­ wich auf Garfields Pult. »Und? Was sagen die Spanier?« Garfield blickte auf seinen Monitor, überflog die E-mail vom Calar Alto und klickte das Dru­ cker-Icon an. Der Drucker auf der linken Seite des Tischs spuckte ein Blatt Papier aus. Smy­ the riss es aus dem Ausgabeschacht. Halb mur­ melnd las er die Daten. »Neigungswinkel 12° 8’… Perihelwinkel 76°… aktiver Oberflächen­ anteil 12 Prozent … Schweiflänge 9 Millionen Kilometer … Entfernung 1.163.747.560 Kilome­ ter …« Er riss die Rechte mit dem Blatt Papier

hoch. »Stimmt mit unseren Berechnungen überein!« Vor eineinhalb Stunden, gegen ein­ undzwanzig Uhr, hatte er die aktuellsten Be­ rechnungen seines Observatoriums an die meisten großen Sternwarten der Welt gemailt. Auch dem Weißen Haus hatte er eine Email ge­ schickt. Seit einer halben Stunde gingen die Bestätigungen ein. »Auch nach den Messungen der Spanier liegt das Perihel des verdammten Dings auf der Erdbahn!«, rief er triumphie­ rend. »Die Wahrscheinlichkeit einer Kollision geben sie mit 48,6 Prozent an!« Grimmig blickte er auf die Projektionsfläche, wo im Gefunkel der Sterne der Lichtfleck des Kometen über dem östlichen Horizont zu er­ kennen war. Irgendwo läutete ein Telefon. Dann Christine Perlmans Stimme: »Das Weiße Haus!« Smythe marschierte zu ihrem Arbeitsplatz. Die Astronomin presste die Hand auf den Sprechteil des Telefons. Mit großen Augen blickte sie ihm entgegen. »Es ist der Präsident, Sir.« Smythe knallte seine Teetasse auf ihr Pult. »Her mit ihm!« Er riss ihr das Telefon aus der Hand. »Smythe hier!«

»Guten Abend, Doktor Smythe. Wir haben Ihre Mail erhalten und analysiert. Sind Sie si­ cher, dass Ihre Berechnungen stimmen?« Der steierische Akzent ließ keinen Zweifel daran, wer in der Leitung war. »Alle fünf Minuten mailt mir irgendein Ob­ servatorium die Bestätigung unserer Berech­ nungen, Sir. Die meisten Daten differieren nur um ein paar Kommastellen.« Smythe zog seine gewohnten Kreise kreuz und quer durch die Zentrale und gestikulierte, während er sprach. »Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, Mister President – aber der sonnennächste Punkt, den der kosmische Vagabund durch­ queren wird, liegt verteufelt nah an der Erd­ umlaufbahn, und zwar an einer Stelle, die un­ ser Planet Anfang Februar erreichen wird …« »Wie nah?« »Im Augenblick neun Komma acht sieben Millionen Kilometer …« »Im Augenblick?« »Das ist mein Problem, Mister President – der verdammte Brocken ist noch etwas mehr als eine Milliarde Kilometer von der Erde ent­ fernt, aber seine Bahn verändert sich von Stunde zu Stunde. Das bereitet mir gehöriges Kopfzerbrechen …«

»Woran liegt das?« Die Stimme des Präsiden­ ten klang ruhig und entspannt. »Gravitationsfelder«, krähte Smythe ins Tele­ fon. »Und die Gasfontänen, die aus seinem In­ neren schießen. Das bewirkt natürlich einen gewissen Jet-Effekt, wie wir das nennen. Aber so extrem haben wir das noch bei keinem Ko­ meten erlebt. Die Sache will mir nicht gefallen. Ich würde im Augenblick von einer Wahr­ scheinlichkeit von grob geschätzt fünfzig Pro­ zent ausgehen, dass der Komet mit der Erde kollidiert. Wir sollten auf alle Fälle gewappnet sein und eine Sonde …« »Doktor Smythe«, unterbrach der Präsident. »Ich sitze gerade in einer Telefonkonferenz mit dem Verteidigungsminister und den leiten­ den Offizieren des Pentagon. Wir haben eben über Ihre besorgniserregenden Daten disku­ tiert und beschlossen, eine Sonderabteilung der Air Force ins Leben zu rufen. Die Astrono­ mical-Division. Ich hätte gern, dass Sie die Lei­ tung dieser Abteilung übernehmen …« Jamaika, Harbour View, 30. August 2011 Die Nachmittagssonne stand über dem Meer. Menschen tummelten sich zwischen den Pal­ men unten am Strand. Archer Floyd und Sue Bertram saßen auf der Terrasse des Hotels.

Sue stand von ihrem Stuhl auf und setzte sich zu Floyd in die Hollywoodschaukel. So nah rückte sie, dass er die Wärme ihrer Schenkel an seinen spürte. Archer Floyd hatte einfach keine Erfahrung mit so etwas. Aus dem Nachbarzimmer hörte er manchmal Christophers Stimme. Und immer häufiger Vi­ vians Stimme. Trotz des geschlossenen Fens­ ters und trotz der geschlossenen Terrassentür. Christopher dozierte nicht – so konnte man das wirklich nicht nennen. Er tat etwas, was eher untypisch für ihn war: Er stieß unartiku­ lierte Rufe aus, als würde er ein Spiel von Man­ chester United, seinem Lieblingsclub verfol­ gen. Und die Geräusche, die Vivian von sich gab, waren noch eindeutiger. Sie stöhnte. Wie gesagt – Floyd hatte keine Erfahrung mit derartigen Situationen. Er hatte seine Frau noch nie betrogen. Nicht, dass er niemals dar­ an gedacht hatte. Das schon, wer tat das nicht? Aber den kleinen Schritt vom Gedanken zur Ausführung hatte er nie gewagt. Vielleicht aus mangelnder Gelegenheit, viel­ leicht aus mangelndem Mut. Oder einfach weil ihn sein Hobby, die Astronomie zu sehr be­ schlagnahmte. Jetzt aber konnte von mangeln­ der Gelegenheit keine Rede sein. Jetzt lag sein neues Meade-Teleskop verpackt zwischen

Schrank und Bett im Zimmer hinter ihm. Jetzt kam es nur auf seinen Mut oder aber auf seine Prinzipienfestigkeit an. Denn Sue – so naiv sie auch sein mochte – schien sehr praktische Vorstellungen davon zu haben, wie und wo sie den Rest des Tages zu verbringen gedachte. Sie legte den Arm um ihn und bettete ihren Kopf gegen seine Schulter. Durch die offene Glastür seines Zimmers hinter ihnen drang das Läuten des Telefons. Floyd atmete auf. »Sorry.« Er stand auf und flüchtete von der Terrasse. Seine Frau war am Apparat. »Louis hat mich eben angerufen.« Esthers Stimme klang beunruhigend. »Dein Komet – er kommt der Erde gefährlich nahe …« Louis Garfield, einer von Floyds vielen Freun­ den aus der internationalen Astronomencli­ que, arbeitete am Smithsonian in Cambridge, Massachusetts. »Wie nah?« »Er sprach von neun Millionen Kilometer. Du sollst ihn anrufen.« Sie verabschiedeten sich, und Floyd rief in Cambridge an. Knapp zwölf Minuten später wusste er, dass der Neigungswinkel der Kome­ tenbahn sich ständig verringerte und dass sein Perihel auf der Erdbahn lag. Und er erfuhr,

dass man in Cambridge eine Kollision mit der Erde nicht mehr ausschließen wollte … Seine Knie waren steif, als er zurück auf die Terrasse ging. Neben der Hollywoodschaukel blieb er stehen und blickte hinunter zum Strand. Was er eben gehört hatte, schwirrte ihm als Gewirr von Zahlen und Chiffren durch den Kopf. Nichts davon erreichte sein Gefühl. Ebenso gut hätte Garfield ihm Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Metro einer x-beliebigen UBahnstation in Tokio nennen können. »Ist was passiert?«, fragte Sue mit ihrer piep­ sigen Stimme. »Noch nicht.« Floyd zog die Sektflasche aus dem Eiskübel und füllte sein Glas. Er nahm es in die Hand und trat vor die Terrassentür, die zu Marc Christophers Hotelzimmer führte. Er klopfte an die Glasscheibe, zweimal, dreimal. Endlich knarrte das Bett jemand schlurfte durchs dunkle Zimmer, der Vorhang wurde zurückgezogen und die Glastür öffnete sich. Marc Christopher, in ein Leinentuch gehüllt, sah ihn missmutig an. Floyd drückte ihm das Sektglas in die Hand. »Was soll das?«, knurrte Christopher. »Gratuliere«, sagte Floyd. »Es besteht eine ge­ wisse Wahrscheinlichkeit, dass du deine Schweißfüße los wirst …«

(Willst du leben?) Von allen Seiten brandeten Bilder in seinen Geist – Bilder voller Lust und Verlangen, Bil­ der voller Sehnsucht und Gier. Er sah Daa ‘muren, die sich die köstlichsten Speisen in den Schnabelschlund stopften. Er sah Daa’muren, die sich in dampfenden Seen rä­ kelten, die sich paarten, die durch Lavaströ­ me pflügten. Etwas wie vielstimmiges Geläch­ ter perlte durch ihn hindurch, etwas wie ein ungeheures Ja. Allein von Liob ‘lan ‘taraasis erreichte ihn weiter nichts als eine verschwommene Vor­ stellung. Nebelschwaden waren zu sehen. Und dahinter, undeutlich, die Konturen eines Me­ thaneisgebirges. Der Ort, an den man sich zu­ rückzog, um zu erlöschen … (Ich habe dich etwas gefragt, Lan von der Liob-Symbiose!) Kraftvoll stießen seine Ge­ danken in sie hinein. (Willst du leben? Willst du mit Sol’daa’muran tanzen?) (Warum erzählst du mir nicht von dem Ziel?) Er spürte den Trotz, den Vorwurf in ihren Ge­ dankenströmen. (Ich spreche vom Ziel, Liob’lan’taraasis – aber du fühlst es kaum noch. Weil du zurück blickst.) So nah wie möglich tastete er sich an sie heran. Wie kalt sie schon war!

(Dann hilf mir, Est’sil’bowaan), wisperte es aus ihrer schwachen Aura. (Erzähl mir vom Ziel …) Noch einmal hob er an. (Willst du leben, Liob’lan’taraasis? Willst du dich von Sol’daa’muran bewegen lassen …?) Und wie­ der stiegen aus den Lebens-Auren seiner Um­ gebung herrliche Bilder auf und senkten sich auf sie herab …

2. Irgendwann, irgendwo In Aruulas Erinnerung war es nur ein Augen­ blick. Vielleicht die Zeit, die man benötigt, um auszuatmen und die Luft erneut in die Lungen strömen zu lassen. Länger dauerte es nicht: Erst das Sirren irgendwo aus dem dichten Ne­ bel über den Wellen, das hässliche Pflopp, als der Pfeil in Fell und Körper einschlug, der kur­ ze Aufschrei ihrer Mutter, die neben ihr im Boot saß, und ihr ungläubiger Blick an sich hinab auf den Pfeil in ihrer Brust. Und schließlich der Griff ihrer Finger nach Aruulas schmalem Handgelenk. Kräftig erst, als wollte ihre Mutter sie nie wieder loslassen, immer schwächer dann, bis die Finger der Sterbenden endgültig erschlafften und von ih­ rem Handgelenk rutschten wie eine durchge­ schnittene Lederschlaufe. Später, in ihren Träumen, hörte Aruula sich schreien, wenn sie die Hand ihrer Mutter spür­ te. Sie träumte oft von diesem Augenblick, als ihre Mutter neben ihr nach vorn ins Boot kipp­ te und mit dem Kopf gegen den Rücken des Paddlers vor ihr prallte. Von dem Augenblick, als der unerforschliche Ratschluss Wudans ihr

kleines Leben aus der Geborgenheit ihres Vol­ kes riss. Nicht einmal sechs Winter hatte sie damals gesehen. Tatsächlich hatte alles viel länger gedauert als nur einen Augenblick. So lange wie es eben dauert, bis man acht Frauen und vier Männern die Schädel gespalten, die Kehlen durchschnit­ ten oder ihre Körper mit Pfeilen gespickt hat­ te. Es begann damit, dass Aruula plötzlich wei­ nen musste. Sie hatte ihren schmächtigen Oberkörper auf die Schenkel gelegt, die dünnen Knie in ihre Augenhöhlen gepresst und die kleinen Hände im Nacken gefaltet. Sie lauschte. Aus einem Grund, den sie nicht verstand, machte der Ne­ bel ihr Angst. Und sogar die Wellen, die gegen den Bootsrand schlugen. Ein vertrautes Geräusch eigentlich für jeden Inselbewohner, auch für das Mädchen. Aber plötzlich flüsterte ihre kindliche Phantasie ihr ein, Orguudoos Dämonen würden im Nebel und in den Wogen lauern und darauf warten, das große Kanu umzustoßen und alle Insassen zu verschlingen. Alle – die zehn Erwachsenen und die drei Kinder. Also lauschte sie. Um sich zu vergewissern, dass nirgendwo Dämonen lauerten.

Doch da lauerte wirklich etwas, ganz nah, am Strand. Aruula spürte Hunger, sie spürte Angst, und sie spürte bedingungslose Ent­ schlossenheit zu töten. Da begann sie zu wei­ nen. Keiner der Erwachsenen kümmerte sich dar­ um. Außer ihrer Mutter natürlich. Die legte den Arm um sie. »Was ist mit dir, Kleines?« Aruula schluchzte, sie stammelte und konnte ihre Tränen nicht erklären, weil ihr die Angst die Worte von der Zunge stahl. Sie deutete nur in den Nebel vor dem Bug des Kanus, drückte sich gegen den großen Leib ihrer Mutter und schluchzte: »Da … da … da …« Zwei Kriegerinnen und zwei Krieger spran­ gen in das schon seichte Wasser, um das Kanu an den Strand zu ziehen. Und plötzlich das Sir­ ren, das hässliche Pflopp, der Aufschrei der Mutter, die Umrisse der Angreifer im Nebel, ihr wildes Gebrüll. Keiner der Erwachsenen hatte gelauscht, ob­ wohl einige von ihnen die Gabe besaßen. Warum auch? Fast täglich paddelten, wenn der Sommer sich neigte, ein oder mehrere große Kanus von den Dreizehn Inseln hinüber an die Küste vor Kalskroona. Jedes Jahr tat man das, wenn die Brabeelen in den Ruinen des ehema­ ligen Stadtrandes reif waren. Welche Feinde

hatten sie schon zu fürchten? Nein, die Er­ wachsenen hatten nicht daran gedacht zu lau­ schen. Und bezahlten es mit dem Leben. Aruulas Mutter lag stumm in ihrem Blut, und Aruula schrie laut. Die Krieger und Kriegerinnen im Wasser und im Kanu rissen ihre Langschwerter aus den Rückenscheiden. Viel zu spät. Ein Pfeilhagel prasselte auf das Kanu herab. Die Nebelschwa­ den entließen Männer und Frauen in schwar­ zen und braunen Fellen. Männer und Frauen, die ihre Zähne bleckten und brüllten. Kurze Beile schwangen sie über den Köpfen, Schwer­ ter und Dolche. Es waren viele in Aruulas Erin­ nerung dreißig und mehr. Drei oder vier Kriegerinnen brachen von Pfei­ len getroffen zusammen. Das Kanu schwankte hin und her. Die Kinder sprangen ins Wasser. Nur Aruula nicht – sie warf sich auf den Rücken ihrer Mutter, umklammerte den leblo­ sen Körper von hinten und barg ihr Gesicht­ chen im dichten Haar der Toten. Es roch nach Zuhause. Die Erinnerung an diesen Geruch würde Aruula ihr Leben lang begleiten. Die Schwertscheide der Mutter drückte gegen ihre kleine Brust.

Sie schrie nicht mehr, sie wagte nicht einmal mehr zu atmen vor Angst. Stöhnen und Schmerzensschreie hörte sie, das Zischen der Schwertklingen, das dumpfe Knirschen, wenn die Beile in das Fleisch ihrer Verwandten und Nachbarn einschlugen. Und das Klirren von zusammenprallendem Metall. Jemand hatte es geschafft sein Schwert zu ziehen, jemand leis­ tete noch Widerstand. »Aruula …!«, hörte sie eine verzweifelte Frau­ enstimme plötzlich ihren Namen rufen. »Aruu­ la! Ins Wasser! Rette dich!« Sie hob den Kopf. Waleena, die Königin ihrer Insel, stand im Bug des Kanus. Der lange Fell­ mantel umwehte sie, während ihre Klinge nach allen Seiten unter die Angreifer fuhr. Ihre schwarze Mähne peitschte ihr bei jedem Hieb, den sie führte, ins Gesicht. Zu sechst drangen sie auf sie ein. Vier Angreifer vom Wasser, zwei vom Kanu aus. Einer von ihnen war ein großer breitschultriger Bursche, noch fast bartlos und mit langem Schwarzhaar. Hinter Waleena stemmte sich ein graubärtiger Hüne aus dem Wasser auf den Bootsrand, zwischen den Zähnen den Kurzstiel eines Beils. Aruula richtete sich auf. Im Wasser seitlich des Kanus trieben vier Leichen. Fremde Bo­ genschützen und Speerträger wateten durch

die Blutschlieren in der Brandung. Das Boot war voller regloser oder sich vor Schmerzen windender Körper. Vier Angehörige ihrer Sip­ pe – außer ihrer Mutter – und drei Angreifer. Auf den Dreizehn Inseln nannte man Waleena »Kriegerin mit dem hungrigen Schwert« … »Ins Wasser …!«, brüllte die Königin erneut. »Rette dich!« Ihr sehniger bronzefarbener Körper bog sich nach links und rechts. Als wäre die Klinge eine Angelschnur, ließ Walee­ na sie kreisen, hieb auf beiden Seiten des Boo­ tes nach den Angreifern, trieb die beiden frem­ den Kämpfer vom Bug des Kanus weg. Aruula hörte ihren keuchenden Atem. Und sie sah den graumähnigen Riesen hinter ihr – der packte den Stiel seines Beils, holte aus und schlug das Beil in Waleenas rechte Wade. Der Anblick der zusammenbrechenden Köni­ gin ließ etwas in Aruulas Kehle platzen. Sie schrie wie ein in die Spitzholzfalle gestürztes Tier. Ihre Kinderhände griffen nach dem Schwert in der Rückenscheide ihrer Mutter. Sie sprang auf. Der Bartlose mit dem schwar­ zen Langhaar stieß einen Triumphschrei aus, zückte seinen Dolch und warf sich auf Walee­ na. »Waleena!«, schrie Aruula. »Waleena! Walee­ na!« Sie zerrte an der Schwertklinge. Die war

schwer, so schwer – langsam nur glitt sie aus der Scheide. Und zum Schluss doch so unver­ hofft schnell, dass Aruula mit ihr in den Hän­ den rücklings ins Kanu stürzte. Im gleichen Augenblick zog der Bartlose den Dolch durch Waleenas Kehle. Ihr Entsetzensschrei ertrank in einem gurgelnden Röcheln und einem Blut­ schwall. Aruula lag auf den Bootsplanken. An ihrer to­ ten Mutter vorbei starrte sie auf die sterbende Königin. Sie heulte laut auf, vor Wut und Trau­ er zugleich. Ihre kleinen Hände umklammer­ ten noch immer den Schwertknauf. Es gelang ihr, sich hinzuknien. Sie versuchte das Lang­ schwert zu heben. Nicht mal eine Handbreit löste sich dessen Spitze von den Bootsplanken, und auch das nur, um sofort wieder zurück aufs feuchte Holz zu knallen. Immer wieder versuchte Aruula es, und immer wieder schei­ terte sie, und je öfter sie scheiterte, desto hefti­ ger schrie sie. Die fremden Männer und Frauen im Wasser und im Kanu betrachteten sie belustigt. Der Graubärtige, der Waleena gefällt hatte, lachte laut. Nach und nach stimmten die anderen in sein dröhnendes Gelächter ein … So endete die Kindheit des kleinen Mädchens Aruula vom Volk der Dreizehn Inseln.

Sie schleiften die Leichen durchs Wasser an den Strand. Dort zogen sie ihnen Fellmäntel, Stiefel und Lendenschurze von den Leibern. Und sammelten die erbeuteten Schwerter ein. Auch die für die Brabeelen-Ernte bestimmten Körbe nahmen sie aus dem Kanu. Das Boot selbst schien für sie keinen Wert zu haben. Der Graubärtige trug Aruula durch die Bran­ dung. Er stank nach ranzigem Öl und nach säu­ erlichem Schweiß. Aruula zitterte und weinte; widerwillig hielt sie sich an ihm fest. Ihre klei­ nen Finger ertasteten Metall im Nacken des Hünen. Eine schwärzliche Kette sie bestand aus vielen fingernagelgroßen Gliedern. Durch einen Tränenschleier hindurch nahm sie das seltsame Schmuckstück wahr. Noch nie hatte sie eine derartige Metallarbeit gesehen. Sie hing dem Mann um den Hals und verschwand im Gestrüpp seines grauen Brust­ haares. Dort baumelte, halb durch den Fellum­ hang bedeckt, ein großes Amulett. Das Frem­ de, Geheimnisvolle, das von ihm ausging, verstärkte Aruulas Angst und Verzweiflung. Sie war steif wie gefrorenes Leder. Über die Schulter des Hünen blickte sie zurück. Die nackten Leiber der Königin und ihrer Mutter verschwammen mit den Nebelschwaden.

»Karoo uhomono, hutii femanaa!«, brüllte der Graubartriese plötzlich los. Erschrocken fuhr Aruula auf seinem Arm herum. »Feii faa nac!« Er lachte laut und setzte sie im Sand ab. Ihr dichtes Langhaar wickelte er um seine Faust, damit sie ihm nicht davon sprang. »Wee wigotee, wee wigotee!« Er zog die Kette aus seinem Fell und küsste das Amulett, ein rundes durchsichtiges Gebilde, mehr als halb so groß wie Aruulas kleine Faust. Eine Gestalt stand reglos im Nebel – hager und ganz in Leder gehüllt. Mit ihr sprach der Graubartriese. »Wee wigotee! Wee wigotee, Baloor!« Einzelne Worte des fremden Dialek­ tes verstand Aruula. Wir haben gesiegt, hatte der Graubartriese gebrüllt. Wie er lachte, wie er triumphierte … Er schien der Anführer der Fremden zu sein, der Häuptling. An ihren lan­ gen schwarzen Locken zerrte er Aruula zu der Gestalt im Nebel. Aruula sah Steine vor den Stiefelspitzen des Ledermannes. Ein Fisch lag auf den Steinen, um ihn herum ein paar Rindenstücke. Seine Schuppenhaut warf Blasen. Sein Maul öffnete und schloss sich und seine Schwanz­ flosse zuckte. Aus drei oder vier verkohlten Stellen seines Körpers züngelten kleine Flam­ men, und Rauch stieg von dem Kadaver auf.

Entsetzen schnürte dem Mädchen den Hals zu – die Rindenstücke qualmten zwar, aber sie sah kein richtiges Feuer, sie sah keine Glut – der Fisch lag auf einem gewöhnlichen Stein. Und brannte trotzdem. Bewegte Maul und Flossen und brannte. Ein Zauberer! Der Leder­ ne musste ein Magier sein, der Priester der Fremden! Aruula glaubte plötzlich zu wissen, warum keiner der Erwachsenen im Kanu auf die Idee gekommen war zu lauschen, warum der An­ griff aus dem Nebel sie vollkommen unvorbe­ reitet getroffen hatte. Ein Zauber! Der Lederne und der brennende Fisch, der in keinem Feuer lag: Nicht Mut und Stärke der Fremden, son­ dern Dämonen hatten die Krieger und Kriege­ rinnen ihres Volkes bezwungen. Dämonen, die der Priester mit den roten Augen aus den fins­ teren Tiefen Orguudoos heraufgerufen hatte – und wer sollte gegen Orguudoos Dämonen be­ stehen? Drei Schritte vor dem Ledernen ließ der Graubartriese sie los. »Zi da kenfa, Baloor«, sagte er. Baloor-me Frosthauch legte sich der Name auf ihr kleines Herz. Aruula begriff, dass es um sie ging.

Auch auf den Dreizehn Inseln benutzte man ein Wort für »Kind«, das ähnlich klang wie »Kenfa«. Der Lederne musterte sie aus rötlichen Au­ gen. Augen, in denen Eis und Feuer sich misch­ ten. Unter ihrem stechenden Blick zitterte Aru­ ula noch heftiger. Sie wollte den Kopf senken, doch die Faust des Häuptlings in ihrem Haar hielt sie fest. Wider ihren Willen musste sie den Unheimlichen anschauen. Leise weinte sie vor sich hin. Das weiße Gesicht des Priesters war vollkom­ men haarlos. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er sah aus, als würde er nicht genug essen. Die Knochen seiner Wangen und seines Kinns zeichneten sich spitz und kantig unter der von feinen Falten durchzogenen Haut ab. Trotzdem schien er nicht sehr alt zu sein. Viel­ leicht ein wenig älter als Aruulas Vater – drei­ ßig oder fünfunddreißig Winter. Seine Lippen waren eher grau als rot. Gelbli­ che Zähne ragten aus seinem Mund. Braunes Leder verhüllte seinen schmalen Schädel. Mit einem dünnen Gurt um die Stirn herum zu­ sammengebunden, lappte es fransenartig über seine Schultern. Ein Lederumhang bedeckte seinen Oberkörper, Lederhosen seine Beine. Die enganliegenden Stiefel reichten bis über

seine Knie und waren mit Lederriemen ver­ schnürt. Endlich ließen die roten Augen des Priesters sie los. Sein Lederumhang knarzte, als er Hän­ de und Kopf hob und nach oben in die Nebel­ schwaden blickte. »Tenk fa tuu, Wudan!«, rief er. »Tenk fa tuu! Honuur fa tuu!« Der Graubartriese und vier in der Nähe ste­ hende Fremde fielen in den Singsang ein. »Tenk fa tuu, Wudan …!« Auch aus dem Nebel scholl es vielstimmig: »Tenk fa tuu! Honuur fa tuu!« Das Mädchen Aruula ahnte die Bedeutung der Worte mehr, als dass sie sie verstand – die räu­ berischen Nomaden zollten dem allmächtigen Wudan Dank und Ehre für den siegreichen Überfall. Das Mädchen starrte den qualmenden Fisch zu Füßen des Zauberers an. Er hatte die Dämo­ nen beschworen, ganz gewiss – warum aber dankten diese Räuber dann Wudan, dem mächtigsten der Götter? Was hatte der mit Or­ guudoo, dem Herrscher der finstersten Tiefe zu schaffen? Und dann – warum überhaupt dankten sie Wudan? Als wäre der Tod ihrer Mutter und ih­ rer Königin sein Werk …?

Grenzenlose Verwirrung fasste nach Aruulas kleinem Herzen. Ihre großen Augen flogen zu dem Dämonen­ beschwörer wenige Schritte vor ihr, flogen zu den Gestalten, die jetzt aus dem Nebel traten, sich um ihn scharten und genau wie er die Arme gegen den unsichtbaren Himmel aus­ breiteten. »Tenk fa tuu, Wudan! Tenk fa tuu! Honuur fa tuu …!« Auch Aruulas Volk verehrte Wudan. Auch ihr hatte ihre Mutter die Verehrung des Gottes tief ins kindliche Herz gelegt. Wenngleich man den höchsten der Götter auf den Dreizehn Inseln nicht Wudan, sondern Odiin nannte. Doch von ihrer Mutter wusste das Mädchen, dass Odiin in anderen Gegenden auch Wudan hieß. Vor allem die Wandernden Völker südlich des Kal­ ten Sundes nannten ihn so. Ängstlich sah sie sich um. Von allen Seiten schälten sich die Umrisse der Fremden aus dem Nebel. Bald standen sie in einem Kreis um ihren Geisterbeschwörer und ihren Häuptling. Und um das kleine Mädchen. Sie hoben die Arme, sie priesen Wudan, und manchmal streiften ihre Blicke das bronzehäutige Kind neben dem Graubartriesen. Gleichgültige Bli­ cke.

Aruula kniff die Augen zusammen, wie sie es manchmal in einem Traum tat, wenn er sie ängstigte und sie aufwachen wollte. Waleena hatte ihr das beigebracht. Doch da war keine andere Welt, in die hinein sie aufwa­ chen konnte. Die singenden Nomaden, der le­ derne Magier, der brennende Fisch und die Leichen ihrer Verwandten und Freunde ir­ gendwo im Nebel am Wasser – daraus bestand die Welt. Eine grausame kalte Welt … Das Mädchen Aruula stellte sich vor, ein Pfeil würde sie in die Brust treffen, ein Pfeil wie er ihre Mutter getroffen hatte. Sie stellte sich das Glitzern einer Dolchklinge vor, die ihren Kör­ per öffnete, so wie die Klinge des Bartlosen Waleenas Körper geöffnet hatte. Und sie stellte sich vor, das Leben würde aus ihr herausströmen, und alles würde in schwar­ zem, ewigem Vergessen versinken … Vom Meer her kam ein kräftiger Wind auf. Die Nebelwand zerriss. Ein heller Fleck, milchig und verwaschen, zeichnete sich im Grauhimmel ab – die Sonne. Die großen Bäume zwischen den zerfallenen Steinhütten wurden sichtbar. Ihr gelbrotes Laubdach spannte sich über farnbewachsene Steinhalden, über Fassaden hinter einem Vor­

hang von Kletterpflanzen und über moosbe­ deckte Mauerreste. Die Ruinen von Kalskroona. Die Alten hatten in solchen Steinhüttendör­ fern gelebt. In Dörfern sogar, die noch größer waren als Kalskroona. So wollten die vielen Le­ genden wissen, die Aruulas Mutter abends in der Gemeinschaftshütte erzählt hatte. Ein mächtiger König hatte Kalskroona einst ge­ baut, berichtete eine dieser Legenden. Ein Kö­ nig namens Kai. Doch das war lange bevor Or­ guudoo seinen Zorn auf die Erde geworfen hatte, lange vor Kristofluu. »So viele Winter davor, dass dir die Finger aller Bewohner der Dreizehn Inseln nicht reichen würden, um sie zu zählen«, hatte ihre Mutter einmal gesagt. Der Magier und der Graubartriese schritten vor ihr. Der Hüne trug ein fast schwarzes Ta­ ratzenfell. Und vermutlich war auch das dunkle Leder des Magiers aus Taratzenhaut. Aruula kannte die Bestien nur aus den Erzäh­ lungen der Erwachsenen. Auf dem Festland be­ gegnete man ihnen häufiger. Auf die bewohn­ ten Inseln wagten sie sich selten. Rechts und links von ihr gingen zwei in brau­ ne Felle gehüllte Krieger. Einer von ihnen war der Bartlose, der Waleena getötet hatte. Er hat­ te sich ein Ende des geflochtenen Lederbandes

ums Handgelenk gewickelt, das sie ihr um den Hals gebunden hatten. Verstohlen blickte Aru­ ula von Zeit zu Zeit zu ihm hoch. Er hatte ein breites Gesicht und einfältige Augen. Mehr als zwanzig Winter konnte er noch nicht gesehen haben. Auch sein Körper war breit und groß wie der des Graubartriesen, auch sein Brust­ korb fassartig gewölbt. Und seine Oberarme und Waden schienen Aruula stark und fest wie die Pfähle unter den Uferhütten ihres Dorfes. Hinter ihnen stapfte der Haupttrupp der Fremden durch Gestrüpp und hohes Gras. Sie schleppten die Beute mit sich – Schwerter, Fellmäntel und Körbe – und ihre Toten. Mut­ ters Leiche, Waleenas Leiche und all die ande­ ren Getöteten ihres Volkes hatten sie den Moe­ wen überlassen. Drei der Nomaden hatten den Raubzug mit dem Leben bezahlt. Sie näherten sich den Ruinen von Kalskroo­ na. Mehr und mehr lichtete sich der Nebel. Aruula hörte Stimmen von fern. Dunkle Haar­ schöpfe wurden sichtbar im mannshohen Ge­ strüpp. Und kegelförmige Unterschlüpfe zwi­ schen dem Buschwerk und den Brabeelenhecken – Fellhütten. Meist dunkel­ braun. Das Lager der räuberischen Menschen. Es musste eine Horde der Wandernden Völ­ ker sein. Die Erwachsenen hatten von diesen

Menschen erzählt. Sie zogen durch die Wälder südlich des Kalten Sundes zwischen dem West­ meer und den Bergen im Sonnenaufgang hin und her, am Großen Fluss entlang und bis zum Eisgebirge hinunter nach Süden. Aruula selbst hatte noch nie Angehörige einer Horde der Wandernden Völker gesehen. Aber ihre Mutter und Waleena, als sie selbst noch Kinder waren. Deren Eltern und Großeltern wiederum wussten zu berichten, dass die No­ maden sich nur selten so weit in den Norden hinauf wagten. Nie hatten die Erwachsenen be­ richtet, dass die Wandernden Völker kriege­ risch seien. Sie näherten sich dem Lager. Die Unter­ schlüpfe waren aus pyramidenförmig zusam­ mengestellten und mit Fellen bespannten Baumstämmchen errichtet. An einigen Unter­ schlüpfen sah Aruula schwarze oder dunkel­ graue Felle. In ihrem eigenen Volk bauten die Jäger und Krieger ähnliche Unterschlüpfe, wenn sie zu Jagdzügen auf dem Festland un­ terwegs waren. Oder zu Wanderungen, um die Vorposten und Truppenbewegungen der grau­ samen Krieger zu erkunden, deren großes Reich im Westen des Nordlandes lag und sich von Winter zu Winter mehr ausdehnte. Selten

hatten die Erwachsenen in der Gemeinschafts­ hütte davon gesprochen. Und wenn sie es doch taten, klangen ihre Stimmen leiser und ernst. Schritte und Stimmen näherten sich. Ein Ra­ scheln im Buschwerk ertönte, Menschen tauchten plötzlich auf – Halbwüchsige, kleine Kinder und ein paar junge Frauen. Alle in die gleichen dunkelbraunen Felle gehüllt wie die meisten Angreifer und wie die Fellhütten zwi­ schen den Büschen und Hecken. Vermutlich WakudaFelle – aus den Geschichten ihrer Mutter und Waleenas wusste Aruula, dass man südlich des Kalten Sundes die wilden Horntiere zu zähmen verstand. Die Kinder und Frauen begrüßten die Heim­ kehrenden – ausgelassen den Graubartriesen und seine Krieger und Kriegerinnen, scheu den Magier. Es war, als wollten sie seine Auf­ merksamkeit meiden. Der Name, mit dem der Graubartriese ihn an­ gesprochen hatte, brannte in Aruulas Brust: Baloor … Er ging nur wenige Schritte vor ihr, und Aruula wünschte, er würde zwei Speer­ würfe entfernt sein. Sie passierten den ersten Unterschlupf. Ande­ re Halbwüchsige und Kinder schlossen sich

der Gruppe an. Einige hatten die Hände voller Brabeelen. Sie stopften die schwarzen Beeren in sich hinein und schwarzroter Saft färbte ihre Lippen und Zungen. Aruula entdeckte mehr Fellhütten zwischen dem hohen Buschwerk und den Brabeelenhe­ cken, als sie an den Fingern ihrer Hände ab­ zählen konnte. Geschickt hatten die Fremden ihre Unterschlüpfe in dem vom Herbst ver­ färbten Gebüsch versteckt. Schließlich erreichten sie eine der zerbroche­ nen Steinhütten der Alten. Auch vor der Ruine standen zwei Unterschlüpfe, größer als die an­ deren, einer aus schwarzem Fell und einer aus Leder. Die Behausungen des Häuptlings und des Magiers. Ein großes Palaver hob an. Wortreich schil­ derten der Häuptling und der Bartlose den Kampf am Strand. Aruula verstand nur die Hälfte davon. Der melodiöse, weiche Dialekt stieß sie ab, und was sie verstand, trieb ihr er­ neut die Tränen aus den Augen. Verloren und ohnmächtig stand sie unter den vielen Frem­ den. Kinder zupften an ihren Haaren und ih­ rem Fellmantel. Mädchen machten sich einen Spaß daraus, sie gegen Schultern und Rippen zu boxen, ein kleiner Junge mit von Brabeelen­ saft verschmiertem Gesicht trat nach ihr.

Irgendwann zog der Graubartriese wieder sein Amulett heraus und küsste es. Ein Kriegs­ zauber steckt in dem Ding, dachte Aruula. Der Lederne hob die Arme und begann erneut den Lobpreis auf Wudan anzustimmen. Männer, Kinder, Frauen fielen mit ein: »Tenk fa tuu, Wudan! Tenk fa tuu! Honuur fa tuu …!« Der Graubartriese hatte endlich ihr Haar los­ gelassen. Aruula ließ sich ins niedergetretene Gras sinken. Jedes Schluchzen riss ihre Schul­ tern hoch. Trauer und Verlassenheit brannten ihr in Brust und Kehle – es war, als würde je­ mand eine Angelschnur um ihren Hals zuzie­ hen. An den Beinen der Erwachsenen vorbei blick­ te sie auf die Ruine der Steinhütte. Kletter­ pflanzen bedeckten die Fassade fast vollstän­ dig. Unten vor dem Eingang klaffte ein Loch. Ein Mann im hellbraunen Fellmantel stand darin. Der Knauf eines Langschwertes ragte über seine linke Schulter. Von seinem Hinter­ kopf stand ein blauschwarzer, zusammenge­ knoteter Haarzopf ab. Aruulas Blick traf sich mit seinem. Ihre Trä­ nen versiegten schlagartig, das Schluchzen hörte auf, ihre Lider verengten sich. Das war Grigooras, ein Jungkrieger ihres eigenen Vol­

kes! Ein mit dem Todesbann belegter Jung­ krieger! Nicht einen Atemzug lang gab sich das Mäd­ chen der Täuschung hin, Grigooras könnte wie sie ein Gefangener der räuberischen Horde sein. Gefangene lehnten nicht gelassen an Mauern und verschränkten ihre Arme nicht ungefesselt vor der Brust; vor allem aber tru­ gen Gefangene kein Langschwert auf dem Rücken … Der Hass überfiel sie wie plötzlicher Schmerz. »Verräter …« Das abscheuliche Wort kam ihr wie von selbst über die Lippen. »Verräter …« Und so war es. Nach dem Dank-Ritual bellte der Graubartriese seiner Horde Befehle zu. Das Lager sollte abgebrochen werden, jeder sich zur Flucht vor möglichen Rächern bereit machen. Er scheuchte die Erwachsenen und Halbwüchsigen seiner Horde in alle Richtun­ gen zwischen Büsche, Hecken und Bäume. Und dann winkte er Grigooras zu sich und dem Priester. Der Jungkrieger löste sich aus dem dunklen Eingang der Ruine und schritt den beiden Fremden entgegen. Würdevoll und mit stolz erhobenem Haupt und nicht wie ein gede­ mütigter Gefangener. Die Priesterin hatte Grigooras zum Tode ver­ urteilt. Der Kopf sollte ihm abgeschlagen wer­

den. Aruula erinnerte sich an den Schrecken, der sie durchfuhr, als ihre Mutter von dem Götterspruch der Priesterin erzählt hatte. Fast zwei Monde war das her. Mit dem Kanu seiner Sippe war Grigooras in der Nacht vor seiner Hinrichtung die Flucht an die Küste gelungen. Der Graubartriese bückte sich nach den erbeu­ teten Waffen und Fellmänteln. Er hob den nas­ sen Pelz eines gefallenen Kriegers und ein Langschwert auf und reichte es dem Jungkrie­ ger. Der lehnte das Schwert ab und nahm nur den Mantel entgegen. Dann deutete er auf einen der Unterschlüpfe. »Das sei mein Lohn«, hörte Aruula ihn sagen. Sie hasste ihn mit der ganzen Kraft ihres Kin­ derherzens. Nicht, weil er sich dem Götter­ spruch entzogen hatte. Nicht einmal wegen der Untaten, die ihm die Priesterin vorgeworfen hatte. Er habe jungen Mädchen Gewalt ange­ tan, sogar seiner eigenen Schwester, hatte Wa­ leena auf Aruulas Fragen ausweichend geant­ wortet. Sie wusste nicht, was das bedeutete – »jungen Mädchen Gewalt antun« –, sie ahnte nur, dass es etwas Scheußliches bedeuten musste. Sonst hätte die Priesterin ihn nicht zum Tode verurteilt. Aruula hasste ihn, weil er sein Volk verraten hatte. Er hatte der fremden Horde verraten,

dass um diese Jahreszeit einzelne Kanus von den Dreizehn Inseln am Strand vor der Rui­ nenstadt anzulegen pflegten. Er hatte seinen Eid gebrochen. Er hatte den räuberischen No­ maden zu einem leichten Beutezug verhelfen – so musste es gewesen sein! Der Häuptling verhandelte mit Grigooras über die Fellhütte. Er gestikulierte aufgebracht und deutete in den Wald über der Ruinenstadt hinein. Teilweise verstand Aruula, was er sag­ te, teilweise konnte sie es sich zusammenrei­ men – Grigooras sollte sich gefälligst ein altes Steinhaus am Rand des Ruinenfeldes von Kals­ kroona suchen oder sich selbst eine Hütte bau­ en … Nur selten hatte Aruula Leichen gesehen. Krieger und Kriegerinnen, die von wilden Tie­ ren zerrissen worden oder im Kampf gegen Späherrotten des grausamen Reiches im Wes­ ten gefallen waren. Doch aus den Geschichten und Legenden, die ihre Mutter und Waleena erzählt hatten, wusste sie, dass Töten und Ster­ ben, Kämpfen und Unterliegen zum Leben ge­ hörte wie Lachen und Spielen. Aber sterben durch gemeinen Verrat – das hatte Wudan dem Leben der Menschen nicht zugedacht! »Verräter!«, brüllte das Mädchen plötzlich. Die Kinder um sie herum wichen erschrocken

zurück. »Verfluchter Verräter!« Ihre Finger bohrten sich in den Grasboden und rissen Dreckklumpen heraus. Sie schleuderte sie auf die drei Männer. Der Lederne fuhr herum, lief zu ihr und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Aruula stürzte ins Gestrüpp. Die Kinder tuschelten. Vorsichtig näherten sie sich dem Mädchen. Aruula fühlte, wie je­ mand über das Haar strich. Sie blickte auf – über ihr war ein Frauengesicht. Aruula wusste nicht, wo die Frau plötzlich herkam. Sie war nicht alt, vielleicht dreißig Winter mochte sie gesehen haben. Etwas wie Erbarmen spiegelte sich in ihrem breiten Gesicht und ihren brau­ nen Augen. Jemand trat nach ihr, wieder der gleiche klei­ ne Knabe wie vorhin schon. Die Frau boxte ihn vor die Brust und schimpfte. Das Kerlchen machte eine betretene Miene. Er hieß Radaan, und die Frau, seine Mutter, hieß Zurpa. Aber das wusste Aruula zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aruula sprang wieder auf. Ihre hasserfüllten Blicke trafen Grigooras. Sie hörte, wie er dem Häuptling und dem Priester vorschlug, ihn mit der Horde ziehen zu lassen. Der Graubartriese

und der Lederne gingen etwas abseits, um sich zu beraten. Aruula sah einen Stein drei Schritte vor sich im Gras liegen. Blitzschnell griff sie danach und schleuderte ihn nach Grigooras. Der bück­ te sich geistesgegenwärtig und der Stein schoss über seinen Haardutt hinweg. Aruula rannte los. »Verräter!« Sie stürzte sich auf den fast dreimal Größeren. »Ich töte dich!« Ihre Zähne gruben sich in seinen Schenkel. Er stieß sie zurück. Schon war der Magier hinter ihr. »Wenn ich groß bin, töte ich dich!«, schrie Aruula. Und erneut schlug sie der Lederne ins Gesicht … Hinter den Steilküsten im Meer glaubte sie oft die Dreizehn Inseln zu sehen, im gelbem Laub­ dach der Bäume das Gesicht ihrer Mutter und in den schwarzen Gewitterwolken die Haar­ mähne Waleenas. Die Wirklichkeit verschwamm mit Aruulas Fieberträumen. Manchmal, wenn sie an einem See das Lager aufschlugen und Zurpa ihren glühenden Kör­ per aus dem Sattel hob und sich mit ihm in den Armen über den kristallklaren Wasserspiegel beugte, entdeckte Aruula die geliebten Gesich­

ter auch auf der Wasseroberfläche. Sie schrie jedes Mal, wenn Zurpa sie in einen der eiskal­ ten Seen tauchte. Aruula hustete, Aruula fieberte – Trauer und Heimweh zogen sie näher und näher an die Schwelle des Todes. Freiwillig rührte sie keine Nahrung und kein Wasser an. Zurpa flößte ihr Kräutersud ein und eine in Wasser aufgekoch­ te gelbliche Fettpaste. Shmaldan nannte Zurpa die Speise – eine Notnahrung für den Winter und für Zeiten ohne Jagdglück. Sie bestand aus Tierfett und Pflanzensirup und enthielt Gras­ samen, getrocknete Beeren und Trocken­ fleisch. Anfangs spuckte das fiebernde Mäd­ chen die Shmaldan-Suppe aus. Doch Zurpa zwang sie, die bitter schmeckende Speise zu schlucken, indem sie ihr Mund und Nase zu­ hielt. Trotz ihres Zustandes begriff Aruula, dass Zurpa die Frau des Bartlosen war, der Walee­ na die Kehle durchgeschnitten hatte. Er hieß Sorban. Oft hörte Aruula ihn nachts keuchen und stöhnen, wenn er auf Zurpa lag. Der Jun­ ge, der sie getreten hatte, schlief neben ihr. Ra­ daan war Sorbans und Zurpas Sohn. Manch­ mal kam es vor, dass Sorban eine andere Frau zu sich in seine Fellhütte nahm.

Dann konnte Aruula allein mit Zurpa und Ra­ daan in einem benachbarten Unterschlupf schlafen. Ein gewaltiges Tier trug das Mädchen den lan­ gen, mühsamen Weg die Küste entlang. Frek­ keuscher nannten die Fremden es. Aus den Er­ zählungen ihrer Mutter und Waleenas wusste Aruula, dass die Wandernden Völker solche Tiere gezähmt hatten und als Last- und Reittie­ re benutzten. Diese Sippe besaß zwölf Frekkeu­ scher. Die dunkelgrünen, von feinem Pelz überzoge­ nen Körper der Tiere waren gut anderthalb Speerlängen hoch und etwa so lang wie vier oder fünf Speere. Sie hatten mehrgliedrige Bei­ ne, sechs insgesamt, so dick wie die Stämme hochgewachsener Birken. Damit konnten sie Sprünge von fast einem halben Speerwurf Wei­ te machen. Und zwei paar Flügel an jeder Seite ermöglichten es ihnen sogar, über längere Strecken zu fliegen. Wenn Flüsse oder tief in die Landschaft eingeschnittene Täler zu über­ queren waren, erlebte das Mädchen solche Frekkeuscher-Flüge. Feinbehaarte Fühler ragten aus der Stirnseite ihrer langen Köpfe und aus ihren Mäulern Ge­ bissscheren. Dunkle Facettenaugen bedeckten fast die ganze obere Hälfte ihrer Schädel. Ein

süßlichbitterer Geruch, der Aruula an erbro­ chene Galle erinnerte, ging von den Frekkeu­ schern aus. Sie gewöhnte sich nur langsam daran. Die Fremden hatten sie mit Lederriemen an einen Sattel aus Holz und Fell gebunden, damit sie nicht vom Rücken des Tieres stürzen konn­ te. Das Holz unter dem straff gespannten Fell war elastisch und federte die Sprünge des Frekkeuschers ab. Aruulas Sattel war wie eine lange Schale geformt, sodass sie darin liegen konnte. Die Sättel der anderen hatten meistens Lehnen. Schwangere, sehr kleine Rinder und Schwerkranke wurden von den Tieren getra­ gen. Tage und Nächte kamen und gingen. Aruula verlor jedes Zeitgefühl. Für ihr fieberndes Ge­ hirn dauerte noch immer der Augenblick an, in dem ihre Mutter aufschrie und den Pfeil in ih­ rer Brust anstarrte. Manchmal richtete das Mädchen sich auf, sah das Meer und die Küste unter Nebelschwaden und im Dämmerlicht, sah das fallende Laub, sah die Fremden links und rechts neben dem Frekkeuscher her trotten. Meistens aber lag sie in ihrem schaukelnden Sattel, dämmerte vor sich hin und sah den verwaschenen Lichtfleck der Sonne über den Grauhimmel ziehen, oder

Gewitterwolken, oder Moeven, Kolks und an­ dere Vögel. Jeden Abend, wenn das Lager aufgeschlagen war, kam Baloor zu ihr. Er beobachtete Zurpa, während diese das Mädchen fütterte und tränkte. Danach beugte er sich über Aruula, murmelte Beschwörungsformeln und flößte ihr Kräutersäfte und Pulver ein. Es wurde kälter. Ein Morgen kam, an dem eine dünne Schneedecke auf den Fellplanen der Unterkünfte lag, auf den Grasspitzen und den noch nicht abgefallenen Blättern der Bäu­ me und Büsche. Von diesem Tag an tunkte Zurpa das Mäd­ chen nicht mehr ins Wasser der kalten Seen. Oft sah Aruula Grigooras von weitem. Manch­ mal lief er neben ihrem Frekkeuscher her oder hielt sich sogar vor dem Eingang ihrer Unter­ kunft auf. Hin und wieder sprach er sie an, er­ klärte ihr fremde Worte aus dem Dialekt der Horde, nannte ihr die Namen ihrer Mitglieder, erzählte, dass die Wandernden Völker ihre Magier Göttersprecher nannten und berichte­ te, dass Roschaan – so hieß der Graubartriese – die Hoffnung aufgegeben hatte, den Kalten Sund noch vor dem Winter überqueren zu kön­ nen. Der Häuptling hatte Späher losgeschickt, um einen geeigneten Platz für ein Winterlager

zu suchen. Einen Platz, an dem die Rotten des blutrünstigen Königs im Westen sie nicht fin­ den würden. Die Vorstellung, in die Nähe der feindlichen Krieger zu geraten, die sie bisher nur aus den Erzählungen ihrer erwachsenen Verwandten kannte, erschreckte Aruula. Trotzdem antwor­ tete sie Grigooras nichts. Kein Wort sprach sie mit ihm. Der zweite Mond nahm zu, als das Fieber sank und das Mädchen langsam wieder zu Kräften kam. Die Horde zog von der Küste weg ein Stück nach Norden hoch. Der Wald wurde dichter und sie erreichten einen kleinen See, den Roschaans Späher ausgekundschaftet hat­ ten. Am Seeufer ließ der Häuptling das Winter­ lager errichten. Den ersten Tag verbrachte Aruula unter der Plane der Fellhütte. Draußen hörte sie Axtschläge und das Split­ tern von Holz, wenn die fallenden Baumstäm­ me das Geäst anderer Bäume mitrissen. Am zweiten Tag hockte sie vor dem Zelt und beob­ achtete, wie die Frauen der Horde im See fischten, Beeren und Wurzeln aus dem Wald ins Lager trugen oder Shmaldan zubereiteten. Die Männer errichteten drei große Gemein­ schaftshütten aus Holz auf etwa kniehohen

Pfählen. Und sie bauten einen langen über­ dachten Unterstand für die Frekkeuscher. Man ließ Aruula keinen Augenblick allein. Weil Zurpa mithelfen musste, die letzten Vor­ räte für den Winter zusammenzutragen, waren es meistens zwei oder drei Halbwüchsige, die neben ihr saßen. Am Mittag des dritten Tages im Winterlager scheuchte Zurpa Aruula in den Unterschlupf und befahl ihr darin zu warten, bis man sie ru­ fen würde. Das Mädchen hörte, wie sie drau­ ßen zwischen den Unterschlüpfen herumliefen und palaverten. Nicht lange danach beugte sich die Frau in die Fellhütte hinein und winkte sie heraus. Vor einer der beiden halbfertigen Ge­ meinschaftshütten drehten Frauen vier ge­ schlachtete Tiere an Spießen über zwei Feuer­ plätzen. Wisaaun, erkannte Aruula. Es duftete nach gebratenem Fleisch. Zwischen den Feuern, direkt vor einer der Baustellen hockten Baloor, Roschaan und Sor­ ban auf Frekkeuscher-Sätteln. Sie blickten ihr schweigend entgegen. Hinter ihnen, im Ein­ gang der halb fertigen Hütte, stand Grigooras. Fast die ganze Horde hatte sich versammelt. Zurpa stellte Aruula vor die drei Männer hin und trat beiseite.

»Setz dich.« Roschaan, der in der Mitte saß, deutete auf einen Holzklotz etwa zwei Schritte vor sich. Aruula tat, was er verlangte. Sie konnte den weichen Dialekt der Horde in­ zwischen ein wenig besser verstehen. Aruula zog die Knie an und schlang ihre Arm­ chen um sie. Sie fröstelte plötzlich. Im Gesicht des Häuptlings suchte sie nach Zeichen, die ihr verrieten, ob Gutes oder Böses bevorstand. Doch die braunen Augen des Hünen musterten sie ausdruckslos. Die kunstvoll geschmiedete Kette hing aus seinem Fellmantel heraus. Zum ersten Mal konnte Aruula das Amulett von vorn betrach­ ten. Ein gläserner Klumpen mit eisglatter Oberfläche, darin eingeschlossen eine rätsel­ hafte runde Scheibe. Sie fesselte Aruulas Auf­ merksamkeit und ließ sie ihre Unsicherheit und Angst für ein paar Atemzüge vergessen. Ein Kranz von vielen kleinen und wenigen größeren Strichen und Zeichen umgab die wei­ ße Scheibe an ihrem äußeren Rand. Drei Splitter zeigten von der Mitte der Schei­ be aus auf den Zeichenkranz – blau wie Aruu­ las Augen. Einer so fein wie ein Haar, der Zweite, Kürzere so breit wie das Schwarze un­ ter dem Nagel ihres kleinen Fingers, der Dritte

etwas länger, dafür schmaler, aber nicht so fein wie der haarfeine Splitter. Auf die Scheibe war eine Figur mit kurzen blonden Haaren gemalt. Eine geheimnisvolle Figur in einem engen schwarzen Anzug mit rätselhaften Zeichen darauf, einem hellbrau­ nen Umhang und gelben Stiefeln. Sie stemmte die Hände in die Hüften. Auf ihrem Gesicht lag ein breites Grinsen, und die großen Augen er­ innerten Aruula an Waleena, wenn die Königin zu viel Rauschsaft getrunken hatte. Vergnügte Augen. Es musste sich um eine Götterfigur handeln. Roschaan merkte, dass sie sich auf sein Amu­ lett konzentrierte. Er schloss seine haarige Faust um das Rätsel­ ding und steckte es unter seinen Fellmantel. Noch immer schwiegen die Männer. Ängstlich blickte Aruula sich um. Die Augen aller Ver­ sammelten hingen an ihr. Sogar die Frauen an den Bratspießen beobachteten sie. »Hab keine Angst«, sagte Zurpa hinter ihr. »Dir geschieht nichts.« Aruula drehte sich nach ihr um und ihre großen dunkelblauen Augen suchten das breite Gesicht der Frau in der Menge. Sie fand es; Zurpa lächelte, und das Mädchen glaubte ihr. Während der langen Zeit, in der Aruula zwi­

schen Leben und Tod schwebte, war etwas wie Vertrauen zwischen ihr und Sorbans Frau auf­ gekeimt. »Das Schwert deiner Mutter, es gehört dir.« Baloors rote Augen fixierten sie. »Finde es.« Aruula verstand nicht. »Versteckt«, sagte Roschaan. »Baloor, Sorban oder ich – finde das Schwert.« Aruula verstand noch immer nicht. Ein Spiel? Eine Demüti­ gung? Eine Probe? Das Schwert ihrer Mutter – o ja, das hätte sie gern gehabt. Wenigstens das … Sie machte Anstalten aufzustehen. Wenn die Männer wollten, dass sie das Lager nach dem Schwert durchsuchte, dann würde sie es eben tun. »Nein«, mischte Grigooras sich ein. »Bleib sit­ zen. Einer der drei hat das Schwert versteckt. Nur er weiß, wo es ist. Belausche sie, dann wirst du es finden.« »Lauschen …?« Verwirrt blickte Aruula den verhassten Jungkrieger ihres Volkes an. Der Verräter nickte. Aruula schob sich von dem Holzklotz und ließ sich auf ihre Knie fallen. Sie legte ihren schmächtigen Oberkörper auf die abgemager­ ten Schenkel und steckte den Kopf zwischen die Knie. Ihr kindlicher Geist tastete nach den Gedanken der Männer vor ihr. Bilder stürmten

auf sie ein. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Häuptlingssohn Sorban. Viele unge­ ordnete Empfindungen und Vorstellungen be­ rührten ihren Geist – sie spürte Anspannung, sie spürte Ungeduld, sie sah die Bratspieße und fühlte die Lust auf das Fleisch, sie sah Zur­ pas unbekleideten Körper und spürte eine Gier, die sie weder verstand noch einordnen konnte. Aber kein Gedanke an ein Schwert, kein Bild davon. Sie zog ihre Aufmerksamkeit von ihm ab und tastete sich an Baloors Geist heran. Kälte und bohrende Spannung berührten sie. Baloors Geist fühlte sich an wie einer der zer­ klüfteten Eisberge, die im Winter durch den Kalten Sund trieben. Das Mädchen zuckte zu­ sammen und riss seine Gedanken von dem Ma­ gier los. Auch in Roschaans Geist Bilder sah sie gebra­ tene Wisaaun. Daneben sorgenvolle Bilder – Aruula sah den See, sah den Wald und sah An­ greifer in das Lager stürmen. Aber da war kei­ ne Spannung in den Gedanken des Häuptlings. Gelassenheit erfüllten sie, große Entschlossen­ heit und Zuversicht. Und das Bild des Schwer­ tes. Sie konzentrierte sich darauf – ein knorri­ ger Baumstamm, ein Busch mit wenigen braunen Blättern, gelbliches Farngestrüpp um

den Busch herum, und mitten im Gestrüpp das Schwert ihrer Mutter. Seine Klinge steckte zur Hälfte im Waldbo­ den. Aruula richtete sich auf. Erwartungsvolle Bli­ cke trafen sie. Sie erhob sich und ließ ihren Blick über die Fellhütten, Büsche und Bäume wandern. Keiner der Männer und Frauen um sie herum sprach ein Wort. Man hörte nur das Knistern des Feuers und das Quietschen der sich drehenden Bratspieße. Sie entdeckte den Baumstamm auf der ande­ ren Seite des Lagers, kaum einen Speerwurf weit vom Seeufer entfernt. Geraune erhob sich unter der Horde, als sie zielstrebig darauf zu­ lief. Alle folgten ihr, Roschaan und Baloor an der Spitze der Horde, direkt hinter Aruula. Sie fand den Busch und den gelbbraunen Farn, sie drang in das Gestrüpp ein und fand das Schwert ihrer Mutter. Die Horde brach in lau­ tes Jubelgeschrei aus. Aruula konnte sich die Freude der Männer und Frauen nicht erklären. Ihre kleinen Hände umklammerten den Knauf. Sie zog an der Klinge, aber die bewegte sich keinen Fingerbreit aus der Erde. Der Augen­ blick im Kanu fiel ihr ein – als sie vergeblich das Schwert ihrer Mutter zu heben versuchte, während Waleena vor ihren Augen starb. Wie

eine schwarze Faust griff die Trauer nach ih­ rem Herzen. Um sie herum jubelten alle, am lautesten Roschaan und Sorban. Baloor drang in das Farngestrüpp ein. Er packte den Schwertknauf und zog die Klinge aus dem Waldboden. »Es gehört dir«, sagte er, »solange dein Leben dir gehört.« In seinen ro­ ten Augen leuchtete Triumph. Aruula schob sich die schwere Waffe auf die Schulter und schleppte sie aus dem Farn. Männer, Frauen und Kinder standen beiein­ ander, palaverten aufgeregt. »Ich habs euch doch versprochen!« Aruula hörte Grigooras Stimme. »Ich hab euch doch einen Lauscher versprochen …!« Er sprach mit Roschaan. »Sie wird eure beste Späherin werden …« Wie Schuppen fiel es dem Mädchen von den Augen: Keine Waffen, keine Felle sollten ge­ raubt werden vor zwei Vollmonden an der Küste vor Kalskroona – sondern jemand, der lauschen konnte. Sie! Ihretwegen hatten ihre Mutter und die Königin sterben müssen. Und all die anderen … Er saugte die Bilder in sich hinein. Wunderba­ re Bilder, Bilder von Dingen, nach denen er sich seit nicht messbaren Zeiten sehnte. Bilder

von Dingen, die er nie wieder mit Augen wür­ de sehen können. Er genoss sie, ließ sich von ihnen berauschen. Die guten Bilder schwebten durch die Sphäre der näheren Umgebung und strömten in die erkaltende Lan hinein. Viele Geister ihrer symbiotischen Einheit waren nun auf sie auf­ merksam geworden. Er spürte Lebens-Auren aller Sieben Ränge. Selbst die starke Aura ei­ nes Luns ertastete er. Und ein Sil ihrer eige­ nen symbiotischen Einheit strich zärtlich an der Grenze ihres Bewusstseins entlang, um sie zu stützen. Und bald glaubte er zu spüren, wie die Aura der Lan sich aufhellte und die Energiewellen aus dem Zentrum ihres Geistes intensiver pul­ sierten. Doch noch immer berührten ihn Bil­ dersplitter, die sich anfühlten, wie einst kalter Stein sich angefühlt hatte. (Hast du jetzt verstanden, Liob’lan’taraasis?) (Ich habe verstanden, dass du nicht mehr vom Ziel zu sagen weißt, als dass es Leben be­ deutet …) (Oh – wohl weiß ich mehr, aber das ist das Entscheidende: Wir sollen leben, und wir wer­ den leben. Hast du das verstanden, Liob’lan’ta­ raasis? Alles andere magst du vergessen, aber dieses niemals.)

(Aber der Preis, Est’sil’bowaan … Hat es uns nicht alles gekostet? Es klingt paradox – aber hat es uns nicht so­ gar das Leben gekostet?) (Ich kenne keine Wahrheit, die nicht paradox klingt, nicht eine. Und so auch das oberste Gesetz Sol’daa’mur­ ans: Nichts glüht neu auf, was nicht zuvor er­ lischt …)

3. Aus der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEI­ TUNG Dienstag, 6. September 2011: DES EINEN FREUD, DES ANDEREN LEID So etwa ließe sich die derzeitige Stimmung im Einzelhandel beschreiben, speziell in der Frei­ zeit- und Hobbybranche. Während der Markt etwa für Sportartikel stagniert und in einigen Bereichen – zum Beispiel Fahrräder- und Bi­ ker-Accessoires – sogar eklatante Einbrüche verzeichnet, sprechen Optiker und Buchhänd­ ler von Traumumsätzen. Die Hersteller von Feldstechern und Teleskopen fahren Über­ stunden, um der täglich wachsenden Nachfra­ ge Herr zu werden, und Verlage, die astrono­ mische Handbücher und Sternkarten in ihren Programmen führen, schätzen sich glücklich: Titel, die bisher nur in kleinen Auflagen ge­ druckt wurden, weil ausschließlich Liebhaber und Spezialisten sie kauften, erleben plötzlich Zweit- und Drittauflagen. Der Grund für das einseitige Konsumenten­ verhalten ist am Sternenhimmel zu beobach­ ten: »Christopher-Floyd«. Der neu entdeckte Komet – und vor allem seine erwartete Nähe zur Erde – öffnet die Geldbörsen der Verbrau­

cher. Der leidende Teil der Branche indes gibt sich zuversichtlich: »Der aktuelle Trend und ›Christopher-Floyd‹ haben eines gemeinsam«, so etwa ein Sprecher von Adidas, »beide gehen vorüber.« Ostsee und Berlin-Köpenick, 13. September 2011 Im Norden und Osten ragten Wolkenforma­ tionen auf wie Mauern eines mythischen Him­ melspalastes, im Osten zudem gekrönt mit dem Strahlenkranz der sinkenden Sonne. Der Himmel im Westen war weitgehend klar, und unter Matthew Drax lagen Dunstschleier auf dem Meer und über den Konturen der Küste. In seiner F-17 Alpha 2 glitt er mit einer Ge­ schwindigkeit von etwas mehr als siebenhun­ dert Knoten und in einer Flughöhe von drei­ tausendeinhundertzwanzig Fuß der Sonne entgegen. Ihr Strahlenkranz über den Wolken kam ihm vor wie ein leuchtendes Tympanon über dem Säulenportal zu einer Traumwelt. Sein Körper schien über Steuersäule, Sitz­ schale, Helm und Bedienungshebel mit der Maschine verwachsen zu sein, sein Bewusst­ sein verschmolz mit den Daten auf dem Headup-Display und dem Himmel über der Ostsee­ küste. Frei fühlte er sich und unglaublich leicht

– wie ein Tänzer, der sich der Musik überlässt und sich der Bewegungen seines Körpers kaum noch bewusst ist, während er tanzt. Nichts, was sich dort unten auf der Erde ab­ spielte, schien noch von Bedeutung, nicht ein­ mal die Frau, die er verloren hatte. Selbst den Kometen, der seit fast drei Wochen nicht mehr aus den Schlagzeilen weichen wollte, hatte Matt vergessen. Fliegen – Matthew Drax’ Leidenschaft. Was willst du mehr, Commander … Vielleicht war es Glück, was er in solchen Stunden im Cockpit empfand. Ganz sicher war es Glück. Matt blickte nach rechts. Dort, etwa sechzig Fuß entfernt, flog Lieutenant Jennifer Jensens Alpha 2. Der kobaltblaue Rumpf des Hochleis­ tungsjägers schien in der Luft zu stehen. Etwas wie Stolz überkam Matt, und er lächelte. Stolz, eine der modernsten Militärmaschinen der US Air Force zu fliegen. Die F-17 Alpha 2 war eine Weiterentwicklung der F-16 Fighting Falcon – zwar hatte es in den frühen Siebzigern bereits einen Prototypen namens Cobra mit der Ty­ penbezeichnung F-17 gegeben, jedoch ist dieser nie in Serie gegangen, sondern wurde alsbald von der F-16 und später der F-18 Hornet abge­ löst. Der logischen Reihenfolge zum Trotz, nach derer der neue Jet mit der Nummer F-24

hätte betitelt werden sollen, besann sich die Air Force auf die Nummer F-17, die eigentlich nie wirklich in Gebrauch war und fügte das Kennzeichen Alpha 2 an. Mit einer Steigleistung von fünfundsiebzig­ tausend Fuß war das teure Gerät für Einsätze in der Stratosphäre geeignet. In mittlerer Flug­ höhe, also etwa sechsunddreißigtausend Fuß über dem Meeresspiegel, betrug seine Höchst­ geschwindigkeit Mach fünf Komma zwei. Deutlich waren Helme, Sauerstoffmasken und Schläuche der beiden Piloten unter der Cockpitkuppel zu erkennen. Vorne auf dem Pi­ lotensitz saß die Kanadierin, hinter ihr auf dem Platz des Navigators der neue Mann in Commander Drax’ Team: David McKenzie. »Eagle 1 an Eagle 2, kommen«, funkte Matt Jensens Maschine an. »Ist der Radar sauber? Over.« »Kein fremdes Flugobjekt geortet. Over.« Die Stimme der Kanadierin erklang in Matts Helm­ funk. »Und wie gehts dem Professor, Eagle 2?« Hank Williams’ Stimme. Der Lieutenant saß hinter Matt auf dem Platz des Navigators. »Prächtig geht es mir, Eagle l, danke der Nachfrage.« Matt konnte erkennen, wie der Helm hinter Jenny sich neigte und eine Hand

winkte. Professor David McKenzie war Astro­ physiker. Er gehörte der Astronomie Division der US Air Force an, abgekürzt ADUSAF. In Berlin sollte er zusätzliche Flugerfahrung im Rahmen seiner Astronautenausbildung sam­ meln. Matt hatte ihn erst vor zehn Tagen, nach seinem abgebrochenen Urlaub kennengelernt. »Roger, Professor«, funkte Matt zurück. »Gleich wirds turbulent hier oben – da ist eine gute Stimmung nicht verkehrt. Over.« LuftNahkampf mit Bordkanonen – der letzte Teil des Manöverprogramms dieses Tages. McKen­ zies erste Luftkampfübung. Ohne Radarunter­ stützung der Bodenstation würden Eagle 1 und Eagle 2 sich gegen einen angreifenden Jäger zur Wehr setzen müssen. Selbstverständlich würde die Bodenstation in Köpenick den Kampf überwachen. Visuell saßen Major Bell­ mann und seine Stabsoffiziere quasi mit in den Cockpits: keine Dateninformation auf Matts Head-up-Display, die nicht auch auf den Moni­ toren der Leitstelle zu sehen war. Vermutlich hatte man dort unten den Angreifer längst ge­ ortet. »Ich hab ihn! Bei fünf Uhr. Over.« Lieutenant Williams’ Stimme tönte in Matts Helmkopfhö­ rern. Im nächsten Moment erschien der Ra­ darschirm auf dem Head-up-Display – das ge­

ortete Objekt war als kleiner grüner Punkt zu erkennen. »Eagle 1 an Eagle 2, kommen!« Matt gab die Position des georteten Aggressors durch. Auf dem Head-up-Display hatte er längst die Visua­ lisierung des feindlichen Jägers. Auch die Ge­ ländeformation, die Küstenlinien und das Meer zauberte die Computeranimation auf den Frontbereich der Kuppel. Die blieb dennoch transparent, sodass Matt hinter dem Bild noch immer die Sonne über dem Wolkenturm sehen konnte. Doch seine Aufmerksamkeit konzen­ trierte sich ganz auf den anfliegenden Gegner. Der jagte von Süden her über die Küstenlinie und zog eben in einem steilen Winkel nach oben. »Er ist direkt unter uns!«, rief Hank Wil­ liams. »Sticht hoch! Geschwindigkeit 820 Kno­ ten, 830, 840… Flughöhe 130 Fuß, 170… will sich hinter uns in Schussposition bringen! Gott – 210 Fuß…« Captain Irvin Chester besaß die Konstitution eines Bären. Jeder in der Staffel, im ganzen Geschwader wusste, dass er Beschleunigungs­ manöver mit klarem Kopf durchführen konn­ te, bei denen sieben bis acht g-wirksam wur­ den. Anderen trieb es bei solchen Gravitationskräften längst das Blut aus dem

Hirn. Captain Irvin Chester war der Aggressor – er steuerte die angreifende F-16, Lieutenant Williams’ Stimme bellte die Entfernung des Aggressors in den Helmfunk. Nur noch wenige hundert Fuß bis zur maximalen Schussdistanz. »Defensiver Abschwung!«, befahl Matt. Jensens Maschine kippte nach rechts weg und leitete eine Kehre ein, um hinter den Aggres­ sor zu gelangen. Matt zog steil nach oben, flog eine enge Schleife, und plötzlich befanden sich Meer- und Küstenstreifen über ihren Köpfen. Die Beschleunigungskräfte drückten ihn und Williams tief in die Sitze. Das Türkis des Mee­ res, das Braun des Küstenstreifens und das Grün der Wiesengebiete dahinter entfärbte sich, alles wurde grau. Matt atmete tief durch. Wach bleiben! Wach bleiben …! Er riss die Augen auf und fixierte die Computergrafik auf dem Head-up-Display. Wen würde der Aggres­ sor verfolgen – ihn oder Jensen? Egal wen Chester aufs Korn nahm, der Gegenangriff der zweiten Maschine war ihm gewiss. Chester flog einen Jo-Jo und zog sofort wie­ der hoch, um in die enge Kurve von Eagle 2 hineinzustechen, flog einen zweiten Jo-Jo, sackte ab und zog wieder hoch – und dann war er hinter Jenny … »O Scheiße!«, entfuhr es Matt.

»Acht Projektile im Ziel!« Die Bodenstation meldete sich; Major Bellmanns gepresste Stim­ me. »Gratuliere, Captain Chester! Ihre Zeit ist um, Lieutenant Jensen, halten Sie sich raus. Over.« Natürlich war die M-72-B-l-Bordkanone des Aggressors nicht wirklich mit Zwanzig-Milli­ meter-Geschossen geladen. Ein kleiner Pod in Rumpfnähe unter der linken Tragfläche, voll­ gestopft mit Elektronik, übertrug sämtliche Daten an die Bodenstation. Wie gesagt, sie sa­ ßen mit im Cockpit. Ihr Rechner hatten ihnen verraten, wann und wie lange Chester Eagle 2 im Visier gehalten und wann er abgedrückt hatte. »Na warte, Big Boy«, knurrte Matt. Auf dem Head-up-Display erschien nun das Bild des Bu­ gradars. Die grüne Visiergrafik lag über der Wolkenbank und knapp neben Chesters abdre­ hendem Jet. Matt beschleunigte und folgte ihm. Die blaue Silhouette von Tragflächen und Höhenruder rutschte ins Innere des grünen Rechtecks; am linken unteren Rand des Headup-Displays leuchteten die Buchstaben ACQ auf – Ziel erfasst. »Hol ihn runter! Hol ihn runter!« Hank war in seinem Element.

Matt drückte auf den Auslöser der Bordkano­ ne, doch vergeblich wartete er auf die Treffer­ meldung der Bodenstation. Chesters F-16 zog plötzlich steil nach oben. Während des Steig­ fluges drehte sich die Maschine über das Quer­ ruder um ihre Längsachse, sodass Matt nicht einschätzen konnte, in welche Richtung sie am Scheitelpunkt davonfliegen würde. Ein typi­ sches Chester-Manöver – der so genannte Im­ melmann. »Mistkerl!«, zischte Hanks Stimme in Matts Kopfhörer. Im Neunzig-Grad-Winkel zu Ches­ ters Steigflugkurs flog Matt eine weite Kurve. »Treibstoff auf vierundzwanzig Prozent!«, mel­ dete Hank Williams. »Entweder schießt du ihn jetzt ab, oder er holt sich uns, während wir auf Heimatkurs gehen müssen …« Chesters Maschine kippte vom Scheitelpunkt des Steigflugs nach Süden weg – und schaffte es tatsächlich, sich hinter Matt in Schusspositi­ on zu bringen. »Big Boy, du gerissener Fuchs«, zischte Matt. Blitzschnell zog er die Maschine nach rechts, ließ sie gleich darauf wieder nach links kippen und sie gleichzeitig ein Stück nach unten fal­ len. Befriedigt registrierte er, dass sein Aus­ bruchsversuch gelungen war: Der Aggressor befand sich jetzt nicht mehr in Schussposition

hinter ihm, sondern leicht seitlich nach oben versetzt. Matt wiederholte das schwindelerre­ gende Manöver – die so genannte Schere – noch ein paar Mal und kreuzte so schleifenar­ tig Chesters Kurs. Der Captain versuchte ähnli­ che Schleifen zu fliegen, um hinter Matt zu bleiben und wieder in Schussposition zu kom­ men, doch dann zog Matt seinen Jet so steil und unverhofft nach oben – nur wenige hun­ dert Fuß an Chesters Staurohr vorbei –, dass der Aggressor zu überholen gezwungen war. Mit dem nächsten Manöver setzte Matt sich hinter ihn. »Lass ihn nicht mehr aus dem Visier!«, brüll­ te Hank. Das Zielerfassungssymbol leuchtete auf und das grüne Rechteck verwandelte sich in einen grünen Kreis. »Feuer!«, schrie Wil­ liams. Matt drückte auf den Auslöser der Bord­ kanone … Wenige Sekunden später kam die Meldung der Bodenstation: »Glückwunsch, Eagle l!« Die Stimme des Kommandeurs. »Captain Chester – der Immel­ mann war eine Spur zu leichtsinnig.« Chesters Maschine tauchte links neben Eagle 1 auf. Matt zeigte dem Kameraden die geballte Faust.

In der Zentrale der Bodenstation fand dann die übliche Manöverkritik mit Major Bellmann statt – einem drahtigen Mann mit Silberhaar, dunklem Teint und nicht wesentlich größer als die zierliche Kanadierin. Er analysierte jede einzelne Flugbewegung, sprach alle erdenkli­ chen Alternativen durch und vergaß auch seine refrainartig runtergebetete Standardwarnung nicht: »Sie können sich keinen Fehler erlau­ ben, Gentlemen. Der erste Fehler, den Sie im Ernstfall begehen, kostet Sie das Leben und die US Air Force eine Maschine.« Wie immer sprach er die Staffel nur mit »Gentlemen« an. Das »Lady« wollte ihm nicht von der Zunge. Jenny Jensen trug es mit Fassung. Sie hatte fast drei Jahre Zeit gehabt, sich damit abzufin­ den. »Ich muss Sie noch einen Augenblick spre­ chen, Commander«, beendete der Major die Manöveranalyse. Und zum Rest der Staffel: »Ich danke Ihnen, Gentlemen.« »Du verkriechst dich heute Abend nicht in deine Bude und bläst Trübsal«, flüsterte die Kanadierin Matt zu. »Ich will dich im Zwiebel­ fisch sehen!« Der Major bat Matt in sein Büro. »Gut haben Sie das hingekriegt, Commander.« Er schloss die Tür hinter sich. »Sie sind ein ASS, Drax,

verdammt, das sind Sie …« Seufzend ließ er sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch fallen und wies auf den freien Stuhl davor. »Hoffentlich müssen Sie das nie im Ernstfall unter Beweis stellen.« Matt setzte sich. »Aber wenn man den Ge­ rüchten aus dem NATO-Hauptquartier Glau­ ben schenken darf, könnte der Ernstfall bald eintreten. Und gegen den Feind, der dann un­ sere Flugbahn kreuzen wird, nutzen auch die schönsten Flugkünste nichts.« Mit betretener Miene sah ihn der kleine Mann an. »Wie darf ich das verstehen, Sir?« Matt wuss­ te genau, wie er das zu verstehen hatte. Doch wie alle anderen auch mied er das Thema. Der Komet war allgegenwärtig, aber kaum einer sprach darüber. »Die Astronomie Division gibt die Kollisions­ wahrscheinlichkeit inzwischen mit über sechs­ undfünfzig Prozent an. Die Information fällt unter die Rubrik top secret. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie an die Öffentlichkeit dringt. Es gibt ja mittlerweile fast mehr Astro­ nomen auf der Welt als Soldaten.« Er seufzte. »Wie ich höre, wird ein Beschuss des Kometen erwogen. Von der Internationalen Raumstati­ on aus. Ein Shuttle-Flug wird vorbereitet.« »Deswegen ist McKenzie hier?«

»Jedenfalls soll für so eine Mission trainiert werden. Aber wenn Sie mich fragen, Drax – das verfluchte Ding hat angeblich einen Durch­ messer von mehreren Kilometern und …« Es klopfte an der Tür. Bellmanns Sekretärin steckte den Kopf herein. »Entschuldigen Sie die Störung, Major. Zwei Beamte des Bundes­ kriminalamtes wollen Commander Drax spre­ chen.« Der Major runzelte die Stirn. »Was haben Sie denn jetzt wieder ausgefressen, Drax?« Matt stand auf. »Falsch geparkt, Kaugummi auf die Friedrichstraße gespuckt – ich werds gleich erfahren …« Er verabschiedete sich von Bellmann und ging ins Nebenzimmer. Zwei Männer warteten dort auf ihn, der jüngere in weißer Leinenhose und schwarzer Lederjacke, der ältere in grauem Anzug und blauem Schlips. Ihre Namen rauschten an Matt vorbei. Er war plötzlich hellwach und ein ungutes Ge­ fühl nistete sich in seiner Magengegend ein. Auch er gehörte nicht zu den Menschen, die gern von der Polizei besucht werden. »Wir müssen Sie in einem Mordfall sprechen, Commander Drax«, begann der Ältere in lu­ penreinem Oxford-Englisch. »Die schwedische Polizei hat uns um Amtshilfe gebeten …«

Das ungute Gefühl in Matts Magengrube ver­ wandelte sich schlagartig in einen kalten Stein. Beryls Gesicht drängte sich vor sein inneres Auge. In knappen Worten berichteten die Be­ amten, dass die Schweden eine Frauenleiche gefunden hatten, auf einem Autobahnpark­ platz an der schwedischen Südküste. »Die Tote hatte einen Stadtplan von Berlin in ihrer Handtasche«, erklärte der Mann mit der Le­ derjacke. »Darauf fand sich eine handschriftli­ che Notiz mit Ihrem Autokennzeichen, Com­ mander, und Ihrem Namen …« Aus der NEW YORK POST, Donnerstag, 15. September 2011: PULVERFASS BRONX Gestern trafen sich Vertreter der Stadtregie­ rung und der Bürgerinitiative »Citizen Power« zu ihrer dritten Gesprächsrunde in den Räu­ men des Bronxer Selbsthilfebüros der Bürger­ initiative. Auch diesmal ging es um das geplan­ te Sanierungsprojekt für die Bronx. Wie erwartet ist auch diese Gesprächsrunde ge­ scheitert. Die Fronten scheinen hoffnungslos verhärtet zu sein. »Niemand reißt unser Stadtviertel ab!«, erei­ ferte sich der Vorsitzende der Bürgerinitiative, Diego Calypso. »Dem ersten Bagger, der hier

aufkreuzt, werde ich mich mit dem Kinderwa­ gen meines Jüngsten in den Weg stellen.« Ebenso entschlossen äußerte sich der Ver­ handlungsführer der Stadt-Verwaltung, Dr. Burt Cassidy: »Die alte Bronx ist eine Brutstät­ te des Verbrechens und der Armut. Außerdem platzt unsere Stadt aus allen Nähten – New York City braucht das neue Hochhausviertel. Notfalls werden wir unser Konzept mit Hilfe der Nationalgarde durchsetzen.« Kritiker wer­ fen Cassidy vor, solche Äußerungen seien ein Spiel mit offenem Feuer an einem Pulverfass. Allein dem unglaublichen Unterhaltungswert des neu entdeckten Kometen »ChristopherFloyd« ist es wohl zu verdanken, dass in diesen Tagen nicht ganz New York City den Atem an­ hält und gebannt auf die Bronx blickt … Bochum, 16. September 2011 Es war schwül; ein Gewitter lag in der Luft. Die wenigen Tische vor dem kleinen Imbisslo­ kal waren besetzt. Also betrat Herbert Fuchs den Innenraum der kleinen Grillstube. Es roch nach heißem Öl, nach Pommes und Brathähn­ chen. Und nach Zigarrenrauch. Ein dürres Mädchen mit grün gefärbtem Stoppelhaar und in weißer Schürze hantierte hektisch hinter der Theke an den Friteusen herum. Vor dem

Tresen hing ein alter Mann, klapprig und fahl, in fleckiger Anzughose und orangener Jacke, wie sie Straßen- oder Gleisbauarbeiter zu tra­ gen pflegen. Er trank Pils, rauchte Zigarre und mustere Herbert neugierig. »Curry-Wurst und Pommes Rot-Weiß.« Her­ bert hängte seine Leinentasche an eine Stuhl­ lehne. »Und ein Pils!« Behutsam legte er seine Gitarre auf einen Stuhl. Ein Fernseher lief über der Eingangstür in einem Wandregal. Werbung. Herbert kramte Tabak und Feuer­ zeug aus seiner Lederweste und den Stadtplan von Bochum. »Feierabend?« Der Zigarrenraucher an der Theke sprach verwaschen. Herbert nickte und breitete den Stadtplan vor sich aus. Ein Blick auf Julias Uhr – es war kurz vor neunzehn Uhr. Neun Stunden hatte er in der Fußgängerzone zugebracht. Gitarre gespielt und gesungen. Achtundsechzig Euro waren dabei zusammen­ gekommen. Zwölf weniger als gestern, aber trotzdem nicht schlecht. Seit zwei Wochen ver­ diente er auf diese Weise seinen Lebensunter­ halt. Noch war er nicht verhungert. Und für Tabak und Bier reichte es auch. Sogar für einen Joint ab und an. Herbert war Optimist und zuversichtlich, seine Parkbank Anfang

nächsten Monats mit einem möblierten Zim­ mer tauschen zu können. Er hatte nicht vor, für alle Zeiten in der Fußgängerzone vor sei­ nem offenen Gitarrenkoffer zu hocken und sein Blues-Repertoire auf und ab zu spielen. Bald würde es dafür zu kalt sein. Deswegen hatte Herbert sich einen Stadtplan gekauft. Er hatte einen Taxiunternehmer kennenge­ lernt, der noch Fahrer suchte. Eigentlich war das Taxigeschäft in Bochum fest in türkischer, polnischer und russischer Hand. Aber der Ta­ xiunternehmer suchte deutsche Fahrer. Also bereitete Herbert sich auf die Ortskenntnis­ prüfung vor und prägte sich die Straßen der Stadt ein. Eine aus alten Zeiten vertraute Erkennungs­ melodie aus dem Fernsehapparat ließ ihn auf­ sehen. Die Neunzehn-Uhr-Nachrichten. Die blonde Sprecherin des ZDF hatte einen großen, unglaublich frivolen Mund. Herbert machte ein wehmütiges Gesicht und seufzte so laut, dass der Zigarrenraucher am Tresen zu ihm herüber blickte. »Au weia«, lallte er. »Jetzt scheißense sich alle inne Hosen …« Herbert begriff nicht, wovon der Mann sprach. Er betrachtete den Mund der Nach­ richtensprecherin, wie er sich öffnete und schloss, wie er sich spitzte und seine Winkel

sich nach hinten zogen, während er die Namen irgendwelcher Politiker formulierte und Na­ men von Städten irgendwo in der Welt, in de­ nen sich diese Politiker trafen, um irgendwel­ che Dinge miteinander zu beraten. Dinge, die irgendwie wichtig zu sein schienen, denn die Sprecherin betonte diese Dinge, sprach lange über sie und ihr schönes Gesicht war ernster als es Herbert ihrem erotischen Mund angemessen zu sein schien. Die Namen der Städte hatte Herbert natürlich schon ir­ gendwann gehört – man vergisst ja nicht alles, wenn sie einen aus der Welt nehmen und in jahrelange Quarantäne stecken –, die Namen der Politiker allerdings waren ihm unbekannt. Im Knast hatte er zwar sämtliche Bände der Gefängnisbibliothek gelesen aber so gut wie nie Zeitung. Und den Fernsehraum hatte er ge­ mieden, weil dort regelmäßig ein paar Leute saßen, die nicht gut auf ihn zu sprechen waren. Aber so einen Mund kannte er, davon hatte er oft geträumt in seiner Zelle. Er versuchte sich die nackten Schultern der Frau vorzustellen, ihre Brüste unter ihrer weit ausgeschnittenen Bluse und schließlich die Körperöffnung an ihr, die ihn noch mehr interessierte als ihr traumhafter Mund. Doch dann wurde ein großer Platz eingeblendet, gesäumt von einer

Kathedrale und einem mittelalterlichen Ge­ bäude von imposanten Ausmaßen – der Kreml. Auch so ein Ding, das man selbst nach zehn Jahren Knast nicht vergaß. Herbert riss seinen Blick von der Mattscheibe los und fuhr darin fort, mit seinem Finger den Weg vom Haupt­ bahnhof zum Fußballstadion, Schauspielhaus und diversen Hotels nachzufahren. Das dürre Mädchen verließ seine Festung aus Tresen, Fri­ teusen und Grillspießen und stellte ihm Bier, Curry-Wurst und Pommes Rot-Weiß auf den Tisch. Herbert faltete seine Karte zusammen und machte sich über das Essen her. Auch von Curry-Wurst und Pommes Rot-Weiß hatte er im Gefängnis geträumt. Der Zigarrenraucher mit der orangenen Jacke stieß ein meckerndes Lachen aus. »Jetzt ham’se die Hosen voll«, griente er. Den Mund voller Pommes und Wurst dachte Herbert an Julia. Trotzdem sah er auf. Der Zigarrenmax fixier­ te ihn mit leuchtenden Augen und deutete gleichzeitig auf die Mattscheibe. Vor dem Hin­ tergrund einer weißen, klassizistischen Säu­ lenfassade sprach ein Mann in ein Gestrüpp von Mikrofonen. Das Capitol – der Knast mochte den Charakter verderben, aber nicht das Bewusstsein für die wesentlichen Eckdaten

menschlicher Existenz. Den ältlichen Herrn vor den Mikrofonen kannte Herbert nicht. Er erinnerte ihn allerdings an einen Schauspieler, den er in seinem ersten Leben in verschiede­ nen Filmen gesehen hatte. Eine Zeitung lag auf dem Nachbartisch, ein Anzeigenblatt. Herbert stand auf und griff sich das Blatt. Während des Essens blätterte er die Zeitung nach Mietange­ boten durch. »Ho, ho – jetzt kommtet große Muffensau­ sen.« Der Zigarrenraucher knallte sein leeres Glas auf den Tresen. »Noch’n Pils, Mademoi­ selle.« Kaum Wohnungsangebote – Herbert wunder­ te sich. Dafür wollten die Leute alles Mögliche verkaufen, und eine Menge Wahrsager, Kar­ tenleger und dergleichen inserierten. »Dat is die Strafe!« Der Alte am Tresen fiel in den Predigertonfall. »Dat is die Strafe der Götter!« Er schwenkte die Hand mit der Zigarre über dem Kopf. »Dat ham’se nu davon!« Herbert blickte ihn fragend an. »Na, der Komet!« »Wieso Komet?« Die Nachrichtensprecherin erschien wieder auf dem Bildschirm. Herbert betrachtete sie.

»Wat, Junge, hasse noch nich gehört?« Natürlich hatte er. Gleich am Tag seiner Haft­ entlassung. Nur begriff Herbert nicht, was das mit Politikerkonferenzen und mit einer »Stra­ fe der Götter« zu tun haben könnte. Der leckere Mund verschwand wieder von der Mattscheibe und ein knochiges Männergesicht erschien darauf. Die Glubschaugen und die hektische Gestik des Mannes faszinierten Her­ bert, und er stopfte sich Pommes und CurryWurst in den Mund, ohne seinen Blick vom Fernsehgerät zu wenden. Der Name des Mannes wurde eingeblendet: Professor Dr. Jacob Smythe, von irgendeinem astronomischen Dingsbums. Astrophysiker und Mediziner, »… selbstver­ ständlich erschrecken wir vor so einer Mög­ lichkeit. In unserem begrenzten Horizont exis­ tiert so ein astronomisches Ereignis doch gar nicht, nur in Science-Fiction-Filmen schlagen Kometen ein, verstehen Sie? Gemessen an den Zeitspannen des Universums haben wir das Zeitbewusstsein einer Eintagsfliege …« Herbert ließ die Zeitung sinken und legte die Gabel in seinen Teller. Wie von selbst fuhr sei­ ne Hand in die Lederweste und zog den Tabak heraus.

»… aber so etwas kommt eben vor«, übersetz­ te der Dolmetscher den lebhaft gestikulieren­ den Glubschaugen-Mann, »alle zehntausend Jahre mal ein kleiner Fünfzig-Meter-Brocken, alle sechzig, siebzig Millionen Jahre mal ein großer Meteorit, wie der, der eine so vitale und weitverbreitete Gattung wie die Dinosau­ rier ausgelöscht hat … ganz normal, nur nicht für Eintagsfliegen.« Wieder knallte der Zigarrenraucher sein lee­ res Glas auf den Tresen. »Ausgelöscht!«, grien­ te er. »Jetzt scheißense sich inne Hose! Noch’en Pils!« Wie in Zeitlupe zündete Herbert sich seine Zi­ garette an. Keinen Augenblick ließ er den Blick mehr von dem glubschäugigen Knochengesicht auf dem Bildschirm, kein Wort ließ er sich ent­ gehen. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will den Teufel nicht an die Wand malen. Unser Präsi­ dent hat Recht, wenn er vor Panik warnt, aber er weiß auch, dass wir uns vorbereiten müs­ sen. Immerhin kann eine Kollision nicht ganz ausgeschlossen werden …« Die blonde Nachrichtensprecherin erschien wieder auf der Mattscheibe. Herbert sah sie und sah sie doch nicht. Er blickte durch das Fernsehgerät hindurch; nicht einmal der frivo­

le Mund der Frau konnte seinen Blick aufhal­ ten. Panik … Meteorit … Einschlag … Ein Ka­ russell von Wortfetzen drehte sich in seinem Hirn. Dinosaurier … Kollision … vorbereiten … »Wat glaubse wohl, Mann, warumse jetz überall so’n Stress machen, ha?« Der Alte fuch­ telte mit seiner Zigarre herum. »Weilse mehr wissen als wir! Weilse wissen, wasse Stunde geschlagen hat!« Herbert griff nach seinem Bierglas und leerte es mit einem Zug bis zur Hälfte. »Prost!«, rief ihm der Zigarrenraucher zu. Er stieß sich vom Tresen ab. Das Pilsglas in der Rechten, die Zigarre in der Linken torkelte er in die Mitte des kleinen Raumes. »Die Strafe der Götter, sach ich, Mann!« Er schwankte; das Gebrüll seiner eigenen Stimme schien ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Die Strafe der Götter! Weilsen Hals nicht voll kriegen konn­ ten!« Herbert leerte sein Glas und kramte zwei Münzen aus seiner Westentasche. »Was heißt hier ›sie‹?« Das dürre Mädchen hinter dem Tresen mischte sich ein. »Wir! Dir fällt das Ding doch genau so auf den Kopf wie denen!« Sie hielt einen Zettel über dem Kopf. »Und voll kriegst du den Hals auch nicht! Du

zahlst deine Schulden, bevor du gehst! Und ab heute wird nicht mehr angeschrieben …« Herbert nahm seine Tasche und seine Gitar­ re. Er zahlte und verließ den Imbiss. Die nicht mal halb gegessene Curry-Wurst mit Pommes Rot-Weiß ließ er stehen. Auch den Stadtplan vergaß er. Es war ziemlich düster draußen auf der Stra­ ße. Nicht, weil es schon dämmerte – dazu war es noch zu früh –, sondern weil der Himmel sich mit schwarzen Gewitterwolken bedeckt hatte. Drückende Schwüle lag in der Luft. Men­ schen saßen wie reglos an den Tischen in Im­ bissen und Straßencafes, ein Strom von Fuß­ gängern, Fahrradfahrern und Müttern mit Kinderwagen wälzte sich durch die Fußgänger­ zone. Irgendwie langsamer als er es nach Her­ berts Gefühl hätte tun müssen. Er kam sich vor, als hätte er sich in einen Film verirrt. Vor einem Schaufenster blieb er stehen. Ein Reisebüro. Seine Augen flogen über die Plaka­ te mit den aktuellen Angeboten. Tagesreise nach Würzburg, Stadtbesichtigung, Einkaufs­ bummel und Besuch des Observatoriums, Blick auf »Christopher-Floyd« garantiert. Eine Woche in der Sierra de Los Filabres ein­ schließlich Bergwanderung auf den CalarAlto mit Besichtigung des deutsch-spanischen

astronomischen Zentrums. Flugreise nach Edinburgh mit Besuch des Royal Observatory und Beobachtung des Kometen durch die Spiegelteleskope des Royal Observatory an drei Tagen … Drei Häuser weiter ein Kiosk. Herbert kaufte sich eine Dose Bier und vier Zeitungen. Auf ei­ ner Bank blätterte er sie durch und verschlang die Berichte über den neu entdeckten Kome­ ten. Er las sie sehr gründlich und manche zweimal. Als er die letzte Zeitung zusammen­ faltete, begann es zu donnern. Er trank sein Bier und rauchte Zigaretten dazu. Er dachte an seine Gefängniszelle, an die vielen Jahre seines Lebens, die er verloren hatte, an Julia, an die Parkbank, die auf ihn wartete, und an den Ko­ meten. »Zehnter Februar …«, murmelte er. »Das sind ja … das sind ja nicht einmal mehr vier Monate …« Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Er hatte eine sehr konkrete Vorstellung da­ von, wie lang zehn Jahre sein konnten – doch vier Monate …? Ein Augenblick, nicht mehr. Er stand auf. Bierdose und Zigarette in den Händen überquerte er die Fußgängerzone. Vier Monate … Vier Monate Straßenmusiker, vier Monate Taxi fahren, vier Monate Trauer um Julia … Vor einer dunkel glänzenden Mar­

morfassade blieb er stehen. »Nee …«, murmel­ te er. »Nee, nicht mit mir.« SPARKASSE stand über dem palastartigen Eingangsportal der Fassade. »Nicht mit Herbert Fuchs …« Es begann zu regnen. Aus dem Abschlussbericht der Kripo Karls­ hamn, Südschweden, 16. September 2011: … die Tote – Nordström, Beryl, geb. 3.11.1977, wohnhaft in Stockholm, Kungsgatan 43, freie Journalistin – wurde im Kofferraum ihres Vol­ vos auf einem Parkplatz an der E 22, Nähe An­ schlussstelle Elleholm gefunden. Die Leiche war nackt und an Händen und Füßen gefesselt. Der Tod trat durch Blutverlust infolge einer zwölf Zentimeter langen, klaffenden Schnitt­ wunde zwei Fingerbreit oberhalb des Kehlkop­ fes ein. Zuvor wurde das Opfer mehrfach ver­ gewaltigt. Ein Drohbrief, den man in der Wohnung der Toten fand, macht einen sexuell motivierten Mord wenig wahrscheinlich. Die der rechtsex­ tremen Musikszene (»Black Metal«) naheste­ hende Gruppe »Lokis Krieger« kündigt Frau Nordström in besagtem Beweisstück nicht nur den Mord sondern auch die Tatwaffe an; s.o.

Die Ermittlungen im Dunstkreis der nord­ schwedischen Black-Metal-Szene laufen. Meh­ rere Gruppierungen, darunter auch »Lokis Krieger« werden seit Jahren observiert, da sie in Zusammenhang mit Morddrohungen und Gewalttaten gegen Personen des öffentlichen Lebens stehen. Die Aktivitäten namentlich von »Lokis Krie­ gern« haben in den letzten drei Wochen erheb­ lich zugenommen. Die Extremisten machen sich die Hysterie zunutze, die weite Teile der Bevölkerung wegen der erdnahen Passage des neu entdeckten Kometen erfasst hat. Nach ih­ ren jüngsten Verlautbarungen im Internet und in einschlägigen Presseorganen stellen die Ex­ tremisten einen Zusammenhang zwischen dem Himmelskörper und dem Ragnarök her, dem großen Weltenbrand der nordischen Götter­ mythologie, und rufen sogar offen zu staats­ feindlichen Terroraktionen auf … London, 18. September 2011 Die Royal Albert Hall war bis auf den letzten Platz besetzt. Wie jedes Jahr an diesem spezi­ ellen Sonntag. Archer und Esther Floyd saßen in einer der hinteren Reihen. Die Plätze der vorderen Reihen waren den Prominenten und den Würdenträgern des Empires vorbehalten.

Nicht umsonst hatte der Volksmund diesen Abend schon vor vielen Jahren Last Night of the Proms genannt. Der Abschlussabend der Londoner Promenadenkonzert-Saison. Fast je­ des Jahr reisten die Floyds und Marc Christo­ pher von Edinburgh nach London, um dieses letzte Konzertwochenende vor Ort zu erleben. Wenn nicht gerade eine wesentliche Astrono­ menkonferenz auf dem Programm stand. Das Royal Philharmonie Orchestra spielte den letzten Satz von Beethovens Siebter Sym­ phonie. Christopher hatte sich unter die vielen Menschen gemischt, die im Eingangsbereich einen Stehplatz ergattert hatten. Zwei alte Stu­ dienfreunde waren ihm über den Weg gelau­ fen. Die Musik rauschte an Floyd vorbei. Er kam sich allein vor unter den vielen Menschen, fast als hätte er kein Recht hier zu sein. Esthers Hand lag in seiner. Sie fühlte sich an wie ein Fremdkörper. Manchmal, wenn sie sich zu ihm beugte, um ihm Kommentare über Musik oder Garderobe anderer Frauen ins Ohr flüstern, meinte er für Augenblicke, Sue würde neben ihm sitzen. Wie eine Gewitterwolke hallte der Schlussak­ kord der Symphonie durchs Kuppelgewölbe. Dann erhob sich donnernder Applaus.

Mehr und mehr Menschen erhoben sich. Auch Esther Floyd sprang auf und klatschte be­ geistert. Archer blieb auf seinem Platz sitzen. Eher reflexartig bewegte er seine Hände. Er war nicht mehr der Alte seit ihrer Rück­ kehr aus Jamaika. Christopher übrigens auch nicht, aber aus ganz anderen und sehr naheliegenden Grün­ den – er war verliebt. Für beide hatte der Schulstress wieder begonnen, beide wurden fast täglich von Medienleuten angerufen, und beide hatten schon Dutzende von Interviews absolviert. Während sein Freund die unverhoffte Popu­ larität genoss, spürte Archer Floyd das wach­ sende Bedürfnis, sich auf eine abgelegene Schafsfarm des schottischen Hochlandes zu­ rückzuziehen. Und vorher noch den Stinkefin­ ger in eine Kamera von BBC zu halten. Während Marc Christopher aufgeblüht war in den letzten Wochen, verkroch sich Floyd mehr und mehr in sich selbst. Nichts berührte ihn wirklich. Außer dem verdammten Lichtfleck, der sich in seinem Schädel pausenlos von der leuchtenden Silhouette des Saturns löste. Der schon abklingende Applaus schwoll er­ neut an – frenetischer noch und von Hochru­ fen begleitet: Der König trat an das Redner­

pult. Das Grußwort des Monarchen leitete den Abschluss der Konzertsaison ein. Floyds Gedanken kreisten um Christopher. Er hielt ihn für einen unverbesserlichen Optimis­ ten. So wie die meisten Optimisten besaß er die Fähigkeit, die Schattenseite einer Sache ein­ fach auszublenden. Zum Beispiel die Spekula­ tionen über eine nicht ganz unwahrscheinliche Kollision des Kometen mit der Erde. In dieser Hinsicht schien sowieso die Mehrheit der Men­ schen Optimisten zu sein. Auch der König – mit keinem Wort ging er auf den Kometen ein. Archer hörte zwar nur mit halbem Ohr zu, aber sein eigener Name aus königlichem Mund hatte ihn aufhorchen lassen. Floyd blickte über die Köpfe der Menschen hinweg auf die Bühne, wo Charles I. am Red­ nerpult stand und wo hinter dem Monarchen die Musiker des Royal Philharmonie Orche­ stra saßen. Doch er sah all das kaum – er sah den Sternenhimmel und den Lichtfleck neben Saturn. »Christopher-Floyd« … Es gab Zehntausende von Männern und Frau­ en auf der Welt, die ihre Zeit damit totschlu­ gen, den Sternenhimmel mit Teleskopen abzu­ suchen. Viele von ihnen hatten es sich zum Lebensinhalt gemacht, einen unbekannten Ko­ meten zu entdecken und sich auf diese Weise

zu verewigen. So genannte Kometenjäger. Floyd aber hatte weiter nichts gewollt als sei­ nen Lieblingsplaneten zu beobachten und ein bisschen die Welt und sein festgefahrenes Le­ ben in ihr zu vergessen. Deswegen hatte er sein neues Meade-Teleskop auf den Blue Mountain Peak hinauf geschleppt. Und jetzt waren sein und Marc Christophers Namen jeden Tag in Zusammenhang mit dem möglichen Ende der menschlichen Gattung zu lesen oder zu hören. Floyd fragte sich, wie sein Freund es anstellte, unter solchen Umständen sein sonniges Gemüt zu bewahren. Machte Lie­ be wirklich dermaßen blind? Floyd jedenfalls fühlte sich von Tag zu Tag beklommener. Applaus klang auf. Der König hatte sein kurz­ es Grußwort beendet. Nach und nach erhoben sich die Leute von ihren Plätzen und jubelten Charles I. zu. Floyd hatte kaum ein Wort seiner Ansprache registriert. Er fühlte sich beobach­ tet und wandte sich nach links. Der besorgte Blick seiner Frau traf ihn. Floyd versuchte zu lächeln. Mehr und mehr Leute zogen Fähnchen mit dem Union-Jack hervor und begannen sie zu schwenken. Ein Blitzlichtgewitter tobte durch die Royal Albert Hall. Unzählige laute Stimmen flossen zu einem hymnischen Sprechchor zu­

sammen: RuleBritannia. Die Stunde der Tradi­ tionalisten. Rule Britannia, brüllten sie, als wäre Europa nur ein Wort auf der Weltkarte. Manche Gewohnheiten waren schwerer abzu­ legen als das Rauchen oder das Trinken. Selbst Esther neben ihm brüllte sich die Stimme hei­ ser. Floyd wandte sich um. Er hätte gern ge­ wusst, ob Christopher ebenfalls ein Fähnchen schwenkte und Rule Britannia brüllte, aber er konnte ihn nirgends in der Menge entdecken. Fähnchen schwenken und nationalistische Pa­ rolen brüllen – das würde uns nicht einmal ein Kometeneinschlag austreiben … Der Gedanke belustigte Floyd. Eine Männerstimme hob sich plötzlich vom rhythmischen Gebrüll ab. Sie dröhnte aus der Lautsprecheranlage, eine ziemlich hektische Stimme. Der Sprechchor verlor an Kraft und splitterte sich auf. Jetzt konnte man die Män­ nerstimme verstehen. »SO SPRICHT DER HERR«, sagte sie. Floyd horchte auf. »… DA GESCHAH EIN GROSSES ERDBEBEN UND DIE SONNE WURDE FINSTER WIE EIN SCHWARZER SACK …« Nur noch aus verein­ zelten Gruppen war jetzt das Rule Britannia zu hören. Die Fähnchen senkten sich nach und nach, der Sprechchor fiel in sich zusammen.

»… UND DER GANZE MOND WURDE BLUT …« Floyd stieg auf seinen Stuhl, um den Redner sehen zu können. Die stehende Menge verdeckte ihm die Sicht auf die Bühne. Floyd war nicht gerade ein Rie­ se, wie gesagt. »… UND DIE STERNE DES HIM­ MELS FIELEN AUF DIE ERDE …« Ein hagerer Mann in dunklem Anzug und mit grauem Bart stand am Rednerpult. Seine Stimme über­ schlug sich; in der Rechten hielt er ein aufge­ schlagenes Buch. »… WIE EIN FEIGENBAUM SEINE FEIGEN ABWIRFT, WENN ER VON STARKEM WIND BEWEGT WIRD …« Mit sei­ nem ausgestreckten Zeigefinger zersäbelte der Graubart die Luft über seinem Kopf, und als müsste er die Sätze aus sich herauspressen, wippte er bei jedem Wort auf den Zehenspit­ zen auf und ab. Der Lichtfleck in Floyds Schädel leuchtete plötzlich heller als der Saturn, und was der Mann dort vorn auf der Bühne ins Mikrofon schrie, drang tiefer in ihn ein als alles, was er in den letzten Wochen gesehen und gehört hat­ te. Fast so tief wie sein eigener Name, wenn er ihn auf den Titelseiten der Zeitungen las. »… UND DER HIMMEL WICH WIE EINE SCHRIFTROLLE, DIE ZUSAMMENGEROLLT

WIRD …« Es war still geworden in der Royal Albert Hall. »… UND ALLE BERGE UND IN­ SELN WERDEN WEGBEWEGT VON IHREN ORTEN …« Bewegung kam in die vorderen Reihen der noch immer stehenden Zuhörer. Floyd sah Männer in blauen Uniformen an der Bühne entlang laufen. Ordnungskräfte. Bald knallten ihre Stiefelsohlen über die Bühne. »… UND DIE KÖNIGE AUF ERDEN UND DIE GROSSEN UND DIE OBEREN UND DIE REICHEN UND DIE GEWALTIGEN UND ALLE SKLAVEN UND ALLE FREIEN VERBERGEN SICH …« Die Ord­ ner erreichten das Rednerpult. Sie rissen den Mann vom Mikrofon weg. »… IN DEN KLÜF­ TEN UND FELSEN DER BERGE UND SPRA­ CHEN …« Sie packten den Prediger und zerrten ihn über die Bühne. Das Buch fiel ihm aus der Hand, und obwohl fest im Griff kräftiger Ord­ nerarme schrie er noch immer seine skurrile Botschaft hinaus. Aber man konnte sie nicht mehr verstehen. Geraune und Gemurmel erhoben sich wie leichte Brandung. Die Leute begannen zu tu­ scheln, Gelächter wurde laut. Floyd stand wie angefroren auf seinem Stuhl. Der Dirigent eilte

aufs Podium, flüsterte mit seinem ersten Gei­ ger und hastete ans Dirigentenpult. Mozarts Kleine Nachtmusik ertönte. BravoRufe wurden laut und Beifall. Jemand fasste nach Floyds Hand und zog ihn vom Stuhl. Seine Frau … Später fuhren sie schweigend durch die Nacht. Esther steuerte den Rover der Floyds. Die Männer hatten viel zu viel getrunken. »Man muss schon ziemlich verrückt sein, um bei so einer Veranstaltung die Bühne zu stür­ men«, sagte Floyds Frau irgendwann. »Und dann noch öffentlich aus der Bibel vor­ zulesen.« Floyd, neben ihr auf dem Beifahrer­ sitz, starrte durch die Windschutzscheibe auf die nächtliche Autobahn. Aus den Augenwin­ keln nahm er wahr, wie Esther den Kopf schüt­ telte. »Verrückt … die Johannes-Offenbarung in der Royal Albert Hall. Euer Komet macht die Leute verrückt.« Euer Komet … Floyds Nackenhaare richteten sich auf. Wieder verstrichen Minuten des Schweigens. »Stell dir vor, er kollidiert tatsächlich mit der Erde.« Christophers Stimme erklang plötzlich aus dem Fond des Wagens. Floyd zuckte zu­ sammen. »Schon die Möglichkeit eines solchen

Ereignisses verrückt alle Maßstäbe, natürlich tut sie das.« Seine Stimme klang sachlich, ohne eine Spur von Pathos oder Furcht. Floyd war überrascht. Er drehte sich zu sei­ nem Freund um. »Habt ihr denn keine Angst?«, fragte er heiser. »Nein«, sagte Esther. »Warum auch? Ein Me­ dienereignis, weiter nichts. Euer Komet wird an uns vorbei fliegen und sang- und klanglos im All verschwinden.« Floyd antwortete nichts. »Ich habe gekündigt«, sagte Christopher un­ vermittelt. Jetzt war Esther sprachlos, und Floyd flüster­ te: »Was hast du?« »Gekündigt.« Scheinwerferkegel von der Ge­ genfahrbahn glitten durch das Wageninnere, und Floyd konnte sehen, dass sein Freund lä­ chelte. »Ich quittiere den Schuldienst. Anfang Oktober fliege ich nach Florida – zu Vivian.« »Du bist … du bist wahnsinnig.« Floyd war er­ schüttert. »Schon möglich, Archie.« Christopher zuckte mit den Schultern. »Ich habe mir einfach vorgestellt, der Komet würde im Februar wirklich mit der Erde zu­ sammenstoßen – und ich Idiot hätte das letzte Vierteljahr meines Lebens einfach so weiterge­ macht wie bisher.« Wieder lächelte er. »Ich

habe mich entschieden, wenigstens einmal im Leben das zu tun, was ich wirklich tun will. Nenne es Wahnsinn, wenn du magst.« »Du machst einen großen Fehler, Marc!« Floyd wurde laut. »Niemand weiß, was wirk­ lich geschehen wird! Wahrscheinlich wird der Komet vorbeiziehen und alles so bleiben wie es ist – dann hast du deine Existenz ruiniert!« »Es gibt Zeiten im Leben, da bleibt einem gar nichts anderes übrig als ein Risiko einzuge­ hen.« Völlig ruhig sprach Marc Christopher, wie ein Mann, der mit sich selbst im Reinen war. »Sollte Ende Februar nächsten Jahres tat­ sächlich alles beim Alten geblieben sein, dann habe ich in der Tat einen Fehler gemacht. Aber diesen Fehler würde ich mir eher verzeihen als den zweiten, den ich begehen könnte: Nichts zu tun, im alten Trott weiterzumachen und dann im Februar, falls der Komet einschlägt, meiner vertanen Chance nachzutrauern.« »Um Gottes willen, Marc!«, rief Esther. »Denk noch mal in Ruhe über alles nach! Das ist doch vollkommen verrückt, was du da vorhast!« »Wie gesagt«, lächelte Christopher, »der Ko­ met verrückt alle Maßstäbe …« »Ich glaub es nicht …«, stöhnte Floyd. Er sank tief in seinen Sitz und starrte durch die Wind­

schutzscheibe in die Nacht hinaus. »Ich kann es einfach nicht glauben …« Sie sprachen kein Wort mehr miteinander, die ganze Fahrt über nicht. Der Morgen graute bereits, als sie Edinburgh erreichten. Sie setz­ ten Christopher vor dessen Haus ab und fuh­ ren in ihre Wohnung. Floyd ging nicht mehr schlafen. In seinem Ar­ beitszimmer suchte er seine Bibliothek nach einer Bibel ab. Er fand sie in einem Regalfach, wo er Bücher über Mythologie, Kulturge­ schichte und Sekten eingeordnet hatte. Staub schwebte auf den Teppich, als er den Buch­ rücken anblies. Er legte das schwarze Buch auf seinen Schreibtisch und schlug die Offenba­ rungen des Johannes auf. Aus einem Grund, den er selbst nicht verstand, interessierte ihn das Ende des Textes, den der verrückte Predi­ ger in die Royal Albert Hall hinein gebrüllt hat­ te. Im sechsten Kapitel stieß er auf den Text und auf die Worte, die im Getümmel auf der Bühne untergegangen waren. Sie lauteten: … UND SPRACHEN ZU DEN BERGEN UND FELSEN: FALLT ÜBER UNS UND VERBERGT UNS VOR DEM ANGESICHT DESSEN, DER AUF DEM THRON SITZT, UND VOR DEM ZORN DES LAMMES! DENN ES IST GEKOM­

MEN DER GROSSE TAG IHRES ZORNS, UND WER KANN BESTEHEN? Aus der WASHINGTON POST vom Dienstag, dem 25. September 2011: … Nicht nur die Baubranche wettert gegen die geradezu epidemische Hysterie wegen der nicht abreißenden Spekulationen über eine Kollision der Erde mit dem Kometen »Christo­ pher-Floyd«. Auch die Versicherungsunter­ nehmen stehen unter dem Schock – man muss es so drastisch formulieren – schwindelerre­ gender Umsatzeinbrüche. Nur noch eine Min­ derheit der US-Bürger denkt offensichtlich daran, ihr Haus, Eigentum, ja sogar ihre Ge­ sundheit gegen die Unbill widriger Lebensum­ stände versichern zu lassen. Nicht verwunder­ lich angesichts eines Katastrophenszenarios, wie es von einer wachsenden Schar selbst er­ nannter Experten gezeichnet wird. Kranken-, Hausrats- und Unfallversicherer sehnen den 10. Februar kommenden Jahres herbei, an dem »Christopher-Floyd« endlich die Erdbahn gekreuzt und der Spuk ein Ende haben wird. Besonders hart trifft es die Lebensversiche­ rer. Bei »Fireman’s Fund« zum Beispiel ist die Anzahl der seit dem 1. September neu abge­ schlossenen Verträge sage und schreibe gleich

null. Lange geplante Investitionen müssen auf Eis gelegt werden. Und damit noch nicht genug der Hiobsbotschaften: Fast 12 Prozent der bei »Fireman’s Fund« abgeschlossenen und teil­ weise schon seit Jahrzehnten laufenden Ver­ träge wurden seit Monatsbeginn gekündigt. Nicht viel besser ergeht es anderen großen Häusern in den Vereinigten Staaten und Euro­ pa. Um das Ausmaß der Hysterie zu begreifen, muss man sich vor Augen führen, dass jeder Versicherungsnehmer im Schnitt 2100 Dollar Gewinn einbüßt, wenn er seine Police vorzeitig kündigt. Man kann der Regierung nur dringend raten, ihre Experten an die kurze Leine zu nehmen. Die jüngsten Mutmaßungen des Chefs der Astronomie Division der Air Force, Prof. Dr. J. Smythe über eine Kollisionswahrscheinlich­ keit von fast fünfundfünfzig Prozent tragen si­ cher nicht zur Börsenstabilität und zum Wirt­ schaftswachstum unseres Landes bei. Andererseits: Was nützt alle Besonnenheit von offizieller Seite, wenn die halbe Fern­ sehnation auf Medienstars wie den Moderator Timothy LaHaye starrt? Der verstieg sich in seiner gestrigen Talk-Show zu dem Satz »Stellt den Sekt kalt, Weltveränderer aller Völker! ›Christopher-Floyd‹ ist im Anflug – er wird die

Welt so gründlich verändern, wie ihr es euch in euren kühnsten Träumen nicht vorstellen könnt!« Berlin, 30. September 2011 Sie saßen beim Mittagessen in der Kantine der Luftwaffenbasis Berlin-Köpenick. »Big Boy« Chester holte sich gerade seine dritte Portion. Jenny Jensen schnitt die durchwach­ sene Hälfte ihres Steaks ab und legte es Hank Williams auf den Teller. Die Kanadierin verab­ scheute Fett, Williams liebte es. McKenzie er­ zählte Matt von der ersten Phase seiner Astro­ nautenausbildung in Florida. Wortreich und mit leuchtenden Augen schilderte er seine Mo­ nate in Cape Canaveral, und nicht zum ersten Mal merkte Matt, dass er es in dem Astrophysi­ ker mit einem Mann zu tun hatte, der, bei dem, was er machte, mit Haut und Haaren dabei war. Das integrierte Handy seines Fliegeranzugs vibrierte. Eine Frauenstimme meldete sich, die Telefonzentrale. »Ich hab hier einen Anruf aus New York City für Sie, Commander Drax.« »Legen Sie ihn auf den Apparat des Küchen­ chefbüros.« Matt stand auf und lief in die Kan­ tinenküche hinein. Der Küchenchef streckte

ihm schon das Telefon entgegen. Burt Cassidy war in der Leitung. Wie es Matt gehe, wollte er wissen, und ob er etwas von Liz gehört hätte – was nicht der Fall war –, und nach ein paar Sätzen rückte er mit der Frage heraus, was Matt von der Aufregung über den neu entdeckten Kometen halte. »Alle Welt hat Angst«, sagte Matthew. »Ich auch. Aber es fällt verdammt schwer, der Mög­ lichkeit einer Apokalypse in die Augen zu se­ hen. Und du? Was hältst du von der Aussicht, deinen vierunddreißigsten Geburtstag viel­ leicht nicht mehr zu erleben?« Burt hatte am 29. Mai Geburtstag. »Ich werd ihn erleben, Matt, verlass dich dar­ auf. Und du wirst ihn mit mir feiern. Wir hier in New York City sehen der schlimmsten aller Möglichkeiten ins Auge.« Matt horchte auf – eine Menge Andeutungen in nur drei Sätzen. »Und was heißt das kon­ kret, alter Freund?« »Darüber kann ich jetzt nicht reden.« Schon wieder eine Andeutung. »Ich hab im Augen­ blick eine Menge Mist am Hals …« Er berichte­ te von seinen Sorgen wegen des Sanierungs­ projekts in der Bronx. Aus der Presse wusste Matt längst, dass es in der Bronx fast täglich zu

Demonstrationen mit gewalttätigen Ausschrei­ tungen kam. Manhattan saß auf einem Pulverfass. »Kommst du vor Jahresende noch einmal nach Kalifornien?«, wollte Burt am Schluss des Ge­ spräches wissen. »Auf jeden Fall«, sagte Matt. »Ich will mit Liz über die Trennung reden.« »Ich bin da, wenn ihr mich braucht.« Sie ver­ abschiedeten sich. Ab 14:00 Uhr standen Luftkampfübung im Flugsimulator auf dem Programm. Keiner aus Matts Staffel wurde abgeschossen. Major Bell­ mann war zufrieden, und Matt war es auch. Am späten Nachmittag traf sich Matthew dann mit den beiden schwedischen Kripobeamten. Alles wollten sie von ihm wissen – wo er Beryl zum ersten Mal begegnet war, ob ihm Leute aufgefallen wären, die sie möglicherweise be­ schattet hatten, wie lange er in Malmö mit ihr zusammen gewesen war, und so weiter. Mit stoischen Mienen nahmen sie seine Aussagen zu Protokoll. Nicht einmal als Matt die drei Tage ansprach, die er und Beryl in ihrem Ho­ telzimmer verbracht hatten, zuckte einer der glatten Burschen mit Mundwinkel oder Augen­

braue. Glücklicherweise nicht, denn diese Ge­ schichte war Matt mehr als peinlich. Er wollte wissen, ob es bereits eine Spur gab. Die Beamten zeigten sich wortkarg. Immerhin erfuhr Matt von dem Drohbrief, den man in Beryls Wohnung gefunden hatte, und den Na­ men der rechtsextremen Gruppierung, die ihn verfasst hatte: »Lokis Krieger«. Wie eine Klette in einem Wollpullover setzte sich dieser Be­ griff in seinem Kopf fest. Liz’ Anruf erreichte ihn am frühen Abend. Matt fiel aus allen Wolken, als er ihre Stimme aus dem Telefon hörte. »Wo warst du, Liz? Wie oft habe ich versucht dich zu erreichen! Wo hast du gesteckt?« »War beruflich unterwegs«, sagte sie knapp. Früher hatten ihn diese vagen Antworten auf die Palme gebracht, jetzt blieb er ruhig. Sie hatte sich entschieden, sie konnte tun und lassen was sie wollte, Punkt. »Ich hatte schon den Flug nach Los Angeles gebucht. Wir hätten reden sollen.« »Wir haben so viel geredet, Matt. Es ist alles gesagt.« »Für mich noch nicht«, entgegnete er trotzig. »Aber ich kann dich nicht zwingen, du bist frei. Wenn du über unsere Beziehung nicht mehr

reden willst – akzeptiert.« Er fragte sich plötz­ lich, warum sie überhaupt anrief. »Aber dann lass uns die Sache wenigstens mit Würde zu Ende bringen …« Seine Brust verengte sich; er spürte die Trauer in sich hochsteigen. »Ich hab keine Lust, nur über deinen Anwalt von dir zu hören. Immerhin haben wir uns einmal geliebt …« Er schluckte den Kloß im Hals hinunter. »Und ich liebe dich noch …«, sagte er heiser. Sie schwieg. »Das Haus, die Bücher, das Geld … wir haben doch alles gemeinsam besessen …« Bilder lösten sich aus der Enge in seiner Brust, füllten sein Bewusstsein aus und trieben ihm die Tränen in die Augen. Bilder von glück­ lichen Zeiten in ihrem Haus in Riverside, Bil­ der von gemeinsamen Urlaubsreisen, Bilder aus seiner Anfangszeit in Berlin. Die ersten zwei Jahre hatte Liz noch versucht, hier in Deutschland zu leben. »Lass uns reden, Liz …« Er schloss die Augen. Seine Stimme klang brü­ chig. »Der Komet, Matt – er wird doch nicht die Erde treffen, oder?« »Ich bin kein Hellseher, Liz. Fifty-fifty, sagen sie.« »Ich hörte von über sechzig Prozent Wahr­ scheinlichkeit, dass er uns erwischt.«

»Mit ein bisschen Glück wird es dann doch der Tod sein, der uns scheidet.« Ein galliges Grinsen zog über sein Gesicht. »Mach keine Witze Matt. Ich hab Angst.« »Witze vertreiben Angst. Im November kann ich mir ein paar Tage Urlaub nehmen und über den Teich Jetten. Wirst du um diese Zeit in Ri­ verside sein?« »Ja«, sagte sie. Vierhundertfünfzig Kilometer weiter west­ lich, in einer Stadt im Ruhrgebiet, saß ein Mann auf einer Parkbank. Neben ihm ein Sta­ pel Bücher – Krimis – und eine Bierdose. Mit einer Taschenlampe beleuchtete er den Notiz­ block auf seinem Schoß. Aus dem Gedächtnis skizzierte er den Schalterraum der Bank, in der er heute Geld gewechselt hatte … Aus THE GUARDIAN, Dienstag, 3. Oktober 2011: BEWÄHRUNGSSTRAFE FÜR PREDIGER Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und Hausfriedensbruch verurteilte ein Londo­ ner Gericht gestern den Reverend, der vor kur­ zem die Schlussveranstaltung der diesjährigen Promenadenkonzerte in der Royal Albert Hall durch eine nicht vorgesehene Bibellesung ge­ stört hatte, zu einer Haftstrafe von acht Mona­

ten auf Bewährung und einer Geldstrafe von 4500 Euro. Reverend Hugh Miller, Pastor ei­ ner Methodistengemeinde in Chelsea hatte nach dem Grußwort Seiner Majestät, König Charles I., die Bühne der Royal Albert Hall ge­ stürmt und in Gegenwart der königlichen Fa­ milie und vor Tausenden von verblüfften Fest­ gästen aus der Apokalypse des Johannes vorgelesen. Angesichts der beunruhigenden Nachrichten über den neu entdeckten Kome­ ten »Christopher-Floyd« habe er nach Ansicht des Gerichtes dabei die Verängstigung der Be­ völkerung und somit die Störung der öffentli­ chen Ordnung billigend in Kauf genommen. Wie ein Sprecher des Erzbischofs von Canter­ bury nach Bekanntwerden des Urteils verlau­ ten ließ, hält die Leitung der anglikanischen Kirche das Urteil »für überraschend milde«. Man hätte sich ein wesentlich härteres Urteil gewünscht, sagte der erzbischöfliche Sprecher, um Nachahmungstäter abzuschrecken. Viele Sekten würden nämlich, so der Sprecher wei­ ter, die in weiten Bevölkerungskreisen grassie­ rende Angst ausnutzen, um neue Mitglieder zu werben. Diesem unverantwortlichen Treiben religiöser und ideologischer Wirrköpfe sei nur durch energische Zeichen seitens der Staatsor­ gane Herr zu werden. Ein hartes Urteil für Re­

verend Hugh Miller wäre ein solches Zeichen gewesen. Auch das Gericht bezog sich in seiner Urteils­ begründung auf die Folgen der Kometenentde­ ckung. »Eine strengere Strafe«, so einer der Richter nach Prozessende zum GUARDIAN, »hätte Miller und seinesgleichen vor den Au­ gen der hysterischen Öffentlichkeit aufgewer­ tet. Wir wollten ihn nicht ungeschoren davon kommen lassen, es sollte aber auch nicht der Eindruck entstehen, die britische Rechtspre­ chung würde derart alberne Auftritte ernst nehmen.« Bochum, 10. Oktober 2011 Herbert Fuchs bezahlte den Taxifahrer und stieg aus. Er zog den schwarzen Aktenkoffer vom Rücksitz des Taxis, schlug die Tür zu und wandte sich Richtung Fußgängerzone. Es war kurz nach drei Uhr nachmittags. Massen von Menschen strömten in beide Richtungen der breiten Einkaufszeile. In dem dunklen Anzug sah Herbert fülliger aus als sonst. Das lag nicht daran, dass der An­ zug – Herbert hatte sein letztes Geld in den ed­ len Zwirn investiert – zu groß gewesen wäre. Es lag daran, dass Herbert darunter seine Le­ derweste und seine alten Jeans trug.

Seine Turnschuhe hatte er sich unter das Jackett auf den Rücken gebunden und sie am Hosengurt befestigt. Statt der Turnschuhe trug er schwarze Lackslipper. Auch sie hatten ihn ein Vermögen gekostet, genau wie das weiße Hemd, der Schlips und der Stetson, unter dem er sein graues Langhaar verbarg. Er war extra nach Holland gefahren, um sich all diese Dinge zu besorgen. Kein Bochumer Herrenausstatter würde der Polizei einen ent­ scheidenden Hinweis geben können, wenn man die Sachen später fand. Herbert trug eine schwarze Hornbrille, Kontaktlinsen hatten sei­ ne grünen Augen in braune verwandelt, und Julias auffällige Uhr steckte in seiner Westen­ tasche unter Hemd und Sakko. Ein schweres Sakko übrigens – in seinen Ta­ schen steckten zwei weitere Gegenstände, die Herbert normalerweise genau so wenig anrüh­ ren würde wie eine Krawatte oder Lackschuhe: in der Linken eine geladene Pistole Marke Jeri­ cho und in der Rechten die Attrappe einer Handgranate. Nicht einmal während seiner langen Karriere als Drogenkurier hatte er der­ artige Gerätschaften bei sich getragen. Doch aus der Zeit wusste er, wo man sie kaufen konnte.

Die Investitionen hatten ihn, wie gesagt, sämtliche Einnahmen aus seinen Auftritten als Straßenmusiker gekostet. Jetzt, nachdem das Taxi bezahlt war, steckten noch acht Euro und zwanzig Cents in seiner Westentasche. Sollte die Sache schiefgehen – das Risiko war kalku­ lierbar, aber dennoch scheußlich hoch – würde Herbert sowieso kein Geld mehr brauchen. Die paar Euro, die man in einem Gefängnis benö­ tigte, würde er sich mit dem Zusammen­ schrauben von Kugelschreibern und dem Zu­ rechtbiegen von Kleiderbügeln verdienen. Kurz vor der Bank blieb er vor dem Schau­ fenster eines Juweliers stehen, weil ein Spiegel hinter den Schmuckauslagen aufgebaut war. Er betrachtete sein Spiegelbild und war zu­ frieden. Zufrieden in professioneller Hinsicht, versteht sich. Nach seinem persönlichen Ge­ schmack war der Kerl nicht, der ihn da aus dem Schaufensterspiegel entgegen blickte. Ers­ tens hatte er ein vollständig nacktes Gesicht – sogar von seinem Vollbart hatte Herbert sich getrennt –, und zweitens ähnelte er eher einem windigen Spekulanten als einem seriösen Ge­ schäftsmann. Der Blick des Burschen im Spie­ gel schien ihm etwas starr, und sein Adamsap­ fel tanzte verdächtig oft auf und ab. Gehört zum Job, dachte Herbert. Lampenfieber war

auch in seiner Zeit als Drogenkurier ein treuer Begleiter gewesen. Seine Schritte verlangsamten sich, je näher er dem Eingang der Sparkasse kam. Merkwürdig schwer fühlten sich Schenkel und Knie plötz­ lich an. Er atmete ein paar Mal tief durch und zwang sich zu einem rascheren Gang. Wie ein Geschäftsmann unter Termindruck wollte er wirken. Er bezweifelte, dass ihm das gelang, denn die Sohlen der ungewohnten Schuhe schienen am Asphalt haften zu bleiben wie Ma­ gnete an einer Stahlplatte. Die Hand am Griff des Aktenkoffers schwitzte. Endlich der Sparkasseneingang; die Glastür schob sich vor ihm auseinander. Nicht in die Kamera schauen, nicht in die Kamera schau­ en … Mit gesenktem Kopf durchquerte Herbert den Eingangsbereich und betrat den Schalter­ raum. Reger Publikumsverkehr an den Ser­ vice-Tresen, Warteschlangen vor den verglas­ ten Kassenschaltern, an sechs von acht Schreibtischinseln Berater und ihre Kunden – genau so hatte Herbert es sich vorgestellt. Er ging zum Infoschalter. Sein Mund war tro­ cken und das Herz klopfte ihm plötzlich in Kehle und Schläfen. Hinter dem Schalter saß eine große, kräftig gebaute Frau mit kurzen dunklen Haaren.

Sie strahlte ihn an. »Was kann ich für Sie tun?« »Ich möchte mit Herrn Baumann sprechen.« Herbert sagte das in einer Selbstverständlich­ keit, als würde er mit Baumann jeden zweiten Samstag die Sauna besuchen und danach im Bermudadreieck das eine oder andere Bier he­ ben. »Herr Baumann hat gerade einen Kunden – worum geht es denn?« »Um Bundesschatzbriefe und Aktien.« Er grinste und klopfte auf seinen Aktenkoffer. »Und um mein Geld selbstverständlich. Da würde ich schon gern den Chef persönlich kon­ sultieren.« »Das kann noch ein paar Minuten dauern«, strahlte die Frau hinter dem Tresen ihn an. »Wenn Sie so lange warten möchten?« »Kein Problem.« Herbert nahm in einer der Sitzgruppen Platz, legte den Koffer auf den Sessel neben sich und schlug die Beine über­ einander. Er verfluchte sich, weil er nicht an eine repräsentative Zigarettenmarke gedacht hatte – Benson & Hedges oder Davidoff oder wenigstens Camel ohne Filter. Er konnte schlecht seinen Tabak auspacken und sich eine Zigarette drehen. Das passte nicht zu einem se­ riösen Geschäftsmann, nicht einmal zu einem

windigen Spekulanten. Er versuchte ein ge­ langweiltes Gesicht zu machen und wartete. Natürlich wusste er, dass der Chef der Haupt­ filiale Patrick Baumann hieß. Auch den Namen der Stellvertreterin kannte er: Anne-Sophie Müller-Reichert. Herbert hatte schließlich sei­ ne Hausaufgaben gemacht. Zwar hatte er die Hauptfiliale nur ein einziges Mal betreten, um Geld zu wechseln, aber sein gutes Gedächtnis hatte die wesentlichen Einzelheiten aufgenom­ men. Tagelang saß er in der Einkaufspassage ge­ genüber der Sparkasse, sang und spielte Gitar­ re. Er kannte die Stoßzeiten des Publikumsver­ kehrs in der Filiale, er hatte gesehen, wie Baumann die Bank nach Feierabend verließ, hatte seinen Gang studiert, seine Gestik, seine Körperhaltung und die Art, wie er seinen Wa­ gen aus der Tiefgarage steuerte. Ein defensiver Mann, ein Mann, der kein Risiko einging. Her­ bert schwitzte unter dem Hut, er schwitzte un­ ter seinen vielen Kleiderschichten, und als er die Hand vom Aktenkoffer nahm, um sich im Nacken zu kratzen, sah er ihren feuchten Ab­ druck auf dem schwarzen Leder. Zehn Minuten vergingen, vielleicht auch mehr. Herbert schwitzte fürchterlich, sein Mund war trocken und das Verlangen nach ei­

ner Zigarette brachte ihn fast um den Ver­ stand. Ein mittelgroßer Mann bewegte sich quer durch den Schalterraum auf ihn zu: randlose Brille, Dreiteiler, nicht allzu elegant, lichtes, mit Haarfestiger in Form gebrachtes Haar. Baumann. »Es geht um Wertpapiere? Bundes­ schatzbriefe? Herr …« Herbert stand auf. »Henninger, Johannes Henninger.« Er zog die Rechte aus der Tasche, wo er sie seit dem feuchten Abdruck geparkt hatte, um sie trocken zu halten, und reichte sie dem Filialleiter. »Herr Baumann, nehme ich an. Es geht um die Anlage einer höheren Sum­ me.« Der Mann wies auf seinen Beraterplatz, eine exponierte Schreibtischinsel an der Stirnseite des Raumes zwischen Kassenschalter und Ser­ vicetresen, von wo aus man den Überblick über den gesamten Schalterraum hatte. An ihm vorbei schritt Herbert auf den Schreib­ tisch zu und nahm auf dem Kundensessel Platz. Baumann ging um die hufeisenförmige Anordnung von Schreibtischen, Aktenschränk­ chen und Monitorkonsolen herum und plat­ zierte sich in einem schwarzen Ledersessel. Wie der Kommandant in der Zentrale eines Kriegsschiffes wirkte er. »Um welche Summe

handelt es sich, Herr Henninger?« Er lächelte verbindlich und faltete die Hände auf dem Schreibtisch. Herbert legte seinen Aktenkoffer auf die Tischplatte und beugte sich darüber. »Um es kurz zu machen, Herr Baumann, wir sind zu fünft. Zwei meiner Partner stehen an den Kas­ senschaltern, einer am Servicetresen und ein vierter im Eingangsbereich an den Geldauto­ maten.« Er zog die Handgranate aus dem Jackett. »Das ist nicht das Einzige, was wir Ih­ nen mitgebracht haben.« Der Mann wurde lei­ chenblass. »Sie sind versichert, und Sie legen kein Wert auf ein Blutvergießen.« Herbert setzte den stechendsten Blick auf, den er im Repertoire hatte. »Deswegen nehmen Sie jetzt meinen Koffer und gehen ohne jede Hektik an den Kassenschalter. Dort legen Sie sämtliche verfügbaren Euroscheine hinein. Und genau so ruhig kehren Sie zu mir zurück und bringen mir das Geld. Meine Partner beobachten jeden Ihrer Mitarbeiter. Sollten Sie oder einer von denen den Alarmknopf drücken, gibt es ein Massaker.« Etwa vierhundertfünfzig Autobahnkilometer weiter östlich, auf einer Luftwaffenbasis der US Air Force, hatte Commander Matthew Drax gerade seine F-17 auf der Landebahn aufge­

setzt und klinkte den Bremsfallschirm aus. Er fühlte sich gut und dachte weder an die Frau, die sich von ihm scheiden lassen wollte, noch an den Kometen, der das eventuell verhindern würde. Sechshundert Kilometer weiter westlich – Luftlinie – auf dem Londoner Flughafen Hea­ throw, stellte der Mathematik- und Physikleh­ rer und Hobbyastronom Marc Christopher sei­ ne Koffer auf das Gepäckband. Sein Freund, der Mathematik- und Physiklehrer und Hobby­ astronom Archer Floyd, sah ihm dabei mit sor­ genvoller Miene zu. Dreißig Kilometer weiter östlich, in der Dort­ munder Nordstadt, presste eine Frau namens Julia Mayonnaise und Ketchup aus zwei Tuben auf eine Portion Pommes Frites. Tausendeinhundertfünfzig Kilometer weiter nördlich – wieder Luftlinie – in einem Stock­ holmer Krematorium wurde die Leiche von Beryl Nordström eingeäschert. Die Staatsan­ waltschaft hatte sie endlich freigegeben. Und mehrere tausend Kilometer weiter west­ lich, auf der anderen Seite des atlantischen Meeres, in New York City, schwebte Burt Cassi­ dy in einem Helikopter über den Central Park. Dort war es etwa neun Uhr dreißig vormittags und Cassidy ließ sich zu seinem vorläufig letz­

ten Termin mit der Bürgerinitiative Citizen Power fliegen. Gar nicht weit von der Position seines Heliko­ pters entfernt, in einer abrissreifen Primary School der Bronx beugte sich Washington Roots über einen Notizblock und skizzierte die strategischen Aufmarschpläne bewaffneter Stadtguerilleros, die im Falle eines Angriffs der Nationalgarde in Kraft treten sollten. Und zwanzig oder hundertzwanzig Autominu­ ten weiter südlich – je nach Verkehrslage – in seinem Acht-Zimmer-Apartment in der Upper East Side ließ der Fernsehmoderator Timothy LaHaye seine gebratenen Eier mit Schinken kalt werden, weil er bereits seit einer Viertel­ stunde versuchte, den Astrophysiker Professor Dr. Jacob Smythe in der Sternwarte auf dem Apache Point, New Mexico anzurufen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, den Professor als Spontangast zu seiner Talk-Show an diesem Abend einzuladen und deswegen ausnahms­ weise die Sache selbst in die Hand genommen. In New Mexico auf dem Apache Point indes war Jacob Smythe nicht grundlos unerreich­ bar. Während in seiner Hemdtasche ein ange­ bissener Schokoriegel weich wurde, telefonier­ te er nämlich mit dem Weißen Haus. Mit herausgebellten Worten und vielen unvollstän­

digen Sätzen versuchte der Astrophysiker dem erschütterten Präsidenten zu erklären, warum »Christopher-Floyd« nicht am 10. Februar 2012, sondern schon am 9. die Erdbahn schneiden würde. Vielleicht sogar schon am 8. Februar. Und er versuchte dem Präsidenten weiter zu erklären, dass nach seiner Einschät­ zung die Wahrscheinlichkeit einer Kollision auf über sechzig Prozent gestiegen war. Der Komet war zu diesem Zeitpunkt übrigens noch ziemlich genau 874.532.160 Kilometer von der Erde entfernt. Und damit auch von der Hauptfiliale der Sparkasse Bochum. Baumann erwiderte Herbert kein Wort. Er zog ihm einfach den Aktenkoffer unter den Ar­ men weg, stand auf und lief an den Schreibti­ schen seiner Mitarbeiter vorbei in Richtung Kassenschalter. Herbert beobachtete, wie er nacheinander alle vier Kassenschalter betrat und sich an den Kassen zu schaffen machte. Er tat das sehr flink und ohne ein einziges Mal einen Blick auf die Warteschlange der Kunden zu werfen. Genau so hatte Herbert es sich vor­ gestellt. Erwartet allerdings hatte er es nicht. Als Baumann nach nur wenigen Minuten die Kassenschalter wieder verließ, stand Herbert auf und ging zum Servicetresen. Dort streckte

er die Hand aus und Baumann reichte ihm den Koffer über den Tresen. »Ich danke Ihnen, Herr Baumann, und einen angenehmen Tag noch«, sagte Herbert – das sagte er tatsächlich, unglaublich! – und verließ ohne Eile den Schalterraum. Erst draußen, auf der Fußgängerzone, be­ schleunigte er seinen Schritt, und als er das be­ nachbarte Kaufhaus erreichte, strömte ihm der Schweiß in vielen Rinnsalen unter der Hut­ krempe hervor über das Gesicht. Der nun we­ sentlich schwerere Koffer drohte seiner feuch­ ten Hand zu entgleiten. Herbert klemmte ihn unter den linken Arm. Er lief durch den Ein­ gangsbereich des Kaufhauses. Polizeisirenen näherten sich rasch. Herbert kümmerte sich weder um die Sirenen noch um den Schweiß, der ihm über Stirn, in Augen und in Hemdkragen perlte, sondern steuerte an den Rolltreppen vorbei die Aufzüge an. Das gibt es gar nicht, dachte er, das ist so einfach wie Heroin in doppelten Schuhsohlen und im Futter eines Mantels durch die Zollab­ fertigung eines Flughafens zu schmuggeln … Mit dem Aufzug fuhr er in den fünften Stock hinauf, wo die Herrentoiletten lagen. Das gibt es doch überhaupt nicht … Er betrat die Her­ rentoilette. … dass das so einfach geht …

Gleich die erste der Toilettenkabinen war un­ besetzt, Herbert trat ein und schloss ab. Er lachte in sich hinein. So einfach … du gibst ihm den Koffer und er packt das Geld hinein … Aus der Innentasche seines Jacketts zog er einen grauen Plastik-Müllsack. Er ließ den Hut hinein gleiten, zog sich das Gummi aus dem Haar und warf es hinterher. … so einfach wie Bier bestellen und trinken … Er knüllte Anzug­ jacke und -hose zusammen und stopfte sie in den Müllsack. Dann die Schuhe und die Son­ nenbrille. Er band sich seine Turnschuhe vom Rücken los und zog sie an. Aus den Taschen seiner Lederweste zerrte er zwei Plastiktüten. Er öffnete den Koffer – Eu­ roscheine, Euroscheine, Euroscheine. Herbert kicherte, als hätte er einen obszönen Witz ge­ hört. Die Banknoten wanderten in die Plastik­ tüten, der Koffer in den Müllsack. Die Kontakt­ linsen hinterher. Die Handgranatenattrappe wischte er sorgfältig mit einem Taschentuch ab, bevor er sie in den Sack warf. Dass das so leicht ging, ich werd verrückt … Von der Jeri­ cho-Pistole trennte er sich nicht. Schließlich hatte sie niemand zu Gesicht bekommen, und vielleicht würde er sie doch noch brauchen – wer konnte das wissen?

Herbert drückte die Spüle, und während das Wasser rauschte, band er den Müllsack zu. Er wartete ein paar Minuten – erst als er außer­ halb der Toilettenkabine keine Geräusche mehr hörte, schloss er auf. Er stellte den Müll­ sack neben den Abfalleimer für die Papier­ handtücher. Die beiden Plastiktüten in einer Hand, verließ er die Toiletten. Minuten später sah er drei Streifenwagen mit blinkenden Blaulichtern vor der Sparkasse stehen. Er wandte sich Richtung Hauptbahnhof. Je näher er dem Bahnhof kam, desto weniger Mühe gab er sich, seine ausgelassene Freude zu unter­ drücken. Er kicherte laut, er lachte – so ein­ fach, so einfach … Im Bahnhof holte er seine Gitarre aus dem Schließfach und legte die Plas­ tiktüten mit dem Geld hinein. Nur einen Fünf­ zig-Euro-Schein nahm er mit. Bei McDonald’s trank er Bier und aß Pommes Rot-Weiß. Und anderthalb Stunden später hockte er zwischen dem Kaufhaus, in dem er sich umgezogen hatte, und der Bank, die er ausgeraubt hatte, und sang alte Songs, mit de­ nen er schon in seiner Jugend durch die Knei­ pen getingelt war: »O Lord, won’t you buy me a Mercedes-Benz« von Janis Joplin zum Bei­ spiel, oder »The Times, they are a-changin« von Bob Dylon.

New York City, Bronx, 10. Oktober 2011 Das Hämmern der Rotoren brach sich an den Wänden der vierstöckigen Klinkerkästen auf beiden Seiten des Schulhofes. Burt Cassidy riss das Schott des Passagierraums auf. Gebückt lief er aus dem Bereich der Rotorblätter. Sein Sekretär und sein Bodyguard folgten ihm. Statt wieder abzuheben, stellte der Pilot den Motor ab; die Rotoren schwangen aus. Burt glaubte, es würde ein kurzes Gespräch werden. Die vielen Menschen auf dem Schulhof waren ihm schon vom Helikopter aus aufgefallen. Sie lehnten an den Hauswänden, saßen auf Trep­ pen, hockten mit Karten in den Händen um Kisten herum, hatten Schachbretter auf Müll­ tonnen aufgebaut oder standen einfach so in kleinen Gruppen im Hof herum. Ausschließ­ lich Männer und auffallend viele Schwarze. Das beunruhigte Burt. An den ersten beiden Gesprächen hatten verhältnismäßig wenig Afroamerikaner teilgenommen. Zu Beginn der ersten drei Gespräche hatte ihn außerdem eine Begrüßungsdelegation von Citizen Power am Wagen oder am Helikopter abgeholt. Heute keine Spur einer solchen Delegation. Auch kei­ ner der etwa neunzig Männer auf dem Schulge­ lände machte irgendwelche Anstalten, ihn und seine beiden Begleiter zu begrüßen. Nicht, dass

die überwiegend Kaffeebraunen oder Dunkel­ häutigen ihn nicht beachteten – Burt bemerkte ihre feindseligen Blicke sehr wohl. Und wenn er sie nicht sah, spürte er sie. Burt Cassidy hat­ te feine Antennen für so etwas. Ein Ziehen in der Magengegend machte ihm seinen Ärger bewusst. Ja, verdammt – die Missachtung dieses Packs ärgerte ihn. Erst bombardierten sie ihn tagelang mit Tele­ fonaten, um ihn zu einem vierten Gespräch zu bewegen – zu einem letzten, wie Calypso am Telefon meinte – und dann hielten sie es nicht einmal für nötig, ihn ordentlich zu begrüßen. Scheißkerle … »Wo finde ich Mister Calypso?« Er sprach die Gruppe Latinos um den improvisierten Spiel­ tisch so freundlich an, wie es ihm eben möglich war. Die meisten blickten nicht einmal von ih­ ren Karten auf. Nur einige der um sie herum­ stehenden Zuschauer hoben die Köpfe. Drei, vier dunkle Augenpaare hefteten sich an die Uhrenkette, die aus Burts Weste heraus hing, an die Bügelfalten seiner Anzughose, an seine italienischen Schuhe aus geflochtenem Leder und glitten dann erst über seine Anzugjacke, seinen bordeauxroten Schlips und das Ein­ stecktuch gleicher Farbe hinauf zu seinem glat­ trasierten Gesicht. Die Ablehnung in ihren

braunen Mienen traf ihn nicht unvorbereitet. Und dennoch wie ein Schlag ins Gesicht. Einer der Männer drehte sich um und deutete mit aufreizend langsamer Geste auf den Hauptein­ gang des alten Schulgebäudes. Die lauernden Blicke ließen ihn los, die Köpfe senkten sich wieder; es gab Wichtigeres auf der Welt als drei Weiße in dunklen Anzügen, die gerade aus einem Helikopter gestiegen waren. Zum Bei­ spiel die Pokerblätter der um den Umzugskar­ ton sitzenden Kartenspieler. »Danke, Sir«, sagte Burt scharf. Der Ärger brannte in seiner Magengrube. Er wandte sich dem Eingang der Schule zu, und hinter ihm knallten die Schuhsohlen seiner Begleiter auf den Asphalt. »Arschlöcher«, knurrte Jimmy Crimson, sein Leibwächter. »Reißen Sie sich zusammen, Crimson«, zisch­ te Burt. »Das sind Leute, die zum Äußersten bereit sind, Mister Cassidy.« Rowland Warrington, sein Officemanager, schob sich dicht an seine Seite. Er war ein kor­ pulenter Mann mit nackenlangen, sorgfältig gescheitelten blonden Haaren, nur unwesent­ lich jünger als Burt selbst. »Schauen Sie sich die Gesichter dieser abgerissenen Kerle an«,

raunte er mit heiserer Stimme. »Würde nicht jedes Einzelne ein prächtiges Motiv für ein Fahndungsfoto abgeben?« Aus den Augenwinkeln sah Burt, wie ihnen die Männer, an denen sie vorbeigegangen wa­ ren, hinterher blickten. »Ich wette, die haben hier irgendwo Waffen und Munition gebunkert.« Burt antwortete nicht. Er wusste, dass es ein Waffenlager in dem zum Abriss vorgesehenen Schulkomplex gab. Und nicht nur hier. Er wusste es von seinem Chef, dem Bürger­ meister. Und der wusste es vom Leiter des FBI District Office New York City. Das FBI hatte einen Undercover-Agenten in die Bürgerinitia­ tive eingeschleust. Hinter dem zerfallenen Lattenzaun, der das Schulgelände von der Straße abtrennte, dräng­ ten sich hundertzwanzig, hundertfünfzig Men­ schen – Frauen, Kinder und Jugendliche. Zwei Dutzend Männer – Latinos und Afros – sorgten dafür, dass niemand das Gelände betrat. Vor dem Tor zum Schulhof entdeckte Burt den Bus eines Kamerateams von NBC. Mit Kameras be­ packte Medienleute diskutierten lautstark mit den Posten am Tor. Die Männer von Citizen Power ließen sie nicht auf den Schulhof.

Auf der Vortreppe zum Schuleingang standen sechs Afroamerikaner in drohender Haltung. »Gehen Sie voraus, Crimson«, wies Burt sei­ nen Bodyguard an. »Okay, Sir.« Crimson überholte und setzte sich vor sie. Wie immer saß sein Anzug zu knapp. Wie immer hatte er sein rötliches Haar mit Pomade zu Wellen geformt an den Kopf ge­ klebt, und wie immer schwebten seine langen Arme merkwürdig bewegungslos über seinen Hüften. Als trüge er einen Waffengurt und zwei Colts in jedem Hüftholster. Burt vermute­ te, dass die Wild-West-Renaissance, die zurzeit durch die Kinos schwappte, auch seinen Leib­ wächter erfasst hatte. Die sechs schwarzen Türsteher formierten sich auf der obersten Treppenstufe zu einer ge­ schlossenen Kette. »N’Morgen«, knurrte einer von ihnen, ein großer Bursche in einem schwarzen Trenchcoat. Burt sah die Löcher in seinen blauen Turnschuhen und dadurch die Haut seiner nackten Füße. Scheißkerle, dachte er, sie wollen uns de­ monstrieren, wer hier das Sagen hat … Crimson blieb stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. »Was soll das?«, fauchte er. »Wir sind von der Stadtregierung! Wir haben hier ein Date …«

Burt schob ihn beiseite. »Cool bleiben, Crim­ son.« Er fixierte den Schwarzen. Dessen gleichgültiger Blick wich ihm nicht aus. »Wir sind hier, weil Mister Calypso uns um ein Ge­ spräch gebeten hat.« Es kostete ihn alle Selbstbeherrschung, sach­ lich zu bleiben. Trotzdem schlich sich ein dro­ hender Unterton in seine Stimme. »Bringen Sie uns also bitte zu ihm.« »Kein Problem, Mister Cassidy«, sagte der Afro gelassen. »Allerdings haben wir Order, keine Bewaffneten in die Zentrale zu lassen. Ich bin mal so frei …« Ehe die drei Männer sich versahen, waren sie von den Türstehern um­ ringt und wurden nach Waffen abgetastet. Burt kochte innerlich, ließ die Prozedur aber über sich ergehen und bedeutete seinen Beglei­ tern, es ihm gleich zu tun. Crimson fiel das sichtlich schwer. Er blickte sich nach der Straße um, während er die Hän­ de hob. Eine Mischung aus Zorn und Verach­ tung lag auf seiner Miene, während er die vie­ len Zeugen seiner Demütigung betrachtete. Er musste sich von seiner fabrikneuen SIG-Sauer trennen. Eine zwanzigschüssige Pistole mit elektronischer Nachladeautomatik und LaserVisier, auf die der ehemalige Marine stolz war wie ein kleiner Junge auf sein erstes Bike.

»Ein einziger Kratzer, Bursche«, fauchte er den Afroamerikaner an, der ihm die Waffe ab­ nahm. »Ein einziger Kratzer, und ich werde dich …« »Reißen Sie sich zusammen!«, schnitt Burt ihm das Wort ab. Der Schwarze verzog keine Miene. Er ließ die SIG in die Brustlatztasche seines blauen Overalls fallen. Für den Bruch­ teil einer Sekunde sah Burt den schwarzen Sie­ gelring an seiner Hand und die Tätowierung an seinem Handgelenk – zwei ineinander ver­ schlungene Buchstaben, ein großes W und ein großes T. Wo habe ich das schon gesehen … Vier der Männer eskortierten sie ins alte Schulhaus. Ein heißer zerklüfteter Stein füllte Burts Magen aus. »Das hätten wir uns niemals bieten lassen dürfen, Mister Cassidy«, raunte Warrington ihm von der Seite zu. »Wir hätten auf der Stelle kehrt machen und wieder in den Hubschrauber steigen sollen …« Im Prinzip sah Burt das nicht anders. Aber er hatte strengste Order, jeden, aber auch jeden weiteren Konflikt zu vermeiden. Der Bürger­ meister hatte ihm heftige Vorwürfe wegen ei­ nes Interviews gemacht, in dem Burt indirekt mit dem Einsatz der Nationalgarde gedroht hatte. Kriegstreiberei hatte er ihm unterstellt, ein Begriff, der jetzt, vier Wochen später, nicht

einmal mehr übertrieben erschien: Nach In­ formationen des FBI bereitete man sich in der Bronx systematisch auf eine bewaffnete Aus­ einandersetzung vor. Die Angst vor Zuständen wie in den Jahren 2005 und 2006 grassierte in den Spitzengremien der Stadt- und der Staats­ regierung. Längst gaben Albany und Washing­ ton die Marschroute für die Verhandlungen mit Citizen Power vor. »Deeskalation«, raunte Burt seinem Sekretär zu. »Darum geht es jetzt, Warrington, um nichts anderes.« Er wandte sich an seinen Leibwächter. »Das gilt auch für Sie, Crimson.« Sie folgten den beiden Männern eine breite Treppe hinauf. Burt fiel auf, dass das Geländer vollständig erneuert war. Dann ging es durch eine lange Zimmerflucht, an Dutzenden von Klassenzimmern vorbei. Die meisten Türen standen offen, fehlten ganz oder waren nur an­ gelehnt. Baulärm von allen Seiten – Bohrma­ schinen schrien, Sägen kreischten, Hammer­ schläge dröhnten gegen die Wände. Vor einem offenen Raum blieb Burt stehen. Latinos in Ar­ beitskleidung setzten auf der Rückfront des Gebäudes neue Fenster ein. Andere schnitten mit elektrischen Handsägen Bretter für die De­ ckenverschalung zurecht.

Burt biss die Zähne zusammen. Die herunter­ gekommene Primary School war ein öffentli­ ches Gebäude. Seine Behörde hatte nie eine Restaurationsgenehmigung erteilt. Im Gegen­ teil: Der Gebäudekomplex war für jeden Publi­ kumsverkehr gesperrt worden und sollte in na­ her Zukunft abgerissen werden. Ihr Scheißkerle … ihr wollt mir zeigen, dass euch unsere Gesetze einen feuchten Dreck interes­ sieren … Die vier Afroamerikaner beobachteten ihn, Spott in ihren Mienen. Burt sah, dass sie alle diese rätselhaften Siegelringe trugen. Er ver­ suchte sie zu ignorieren und ging weiter. Sie erreichten einen Raum, dessen offener Ein­ gang von zwei Männern in Armeejacken flan­ kiert war, Puertoricaner. Die Afros blieben ste­ hen und wiesen in den Raum hinein. Burt und seine Begleiter betraten ihn. Gemurmel ver­ stummte, Köpfe hoben sich, Getränkedosen und Flaschen wurden auf den Tisch geknallt. Burt sah in dreizehn misstrauische Augenpaa­ re. Für Sekunden war es vollkommen still. »Hi, Mister Cassidy.« Burt entdeckte das ver­ narbte Gesicht des Vorsitzenden von Citizen Power. Er saß an der Stirnseite des aus sechs Tischen zusammengestellten Rechtecks, links neben ihm dieser rätselhafte Indianer, der

nicht einmal in der Bronx lebte. An seiner rechten Seite ein Afroamerikaner, der an kei­ nem der drei vorangegangenen Gespräche teil­ genommen hatte. Statt den stellvertretenden Chef der Baube­ hörde anständig zu begrüßen, winkte Diego Calypso nur lässig mit der Hand. »Setzen Sie sich doch.« Er wies auf die seinem Tisch gegen­ überliegende Schmalseite des Rechtecks. Burt spürte die fragenden Blicke seiner bei­ den Begleiter. Er nickte kurz und nahm auf dem mittleren der drei bereitgestellten Stahl­ rohrstühlen Platz. Warringtons Aktenmappe flog geräuschvoll auf den Tisch, bevor er sich setzte. Crimson machte eine finstere Miene. Stocksteif und die Arme vor der breiten Brust verschränkt, thronte er rechts neben Burt. »Hallo, Mister.« Der Afroamerikaner neben Diego nickte ihm zu. Und jetzt erst erkannte ihn Burt: Es war der Taxifahrer, der ihn vor ei­ nigen Wochen von Macy’s nach BrooklynHeights chauffiert hatte. Der Bursche, der un­ gefragt im Wagen geraucht und sich so rebel­ lisch über die Regierung ausgelassen hatte. Und jetzt fiel Burt auch ein, woher er die Täto­ wierungen und die Siegelringe der Türsteher kannte.

»Das ist Mister Washington Roots«, sagte der Latino mit dem Narbengesicht. »Wash vertritt eine Bürgergruppe aus Harlem, den Wu-Tang Clan; vielleicht haben sie von diesen wackeren Leuten schon gehört, Mister Cassidy.« Diego Calypso grinste. »Die Brüder in Harlem haben sich unsere Probleme zu Herzen genommen. Sie unterstützen uns freundlicherweise.« Wu-Tang Clan … Burt dachte an die Tätowie­ rungen, das mit einem W verschlungene T. Also doch eine der verbotenen Bruderschaf­ ten! »Was wollen Sie von mir?« Burt unterdrückte seinen Zorn. Er entschloss sich, die Katze noch nicht aus dem Sack zu lassen, sondern zuerst einmal die Stimmung in der Führungsspitze von Citizen Power zu erkunden. Und vor allem die ihm schleierhafte Rolle, die dieser Taxifah­ rer in ihr spielte. »Die ganze Stadt spricht von dem, was wir von Ihnen wollen, Cassidy.« Zu Burts Überra­ schung war es nicht Calypso, der das Wort er­ griff, sondern der Schwarze. »Und ausgerech­ net Sie fragen uns danach?« Der Kahlkopf mit dem großen Kreolenring im Ohr beugte sich über seinen Tisch und beäugte Burt aus schma­ len Augen.

Burt musste an einen sprungbereiten Panther denken. »Haben Sie keine Angst, wir könnten das als Arroganz auffassen, Cassidy?« Burt ärgerte sich, weil der Taxifahrer sich als Verhandlungsführer aufspielte, und weil er ihn nur mit dem Nachnamen ansprach. »Was wollen Sie von mir?«, blaffte er. Er bemerkte, wie die Blicke des Narbengesichts und der Männer an den langen Tischseiten gespannt an dem Gesicht des Afroamerikaners hingen. Der Taxifahrer schien bei Citizen Power innerhalb weniger Wochen zu einer Art Volkstribun auf­ gestiegen zu sein. Nur der alte Indianer blät­ terte in einem Buch, als würde ihn das alles nichts angehen. »Die Frage musste doch wohl lauten: Was wollen Sie von uns, Cassidy? In jedem Boule­ vardblatt und mittlerweile wohl auch in diver­ sen FBI-Dossiers kann man nachlesen, dass es in der Bronx eine Menge Männer gibt, die be­ reit sind, für ihre Bürgerrechte zu kämpfen.« Der Mann namens Washington Roots lehnte sich zurück, und jetzt hingen alle Blicke im Raum an Burt. Herausfordernde Blicke. »Ver­ stehen Sie mich richtig, Cassidy«, fuhr der Ta­ xifahrer fort. »Sie haben es hier mit Männern zu tun, die mit einem Ausnahmezustand ver­ traut sind. Mit Männern, die ihn von beiden

Seiten der Front erlebt haben.« Wieder machte der Schwarze eine Pause. Als wollte er das Gift seiner Worte wirken lassen. Die Drohung hätte nicht unmissverständli­ cher sein können. Burt unterdrückte den Im­ puls aufzustehen und den Raum zu verlassen. Aber der Bürgermeister hatte ihn hierher ge­ schickt, damit er morgen die Schlagzeile »Kri­ se in der Bronx beigelegt« in den Zeitungen le­ sen konnte. »Hüten Sie Ihre Zunge, Roots«, sagte Burt scharf. »Sie spielen mit dem Feuer, und mit weit Ge­ fährlicherem als nur mit Feuer.« »Genau wie Sie es getan haben, Cassidy«, kon­ terte der Afroamerikaner. »Wir haben es nicht zuletzt Ihnen zu verdanken, dass täglich Zehn­ tausende unserer Leute auf der Straße sind.« Er lächelte. Ein zynisches Lächeln. »Und wenn der Hurri­ kan losbricht, wird man unter den Namen der Schuldigen auch den Namen Burt Cassidy fin­ den. Was also gedenkt die Stadtregierung ge­ gen einen drohenden Aufstand zu unterneh­ men? Wir könnten dafür sorgen, dass uns Zustände wie die vor sechs Jahren erspart blei­ ben. Was bieten Sie uns an?« Er deutete auf Warringtons Aktenmappe. »Was haben Sie uns mitgebracht?«

Burt konnte nicht umhin, das taktische Ge­ schick des Mannes zu bewundern. Plötzlich fand er sich in der Rolle desjenigen, der »Krieg« oder »Frieden« sagen musste; plötz­ lich hatte er den Schwarzen Peter in der Hand. Burt nickte Warrington zu. Es war Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen. »Zugegeben, Roots, es gibt so manches, was uns trennt. Aber eines haben wir doch wohl gemeinsam: Wir sind Bürger der Vereinigten Staaten und an die Gesetze unseres Landes gebunden. Ich nehme an, dass wir uns darin einig sind.« Neben ihm öffnete Warrington seine Tasche und zog einen Stapel Papiere heraus. »Ich ver­ gesse also das Säbelrasseln, das Sie eben hier veranstaltet haben, und komme zur Sache.« Wenige Sätze nur, und er fand zu seiner ver­ trauten rhetorischen Hochform. Das half ihm, seinen Zorn wegzuschieben und gute Miene zu bösem Spiel zu machen. »Wir haben Ihnen ein Konzept für die dringend notwendige Sanie­ rung der Bronx vorgelegt, Sie haben es abge­ lehnt. Ihr gutes Recht als freie Bürger eines freien Landes.« Warrington reichte ihm die Unterlagen. Die Luft im Raum schien plötzlich zu knistern. »Um es kurz zu machen: Wir ha­ ben das Projekt auf Eis gelegt. Vorläufig.«

Er betonte das »vorläufig«. »Um uns selbst und Ihnen Zeit zu geben, das Projekt noch ein­ mal in Ruhe und ohne den Druck von der Stra­ ße zu durchdenken.« Geraune erhob sich. Die Männer von Citizen Power steckten die Köpfe zusammen und tu­ schelten. Diego Calypso hatte sich zu Washing­ ton Roots gebeugt und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die Verblüffung in der Miene des Taxifah­ rers registrierte Burt mit Genugtuung. Nur der undurchsichtige Blick des Indianers neben Ca­ lypso verunsicherte ihn. Der Alte schien das Interesse an seinem Buch verloren zu haben. Burt hob die Unterlagen hoch. »Ich habe hier die Presseerklärung, die morgen veröffentlicht wird. Dann enthält dieser Schriftsatz, den ich Ihnen gleich aushändigen werde, ein Gutach­ ten meiner Planungsabteilung, in dem die Not­ wendigkeit einer Sanierung der Bronx noch einmal ausführlich dargelegt wird. Meine Mit­ arbeiter haben eine Reihe von Fragen formu­ liert, zu denen wir Ihre Vorschläge erwarten. Bitte machen Sie sich Gedanken über Ihre Vor­ stellungen einer Entschärfung des sozialen Brennpunktes Bronx, über Schaffung des not­ wendigen Wohnraums, über äußere Bedingun­ gen dieses Wohnraums und so weiter.« Er blickte sich in der Runde um. Jetzt war er am

längeren Hebel, ohne Zweifel. »Die Stadtregie­ rung wird sich vier Monate Zeit für einen neu­ en Entwurf nehmen, nach Ablauf dieser vier Monate erwarten wir auch Ihre Vorschläge.« Fast gleichzeitig mit Warrington lehnte er sich zurück, streckte die Beine aus und locker­ te den Knoten seines Schlipses. Auch Crimson neben ihm wirkte entspannter. »Wo ist der Haken?«, rief der Taxifahrer in das allgemeine Gemurmel hinein. »Sie sind aus Prinzip misstrauisch, Roots, oder?« Burt lächelte. Er hatte seine innere Souveränität wiederge­ wonnen, auf Kosten von Roots, dem die Ver­ wirrung deutlich anzusehen war. »Der Bürger­ meister und der Gouverneur in Albany erwarten, dass ich ihnen noch im Lauf des Vor­ mittags Ihre Antwort mitteile, Gentlemen.« Die Männer von Citizen Power erhoben sich von ihren Plätzen und scharten sich um Calyp­ sos und Roots Tisch. Im Flüsterton palaverten sie, etwa zehn Minuten lang. Dann erhob sich Diego Calypso – nicht Roots – und sagte: »Blutvergießen ist nicht unsere Sache, Mister Cassidy. Wir nehmen das Angebot der Stadt­ verwaltung an. In spätestens vier Monaten lie­ gen unsere Vorschläge auf Ihrem Tisch.«

Burt erhob sich, schob seinen Stuhl unter den Tisch und wartete, bis sein Sekretär seine Ta­ sche verschlossen hatte und ebenfalls auf­ stand. Die dunklen Augen Washington Roots’ ließen ihn die ganze Zeit über nicht los. Burt machte sich nichts vor – der Mann misstraute ihm. Sie verabschiedeten sich von Diego Calyp­ so, diesmal mit Handschlag, und verließen den Saal. Nur zwei der schwarzen Türsteher eskor­ tierten sie zurück zum Ausgang des Schulge­ bäudes. Dort bekam Crimson seine Waffe zu­ rück. Auf der Straße, vor dem Zaun des Schulgelän­ des erhob sich Beifall, als sie über die Vortrep­ pe in den Schulhof hinab gingen. Die Leute ju­ belten, einige tanzten. Die Neuigkeit hatte schneller den Weg aus der Primary School ge­ funden als sie. Der Hubschrauberpilot startete die Maschine. Das Hämmern der Rotoren schwoll an. »Scheißkerle«, knurrte Crimson. Er kletterte hinter Burt durch das Passagierschott in den Helikopter. Burt kommentierte das nicht. Bis Ende des Jahres würden die Rädelsführer von Citizen Power hinter Schloss und Riegel sitzen. Wegen unerlaubten Waffenbesitzes, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Bildung ei­ ner kriminellen Vereinigung und so weiter.

Und Ende Februar würde die Zwangsevakuie­ rung der Bronx beginnen und der Weg für die Sprengmeister und die Abrissbirnen freige­ macht werden. Der Helikopter hob ab. Ende Februar, wenn der Komet endlich die Erde passiert hatte und man sich wieder auf das politische Tagesgeschäft konzentrieren konnte. Die tanzenden und jubelnden Menschen auf der Straße vor dem Schulgelände wurden zu insektengroßen zappelnden Punkten, die Fahr­ zeuge zu Spielzeugautos und die zerfallenden Gebäude der Bronx zu harmlosen Streichholz­ schachteln. Der Helikopter drehte nach Süden. Die Skyline Manhattans zeichnete sich vor dem wolkenlosen Vormittagshimmel ab. Der Komet. Er hatte die Stadtregierung zum Einlenken gezwungen. Dringendere Baupro­ jekte standen auf dem Programm als die Sanie­ rung eines maroden Stadtviertels. Bauprojek­ te, deren Notwendigkeit einzig und allein der Komet diktierte … New 2011 »Er sein eine

York City, Upper Fast Side, 10. Oktober kommt, Kinder!« Timothy LaHaye hob Sektglas. »Er kommt tatsächlich!« Wie Trophäe hielt seine Rechte das Telefon

mit ausgestrecktem Arm in die Luft. »Nun fin­ det unser kleines gemütliches Frühstück doch noch ein beglückendes Ende! Dank Timmys unwiderstehlichem Charme!« »Hat sich lang genug geziert, die Diva«, brummte der Produzent und stieß als Erster mit LaHaye an. Auch die anderen gaben er­ leichterte Kommentare von sich, während die Gläser klirrten. »Ich habs nicht mehr geglaubt«, sagte Kim Yong, die Regisseurin. »Hoffentlich holst du dir da kein Kuckucksei ins Studio«, unkte Rozanne, die Maskenbildne­ rin. »Dieser Professor soll ein ziemlich giftiger Labersack sein.« »Da müsstet ihr euch ja prächtig verstehen«, feixte einer der Kameramänner. Alle lachten. »Giftig? Labersack?« LaHaye breitete die Arme aus, als wollte er sein ganzes Team auf einmal umarmen. »Na wunderbar!« Das für ihn so typische zähnebleckende Lächeln ver­ zerrte sein jungenhaftes Gesicht. »Alles was unterhaltsam ist, sei mir willkommen!« Er leerte sein Sektglas und ließ sich neu einschen­ ken. »Außerdem gehts doch gar nicht um die­ sen Smythe, es geht um den Shooting-Star die­ ser denkwürdigen Tage, es geht um den leuchtenden Dreckklumpen ›ChristopherFloyd‹! Heute Abend wird er gewissermaßen

zum ersten Mal in meiner Talk-Show auftre­ ten. Bis jetzt ist er nur ein Medienereignis, wir aber werden ihn zum Medienmegastar ma­ chen. Mir sausen da schon die hübschesten Ideen durch den Kopf – Wow …!« Er sprang auf und drehte sich vor dem reich gedeckten Frühstückstisch ein paarmal um sich selbst. »Die hübschesten Ideen! Vince!« Abrupt blieb er stehen und deutete auf seinen Produzenten. »Wir müssen reden, Vince! Vier fette Monate liegen vor uns. Wir werden unvergessliche Talk-Show-Stunden um diesen Dreckklumpen stricken. Die Leute sollen zittern und weinen, wenn sie Timmys MoonTalk sehen. Der Teufel soll mich holen, wenn ich auch nur eine einzi­ ge langweilige Minute produziere, solange die­ ser Komet am Himmel ist! Wir werden dafür sorgen, dass man an ihn denkt, noch Monate, noch Jahre nachdem er weitergezogen ist! Trinken wir auf ›Christopher-Floyd‹!« Sie stießen an. »Dein Wort in Gottes Ohren«, brummte der Produzent. Charlottenberg, Schweden, 10. Oktober 2011 Das Tannenholzgestühl der kleinen schwedi­ schen Kirche von Charlottenberg war zur Hälf­ te besetzt. Pfarrer Söderblum, im schwarzen Talar vor dem Lesepult neben dem Altar, ließ

seine Augen über die Gesichter der Männer, Frauen und Kinder vor ihm in den Kirchen­ bänken wandern. Eine halbvolle Kirche! Und das am Montagabend! Während der ganzen dreiundzwanzig Jahre seines Pfarrdienstes in Charlottenberg hatte er das nicht erlebt. Wenn er Sonntagmorgens von seiner Kanzel aus auf zwanzig oder fünfundzwanzig Seelen herabbli­ cken konnte, schätzte er sich glücklich. Heute Abend aber saßen sage und schreibe hundertachtundsechzig Menschen vor ihm im Kirchenraum. Söderblum hatte sie gezählt, während die Orgel »Ein feste Burg ist unser Gott« gespielt hatte. Die meisten der Leute kannte Söderblum nicht. Und viele gehörten nicht einmal zu seiner Gemeinde. Ständig öff­ nete sich das Kirchenportal – neue Besucher des Gebetsgottesdienstes schlichen ins Kir­ chenschiff hinein, andere standen auf und ver­ ließen es. Noch immer rauschte die Orgel, und ein halbes Dutzend routinierter Gottesdienst­ besucher versuchte, die Mehrheit der dem Glauben und der Kirche entfremdeten Men­ schen mit besonders lautem und besonders in­ brünstigem Gesang mitzureißen. Die Abendveranstaltung war der tägliche Hö­ hepunkt einer Gebetskette rund um die Uhr. Seit Anfang des Monats saß praktisch immer

jemand in der kleinen lutherischen Kirche von Charlottenberg und betete. Meistens zwei oder drei Personen. Alle zwei Stunden wurden sie von anderen abgelöst. Die Kirchenleitung ei­ ner evangelischen Kirche in Südwestdeutsch­ land hatte diese Idee gehabt: Beten und Fasten, damit das Schreckensszenario niemals Wirk­ lichkeit werden möge; das Schreckensszena­ rio, das die Medien mit jedem neuen Tag reiße­ rischer beschworen. Beten und Fasten, damit »Christopher-Floyd« vorüberziehe. Inzwischen gab es in fast allen größeren Städten Europas und der Vereinigten Staaten Kirchengemein­ den, die solche Gebetsketten organisierten. Pfarrer Söderblum war stolz, dass seine Ge­ meinde dazu gehörte. Das Orgelnachspiel verhallte im Gewölbe des Kirchenschiffs. Vereinzelte Gottesdienstbesucher klappten Gesangbücher zu; die wenigen, die wussten, was ein Gesangbuch überhaupt ist. »Hört das Wort des Herrn aus dem dritten Kapitel des Propheten Jonah!«, rief Pastor Söderblum in die Kirche hinein. Er setzte seine Lesebrille auf und beugte sich über die große aufgeschlagene Bibel auf dem Lesepult. »Und es geschah des Herrn Wort zum zweiten Mal zu Jonah …«

Wie immer, wenn er in seiner Kirche aus der Heiligen Schrift vorlas oder predigte, durch­ strömte ihn eine tiefe Ruhe. Es war, als würde sich der Rhythmus seines Herzschlages der Melodie des uralten Prophetenspruches anpas­ sen. Er verschmolz mit den Jahrtausende alten Sätzen, die er vorlas, und vergaß sich selbst, seine Sorgen, den Kometen; selbst den widerli­ chen Drohbrief, den er gestern erhalten hatte, vergaß er. »… mache dich auf, geh in die große Stadt Ninive und predige ihr, was ich dir sage …« So versunken war er in seine Lesung, dass er nicht merkte, wie das Kirchenportal weit auf­ geschoben wurde, bis zum Türstopper an der Wand. Ein junger Mann hielt die gusseiserne Klinke fest, damit die Tür nicht wieder zufiel. »Da machte sich Jonah auf und ging hin nach Ninive. Ninive aber war eine große Stadt vor Gott, drei Tagereisen groß…« Der Mann trug einen Motorradhelm und war ganz in dunkelrotes Leder gekleidet. Weitere Gestalten sammelten sich hinter ihm in der Türöffnung, Gestalten in Lederkluften oder langen fransigen Mänteln oder schwarzen Um­ hängen. Teils trugen sie schwarze oder braune Westen auf bloßem Oberkörper, teils steckten ihre Köpfe in Motorradhelmen, teils bedeckten

spitze schwarze Kapuzen mit Augen- und Mundschlitzen ihre Köpfe. »Und als Jonah an­ fing in die Stadt hineinzugehen, predigte er und sprach: Es sind noch vierzig Tage, dann wird Ninive untergehen …« In den hintersten Reihen drehten sich Köpfe der ersten Gottesdienstbesucher zur Tür um. »Da glaubten die Leute von Ninive an Gott und ließen ein Fasten ausrufen …« Eine der merk­ würdigen Figuren am Portal löste sich aus der Gruppe. Mit langen energischen Schritten lief sie durch den Mittelgang auf den Altar zu. »Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie sich be­ kehrten von ihrem bösen Wege …« Getuschel drängte sich in Pastor Söderblums Bewusstsein, das Hallen schwerer Stiefel­ schritte und vereinzelte laute Stimmen. Er blickte auf. Ein Mann marschierte zielstrebig durch den Mittelgang, breitschultrig und groß. Langes Blondhaar hing aus seiner schwarzen Ku-Klux-Klan-Kapuze weit über die Schulter seines Ledermantels hinab; ein großer kupfer­ ner Drudenfuß pendelte an einer Kette zwi­ schen den Kragenaufschlägen des Mantels hin und her, die Schöße des Mantels schwangen bei jedem Schritt um seine Beine, und seine schweren Schnürstiefel knallten auf die Flie­

sen des Kirchenbodens. Pastor Söderblum ver­ gaß zu atmen. »Stehen bleiben!«, schrie irgendjemand. In den Kirchenbänken sprangen einige Männer auf. Der Kapuzenmann griff unter seinen Man­ tel. Vom Portal her kam plötzlich Gebrüll und das Getrampel vieler Schritte. Die seltsamen Gestalten stürmten in die Kirche. Männer brüllten, Frauen schrien, rostige Ket­ ten klirrten, mit Nägeln gespickte Keulen saus­ ten auf die Kirchenbesucher nieder, Pistolen­ schüsse explodierten und der Kapuzenmann hielt plötzlich eine Flasche in der Hand, holte aus und schleuderte sie in den Altarraum. Hin­ ter dem Altar zersplitterte sie. Ein bösartiges Fauchen erfüllte für den Bruchteil einer Sekunde das Chorschiff hinter Söderblum. Der fuhr herum – Flammen zün­ gelten zu beiden Seiten des Altars! Ein Faustschlag traf den Pastor mitten im Ge­ sicht und schleuderte ihn auf die Altarstufen. Durch einen roten Schleier hindurch sah er den Kapuzenmann nach der Lesebibel greifen. Über den Pastor hinweg flog sie ins Feuer. Und dann stand der Kapuzenmann über ihm. »Jesus Christus …«, stöhnte der Pastor, »Je­ sus Christus …« Er sah in das schwarze Loch eines Pistolenlaufes, sah das Weiße um das

Fingergelenk am Abzugsbügel hervortreten, und dann sah er nichts mehr. Er hörte nicht einmal mehr den Schuss. Von einem Augen­ blick auf den anderen wurde sein Bewusstsein in schwarzes endloses Nichts gerissen … Manhattan, 10. Oktober 2011 Washington Roots steuerte sein Cabby durch Morningside Heights über den Broadway. Er fuhr Richtung Norden, und er fuhr langsam. Einige der vielen Kaffeehäuser links und rechts des Broadways hatten Tische und Stühle auf den Bürgersteig gestellt. Es war kurz nach sieben Uhr abends und trotzdem noch so mild, dass die meisten der Straßentische besetzt wa­ ren. Auf der rechten Seite des Broadways, et­ was abseits und vor ihnen erhob sich der große Komplex der Columbia University. Neben Roots auf dem Beifahrersitz saß Diego Calypso. Als würde er etwas Bestimmtes su­ chen, beobachtete er die Fassaden der Univer­ sitätsgebäude. Auf seinen Oberschenkeln lagen Zeitungen, teilweise aufgeschlagen, sämtliche Blätter, die in New York City erschienen. Roots hatte sie nach der Sitzung mit Cassidy gekauft. Auf der Rückbank saß Watonga. Auch er be­ obachtete die Universität, doch mit gleichgülti­ gen Augen. Hin und wieder führte er eine

große, trichterförmig gedrehte Zigarette an den Mund, und jedes Mal, wenn er daran sog, füllte sich das Wageninnere erneut mit süßli­ chem Duft. Manchmal streckte Calypso seine Hand in den Wagenfond, dann überließ der alte Dakota ihm für ein oder zwei Züge den Joint. Seit dem frühen Nachmittag kreuzten sie durch die Stadt. Von der Bronx in die Upper East Side hinunter, zum Metropolitan Muse­ um. Es war geschlossen. Ein nur wenige Zeilen langer Artikel in der New York Post hatte da­ von berichtet. Umbauarbeiten, schrieb die Zei­ tung. Einen Baukran hatten sie gesehen, der Bauarbeitercontainer von mehreren Tiefla­ dern hievte und sie hinter dem Museum im Central Park abstellte. Vor dem Wochenende hatte Roots noch keinen Kran neben dem Me­ tropolitan Museum gesehen. Ihre nächste Station war das Grand Central Terminal in der Midtown. Ein paar Mal waren sie an allen Seiten des Gebäudekomplexes vor­ beigefahren, ohne jedoch Baufahrzeuge entde­ cken zu können. Aufgefallen war ihnen aller­ dings, dass nicht wie sonst Menschenmassen in den großen Bahnhof hinein strömten oder ihn verließen. In den Daily News hatten sie einen großen Artikel gefunden, in dem es hieß,

dass die Grand Central Station seit vergange­ nem Samstag geschlossen sei und der U-BahnVerkehr über andere Linien und Stationen um­ geleitet würde. Man habe scharfe Sprengsätze aus den Zeiten der Religionskriege in den UBahn-Schächten entdeckt und ein großes De­ pot mit Giftgasbehältern. Sie erreichten die 116th Street, die Zufahrt zum Universitätsgelände. Washington Roots ging vom Gas. »Gesperrt«, sagte Diego leise. »Sie haben die Zufahrt tatsächlich abgesperrt.« Barrikaden des Straßenbauamtes standen quer über der Straße, Umleitungs­ schilder waren aufgebaut. Sie fuhren um den Universitätskomplex her­ um. An jeder Zufahrt das gleiche Bild: Barrika­ den und Umleitungsschilder und dahinter auf dem Universitätsgelände Wohncontainer und noch nicht aufgebaute Baukräne. »Wegen des verdammten Treffens mit Cassi­ dy habe ich heute Morgen weder Nachrichten gehört noch die New York Times gelesen«, knurrte Washington Roots. »Sonst gucke ich jeden Tag in die Zeitung. Die ganze letzte Wo­ che haben sie nichts über eine Schließung der Columbia University geschrieben. Kein Ster­ benswörtchen!« Er schlug auf das Lenkrad. »Auch nichts über die Schließung des Metropo­

litan Museums, und über eine bevorstehende Umleitung der U-Bahn-Linien schon gar nicht.« An der Kreuzung zur Amsterdam Avenue blie­ ben sie vor einer roten Ampel stehen. Der Lati­ no schüttelte den Kopf, während er die Absper­ rungen vor den Zufahrten zum Universitätsgelände betrachtete. »Wenn das Gebäude tatsächlich einsturzgefährdet wäre, hätte man doch irgendetwas davon gehört«, argwöhnte er. »Und selbst wenn – warum sperren sie dann gleich sämtliche Gebäude der Universität?« Die aktuelle Ausgabe der New York Times hatte von einem unruhigen Wochenende auf dem Campus berichtet. Die Studenten hatten gegen die Stillegung des Universitätsbetriebes protestiert. Und vor allem gegen ihre – durch ein Losver­ fahren geregelte – Umverteilung auf andere Universitäten der Vereinigten Staaten. Niemand konnte sich vorstellen, dass ein Ge­ bäude, in das bis vor drei Tagen noch Tausen­ de von Menschen ein und aus gingen, von Heu­ te auf Morgen einsturzgefährdet sein konnte. »In der Lower East Side und in der nördli­ chen Bronx hat die Stadt eine Menge Bauarbei­ ter rekrutiert«, sagte Diego nachdenklich. »In

Harlem auch.« Die Ampel sprang auf Grün und Roots fuhr an. Watongas Arm mit dem Joint tauchte zwischen ihm und Diego auf. Der Puer­ toricaner griff danach und nahm einen tiefen Zug. »Die Stadtverwaltung gibt nicht einfach so nach.« Roots schüttelte den Kopf. »Die haben einen Grund, einen Grund der ihnen keine an­ dere Wahl lässt. Ich habe euch gesagt, dass die Sache einen Haken hat. Und ich wiederhole es: Sie hat einen gewaltigen Haken. Der Haken verbirgt sich hinter diesen Absperrungen …« »Ich kenne ein paar Leute, die ab dieser Wo­ che auf der Lohnliste der Baubehörde stehen«, sagte Diego. »Ich werde sie anspitzen. Ich will wissen, was hinter den Bauprojekten steckt. Was zum Teufel soll da wirklich gebaut wer­ den?« »Was graben die Ratten, wenn ihnen der Ko­ jote auf der Spur ist?« Watongas rauer Bass kam aus dem Fond des Cabbies. Diego dreht sich um und machte eine verblüffte Miene. Roots musterte die verwitterte Miene des alten Dakotas über den Rückspiegel. »Löcher«, sagte Watonga. »Und was bauen die Menschen, wenn ihnen der Himmel auf den Kopf zu fallen droht?«

Brooklyn Heights, 10. Oktober 2011 »Dieser Hohlkopf!« Burt Cassidy betrat das Wohnzimmer seines Hauses. Der Fernsehap­ parat in der Schrankwand lief. »Der darf na­ türlich an keinem Montagabend fehlen.« »Genau, Dad.« Patricia lag bäuchlings auf dem Teppich. Ihr Gesichtchen in die kleinen Fäuste gestützt, betrachtete sie die Mattschei­ be. Timothy LaHaye verbeugte sich eben auf dem Podium und nahm den donnernden Ap­ plaus seines Studiopublikums entgegen. »Er ist kein Hohlkopf.« Dennis hockte im Schneidersitz neben seiner Schwester. »Er ist witzig, so genial witzig wie du niemals sein wirst, Dad.« »Herzlichen Dank, mein Sohn.« Burt grinste müde. »Endlich erinnert mich mal jemand an meine Grenzen.« Er blieb neben dem Wohn­ zimmertisch stehen und sah auf den Bild­ schirm. Der Mann, den er für einen Hohlkopf hielt, winkte ihm in Winner-Pose zu. Das lange Haar stand Timothy LaHaye heute fontänenartig vom Hinterkopf ab; Lider, Au­ genränder und Lippen waren Schwarz ge­ schminkt. Er trug einen bunten Frack, dessen rote, gelbe und orangene Farben wie Flammen ineinander übergingen.

Burt ließ sich auf einen Sessel sinken. Er war bester Stimmung nach diesem Montag. Der Bürgermeister persönlich war in seinem Büro aufgetaucht, um ihm für sein Engagement in der Bronx zu danken. Genau so hatte er sich ausgedrückt: Ich danke Ihnen für Ihr Engage­ ment in der Bronx … »Er hat sich als Stern verkleidet«, staunte die Kleine. »Quatsch! Als Komet!«, korrigierte sie ihr äl­ terer Bruder. Burt runzelte die Stirn. Er hatte dem schrillen Aufzug des Fernsehmoderators keine tiefere Bedeutung zugemessen. Der Applaus legte sich; hinter LaHaye nahmen seine fünf TalkShow-Gäste Platz. Wie ein Prediger hob er die Arme. Sein unge­ knöpfter Frack öffnete sich; er trug ein schwarzes T-Shirt darunter. »Blinke, blinke, kleiner Stern, auf Erden hat dich jeder gern … Na ja, jedenfalls solange du kein Loch in unse­ ren schönen blauen Globus machst. Die gehen so furchtbar schwer wieder raus …« »Geschmacklos«, brummte Burt. Es passte ihm nicht, von diesem Gecken im Fernsehen an den Kometen erinnert zu werden. Und an die Mühle seines Arbeitsalltags. Im Municipal Building sprach man vom Kometen

als von einer »möglicherweise eintretenden Krise«. Krisen waren dazu da, dass man sie managte. »Nicht so verdrossen, Ladies und Gentlemen.« Timothy LaHaye mimte den Ent­ rüsteten. »Sie werden sich doch nicht die Lau­ ne von ein paar Schwarzmalern verderben las­ sen. Und außerdem – ist das ganze Spektakel nicht ungeheuer aufregend? Haben Sie sich etwa in den letzten Wochen gelangweilt – sa­ gen Sie selbst? Wann hat uns denn zuletzt je­ mand ein derartig bombastisches Feuerwerk in Aussicht gestellt? Von den beiden Weltkrie­ gen mal abgesehen …« Lea kam ins Zimmer. Missmutig blickte sie auf den Fernsehapparat. Sie war weniger gut gelaunt als Burt an diesem Abend. Die Redakti­ on ihres Magazins hatte ihren Artikel abge­ lehnt. In der derzeitigen Aufregung um »Chri­ stopher-Floyd«, so hatte die Chefredakteurin im Ablehnungsbrief geschrieben, würde man uns zu Recht Panikmache vorwerfen, wenn wir unsere Leserinnen mit der Jahreszahl 2012 als Ende des Majakalenders konfrontier­ ten. Davon abgesehen kommen andere For­ scher in dieser Hinsicht zu ganz anderen Er­ gebnissen …

Lea ließ sich neben Burt auf die Couch fallen. »Ist schon wieder Montag?«, fragte sie müde. Burt legte den Arm um sie. »Da wir den Megastar dieser Tage nicht per­ sönlich im Studio empfangen können, habe ich ihm zu Ehren wenigstens einen Gast eingela­ den, der ihn bestens kennt.« LaHaye tänzelte mit wiegenden Hüften zu seinen Gästen, setzte sich auf den freien Stuhl in ihren Halbkreis und wies auf einen dünnen, nervös wirkenden Mann. »Professor Doktor Jacob Smythe, Leiter der Astronomie Division der US Air Force. Willkommen!« Heftiger Beifall erhob sich. LaHaye stellte die weiteren vier Gäste des Abends vor. Eine erfolgreiche Pornodarstelle­ rin aus Chicago, die sich Ende des Monats ein­ frieren lassen wollte. Einen Baptistenprediger aus Austin, Texas, der den Kometen nicht für einen Kometen, sondern für eine göttliche Er­ scheinung hielt. Einen frischgebackenen Milli­ ardär aus Abilene, Kansas, der seit drei Wo­ chen so genannte Survival-Holes verkaufte, die jeder halbwegs geschickte Heimwerker ohne große Mühe im Vorgarten oder Hinterhof un­ terirdisch installieren konnte. Und schließlich die Vorsitzende einer linken Nudistenpartei aus Huntsville, Alabama. Sie behauptete, »Christopher-Floyd« sei weiter nichts als eine

Erfindung der US-Regierung und ihrer euro­ päischen Vasallen, mit der einer Weltdiktatur der Weg geebnet werden sollte. »Fehlt nur noch ein Maya-Indianer mit sei­ nem Katastrophenkalender«, stöhnte Burt. »Lauter Spinner.« »Ist doch witzig!«, quäkte sein Sohn. »Der Astrophysiker auch?«, fragte Lea. »Ich hoffe, er sieht nur so aus.« Der hagere Mann mit dem schütteren blonden Haarzopf und den weit aus den Höhlen tretenden Augen rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her und fummelte ständig in der Brusttasche sei­ nes Hemdes unter seinem brokatfarbenen Jackett herum. Hinzu kam, dass er fortwäh­ rend ins Publikum hinein äugte, als säße dort jemand, der ihn jeden Moment mit Farbbeu­ teln oder auch nur mit Tomaten bewerfen könnte. Er machte in der Tat keinen besonders gesunden Eindruck. Und auch keinen vertrau­ enswürdigen. »Kommt er oder kommt er nicht, Professor?« Als wollte er über ihn herfallen, wandte La­ Haye sich an Smythe. »Er kommt«, blaffte der Astrophysiker. »Le­ sen Sie keine Zeitungen? Die Frage ist nur, wie nah er uns kommt.«

LaHaye schob sich an den Professor heran und legte seinen Kopf auf dessen Schulter. »Und wie nah kommt er, wenn man Ihren ge­ rissenen Berechnungen vertrauen würde?«, schmachtete er. »Wird das Universum ab Mitte Februar nächsten Jahres wirklich auf Timmys MoonTalk verzichten müssen?« Brüllendes Gelächter aus dem Publikum. Smythe zuckte zurück; seine Glubschaugen schienen noch weiter aus den Höhlen zu tre­ ten. Er rückte mit seinem Sessel ein Stück von LaHaye ab und wischte sich mit der Hand über die Schulter. »Er kommt uns verdammt nahe. Wenn Sie heute Nachmittag die Pressekonferenz der Astronomie Division verfolgt hätten, wüssten Sie, dass ich die Chance einer Kollision derzeit mit einundsechzig Komma acht Prozent ange­ be. So sieht es aus.« »Nun ja«, flötete LaHaye. »Vielleicht ist was dran, vielleicht auch nicht – diese Lady hier hält das alles für einen ausgemachten Schwin­ del.« Er wandte sich an die Vertreterin der Nu­ distenpartei. »Nicht wahr, Mrs. Olsen?« Die ältliche Frau nickte heftig. »Und Reverend Se­ rious aus Austin glaubt auch nicht an einen Kometen …«

»Es ist kein Komet!«, donnerte der schwarze Reverend los. »Es ist der Erzengel Michael! Er kommt, um die Posaune zum Jüngsten Gericht zu blasen!« Patricia fing plötzlich an zu weinen. »Ich hab Angst, Mum«, jammerte sie. Kerzengerade saß sie auf dem Boden, sah ihre Eltern aus geweite­ ten Augen an und streckte die Armchen nach Lea aus. Die sprang auf und nahm sie auf den Arm. »Heulsuse!« Ihr Bruder versuchte seiner Stimme einen verächtlichen Klang zu geben. Aber sie war verdächtig heiser. »Sind doch al­ les nur Spinner!« Lea trug die Kleine zur Couch und setzte sie zwischen sich und Burt. »Mein Zuckerstück braucht überhaupt keine Angst zu haben.« Burt drückte das Mädchen an sich. Zärtlich küsste er ihren Scheitel und streichelte ihren Rücken. »Überhaupt keine Angst … Mum und Dad sind bei dir und werden immer bei dir bleiben …« Lea und er trösteten die Kleine, während der frischgebackene Milliardär aus Abilene sagte, dass der Komet ganz gewiss die Erde treffen würde, darauf verwette er seinen Kopf. Er hieß übrigens John Beswick, hatte acht Wochen zu­ vor noch in einem Wohnwagen gewohnt und

von der Fürsorge gelebt. Die bescheuerten Wahrscheinlichkeitsrechnungen seien doch nur Augenwischerei der Regierung, verkünde­ te er, der Komet komme und basta. Aber nie­ mand brauche sich deswegen allzu große Sor­ gen machen, wenn er sich nur rechtzeitig das bombensichere Survival-Hole von Beswick & Compagnon in seinen Garten einbuddeln wür­ de. Er zog sich den Präsentationskoffer, der neben seinem Stuhl stand, auf die Oberschen­ kel, um die Fernsehnation mit seiner Erfin­ dung bekannt zu machen. Aber LaHaye be­ stand darauf, sich zunächst einmal anzuschauen, was denn eigentlich passieren würde, wenn nun der Komet tatsächlich die Erde träfe. Professor Dr. Smythe hatte eine Computeranimation mitgebracht. Die wurde eingespielt. Auf dem Fernsehschirm sah man einen glei­ ßenden Feuerball durch das Weltall rasen, der einen langen zerfasernden Schweif hinter sich her zog. Der Astrophysiker kommentierte die Bilder. »Hier sehen Sie eine Aufnahme des Kometen Hale-Bopp, der im Jahre 1995 von zwei ameri­ kanischen Astronomen entdeckt wurde …« Smythe sprach von Kometenkernen, von JetEffekten und von Schweifen. Patricia hatte auf­

gehört zu weinen, sie schluchzte nur noch und starrte mit großen Augen auf den Fernseh­ schirm. »Und nun die Computeranimation des Einschlags …« Smythe sprach hektisch und verwaschen, wie ein Reiseführer, der den Fei­ erabend herbeisehnte. »Wenn der in dieser Form stattfindet, das sage ich Ihnen gleich, dann bleibt hier unten kein Stein auf dem an­ deren und kaum jemand wird übrig bleiben, um sie wieder aufeinander zu schichten …« Man sah jetzt eine rot glühende Keule in die Erdatmosphäre eintauchen und auseinander brechen. Smythe redete von Gezeitenreibung. Unzählige glühende Brocken schlugen auf der Erde auf. Das Bild wechselte. Man sah ein Trümmer­ stück auf Manhattan niedergehen, und ein zweites ein paar Seemeilen östlich von New York City in den Atlantik. Eine gewaltige Flut­ welle erhob sich, Wasserfontänen und ver­ dampfendes Gestein schossen als riesige Feu­ ersäulen in den Himmel. Burt bemerkte plötzlich, dass sein Sohn wie versteift vor dem Fernsehgerät saß. Dennis zit­ terte am ganzen Körper. Burt beugte sich zur Seite, um sein Profil zu sehen – der Mund des Jungen stand weit offen und seine Gesichts­ haut war aschfahl. Burt griff nach der Fernbe­

dienung und schaltete das TV-Gerät aus. Patri­ cia fing laut an zu schreien. Dennis fuhr her­ um; er hatte Tränen in den Augen. »Euer Dad wird euch jetzt was sagen.« Burt drückte die Kleine an Leas Brust, stand auf und ging zu seinem Sohn. Er setzte sich vor ihn auf den Teppich und schloss ihn in die Arme. »Es wird uns nichts passieren.« Er sprach langsam und eindringlich. »Habt ihr das ver­ standen? Es wird uns nichts passieren.« Der Körper seines Sohnes bebte unter seinen strei­ chelnden Händen. »Solche Bilder wie die eben gab es schon, als ich noch ein kleiner Junge war. Das sind alles nur Filmtricks, hört ihr, und nicht die Wirklichkeit. Es macht uns jetzt nur Angst, weil man überall und ständig von diesem Kometen hört.« Der Junge drückte ihn von sich weg und blick­ te zu ihm auf. Seine Augen waren merkwürdig starr. »Aber jetzt ist da doch wirklich ein Ko­ met, Dad«, sage er leise. »Und wenn sie sagen, dass er einschlagen wird …« Burt schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein, nein! Man weiß überhaupt nichts! Die Leute reden nur gern über die schlimmste Möglichkeit, weil sie sich dann gruseln. In Wahrheit weiß niemand von denen, was ge­ schehen wird. Verstehst du?«

Der Junge nickte langsam. »Aber wenn er nun … wenn er nun doch …« »Kaufen wir uns so ein Survival-Hole, Dad?«, schluchzte Patricia an Leas Brust. Burt er­ schrak, als er das Entsetzen in den Augen sei­ ner Frau bemerkte. »Uns wird nichts passieren«, sagte er be­ schwörend. »Das verspreche ich euch. Ich glaube nicht, dass der Komet gefährlich für uns wird. Aber wenn doch, dann kennt euer Dad einen Platz, an dem wir ganz sicher sind, wir alle vier. Dort werde ich dann mit euch hingehen …« New York City, Harlem, W. Oktober 2011 Die Katastrophe tobte über die Mattscheibe. Der Zeitplan des Untergangs wurde durch in­ fernalische Bilder veranschaulicht und von der hektischen Stimme eines Fachmanns kommen­ tiert. Washington Roots saß im Schneidersitz auf dem Boden, in jedem Arm eines seiner Kin­ der. Sie drückten ihre kleinen Körper an ihn. Wie gebannt hingen ihre Augen an der TV-Höl­ le. Hinter ihnen lief Sarah aus der Küche ins Schlafzimmer und wieder zurück. Sie schlepp­ te irgendwelche Pappkartons ins Schlafzim­ mer. Und von Zeit zu Zeit veranstaltete sie

einen Lärm, als würde sie dort drinnen Möbel verrücken. »… Springfluten von mehreren Kilometern Höhe werden bis weit ins Innere der Konti­ nente rollen und erst vor Hochgebirgen wie etwa den Rocky Mountains zusammenbre­ chen. Und dann wird ein heißer Orkan mit un­ glaublicher Geschwindigkeit über die Erde ra­ sen, Bäume entwurzeln und alles was nicht niet- und nagelfest ist durch die Luft schleu­ dern. Alles Brennbare wird in Flammen auf­ gehen, sogar Flüsse werden verdampfen …« »Ich habe Angst, Dad«, wisperte Yassins ho­ hes Stimmchen. Wash drückte sie und Amoz an sich. »Kann Allah das nicht verhindern, Dad?« Die flehenden Augen seiner Tochter sahen zu ihm herauf. Wash drehte es das Herz im Leibe her­ um. »Vielleicht wird er es verhindern, Yassin.« »Wenn nicht, dann haben wir ja nur noch …« Amoz blickte zur Decke hinauf und dachte an­ gestrengt nach, »… dann haben wir ja nur noch vier Monate Zeit …« »Wenn das so wäre, sollten wir besonders lieb zueinander sein in diesen vier Monaten.« »Kannst du den Kometen nicht aufhalten, Dad?«, wollte die Kleine wissen.

»Ich werde mir etwas überlegen.« Wash stand auf. Er ertrug es nicht mehr. Die Fragen seiner Kinder wühlten ihn auf und trieben ihm die Tränen in die Augen. Er ging zu Sarah ins Schlafzimmer. Sie hatte das Bett fast bis ans Fenster und den Kleiderschrank bis an die Türwand gerückt. Zwischen Schrank und Wand stapelten sich Kisten. »Was machst denn du hier …?«, entfuhr es Wash. Er trat an die Kisten heran – Umzugs­ kartons voller Packungen mit Babynahrung und Windelpaketen. »Ich bereite mich vor«, sagte Sarah. »Wenn der verdammte Komet tatsächlich kommt, wird es all das nirgends mehr zu kaufen ge­ ben.« Fassungslos starrte Wash seine Frau an. »Sa­ rah …« Er suchte nach Worten. »Wenn der Ko­ met tatsächlich einschlägt, wird kein Stein auf dem anderen bleiben, dann wird auch dieses ganze Zeug hier verbrennen …« »Ich will nichts hören davon!«, unterbrach sie ihn. »Sieh zu, dass du einen Keller auftreibst, einen Schacht oder weiß der Teufel was!« Sie stellte sich vor ihn hin und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ich will, dass unsere Kinder leben!«

»Keller … Schacht … Ein Kometeneinschlag wird einen Feuerbrand entfesseln, der sich tief in die Erde hinein frisst! Du hättest dir eben die Computer-Animation im Fernsehen -« »Ich will davon nichts hören! Meine Kinder sollen leben! Auch das Ungeborene soll leben. Hast du nicht gesagt, es gibt immer einen Weg? Lass dir was einfallen …!« Wash wandte sich ab und ging zurück zu den Kindern. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Eimer kalten Wassers über dem Kopf ausgeleert. Ja, sie hatten über den Kometen gesprochen. Und über die Möglichkeit, dass er die Erde treffen könnte. Doch zum ersten Mal berührte ihn die drohende Katastrophe tief in seinem Inneren, als wäre eine Information, die er bisher nur in seinem Kopf mit sich herum getragen hatte, jäh in sein Gefühlsleben einge­ brochen. Er ließ sich wieder zwischen den Kin­ dern auf dem Boden nieder und legte die Arme um deren Schultern. »Ein richtiger Thriller, den sie uns da mitge­ bracht haben, Professor! Wow!« Auf dem Fernsehschirm schüttelte sich der Mann in dem Feuerfrack. »Wäre ich Mutter Erde, wür­ de mir jetzt ganz schön die Muffe gehen.« Das Publikum lachte. »Mal eine ganz persönliche Frage, Professor Smythe – ziehen Sie eigent­

lich auch private Konsequenzen aus Ihren Wahrscheinlichkeitsrechnungen?« Er wies in die Runde. »Unser Pornostar lässt sich einfrie­ ren, Mister Beswick baut Survival-Holes, der Reverend betet – was machen Sie?« Professor Dr. Jacob Smythe zog einen Scho­ koriegel aus seiner Hemdtasche. »Meinen Job.« Berlin, 10. Oktober 2011 Es war spät geworden, zwei oder halb drei – Matt hatte schon länger nicht auf die Uhr ge­ schaut. Die Bilder aus dem TV-Gerät an der Wand gegenüber der Theke fesselten ihn. »Ich glaubs nicht …«, flüsterte Hank Williams auf dem Barhocker neben ihm. »Ich kann es mir einfach nicht vorstellen …« Jenny Jensen auf dem Hocker an Matts rechter Seite drehte nervös an ihrem Ehering herum. Irvin Ches­ ters Gesicht hatte die Farbe feuchten Lehms angenommen. Seine Kaumuskeln arbeiteten. Kurz vor Mitternacht, nach einem Boxkampf in einer nicht weit entfernten Sporthalle waren sie in ihr Stammlokal eingekehrt – in den Zwiebelfisch. »Wenn dat Dingens uns wirklich auf die Birne knallt, könnwa uns janich warm jenuch anziehn.« Die Stimme des Wirtes hin­ ter der Theke. Ein korpulenter Bursche mit

grauem Bürstenschnitt. Er trug ein weißes Muscleshirt, und kunstvolle Tätowierungen bedeckten beide Arme von den Handrücken bis hinauf zu den nackten Schultern. Hank Williams, der sich selten eine Talk-Show von Timothy LaHaye entgehen ließ, hatte Axel überredet, trotz der Nachtstunde CBS einzu­ schalten. Der Mann auf dem Bildschirm hieß Jacob Smythe. Matt hatte ihn vor einigen Wochen schon einmal im Fernsehen gesehen und ge­ nau so unsympathisch gefunden wie heute. Er ratterte die Folgen des Untergangs herunter: »Pechschwarzer Himmel, monatelang kein Sonnenlicht, in der Folge eisige Winter … wie ein Leichentuch wird der Schnee bedecken, was von uns übrig geblieben sein wird.« Er biss von einem Schokoriegel ab und sprach mit vol­ lem Mund weiter. »Die Atmosphäre voller Stickoxide und Salpetersäure, überall rötliche Gase, Vulkane spucken unvorstellbare Mengen von Lava aus, heiße Wasserfontänen aus der zerbrochenen Erdkruste, dann extrem saure Regenfälle, Schwermetalle in der Atmosphäre, Radioaktivität aus zerstörten Kernkraftwerken und Raketensilos – Frauen, die dann noch le­ ben, werden missgebildete Kinder zur Welt

bringen, Jahrzehnte danach die ersten Muta­ tionen …« »Alles Lüge!«, schrie einer der beiden weibli­ chen Gäste. »Lüge! Jawohl!« Der schwarze Reverend aus Texas schlug mit der Faust auf das Beistell­ tischchen neben seinem Sessel. Sein Wasser­ glas fiel um. »Es ist der Erzengel Michael -« »… da nützen auch Ihre lächerlichen SurvivalHoles nichts, Mister Beswick«, beendete der Astrophysiker ungerührt seinen Satz und biss erneut in den Schokoriegel. »Erlauben Sie mal! Mein Produkt sichert das unmittelbare Überleben! Dafür garantiere ich …!« »… ein paar Sekunden eventuell«, entgegnete Smythe. »Man wird nicht sofort erschlagen, zerdrückt oder verbrannt, man wird langsam gebraten …!« »Na denn juten Appetit«, brummte Axel hin­ ter seiner Theke. Matt drehte sich zu ihm um und griff nach sei­ nem Bierglas. Er fühlte sich hundeelend. Nach und nach wandten sich auch die anderen vom TV-Gerät ab, griffen nach ihren Gläsern oder zündeten sich Zigaretten an. »Wenn der Typ Recht hat«, krächzte Axel, »dann dauat unsere Zukunft nur noch’n paar

Wochen. Und danach könnwa einpacken.« Er hob sein Bierglas. »Prost.« »Ich kanns einfach nicht glauben«, stöhnte Hank. »Shit! Ich glaubs nicht …« Seine er­ schrockene Miene schien Matt etwas Anderes zu sagen. »Wenn sich das in den nächsten Wochen be­ stätigt, werde ich meinen Dienst quittieren.« Jenny sprach leise. Die Männer wandten die Köpfe und sahen sie schweigend an. »Dann flieg ich nach Ontario zurück. Die letzten Wo­ chen will ich mit meinem Mann verbringen.« Mit meinem Mann … Matt dachte an Liz. Und den Urlaub, den er beantragt hatte. Ein Knoten schien seinen Hals zuzuschnüren. »Und ich«, Hank Williams schlug mit der fla­ chen Hand auf den Tresen, »werde meine Win­ chester aus dem Waffenschrank holen und meinen Gaul satteln. Die letzten Wochen reite ich durch die Wälder der Rockys …« »Da wird um diese Zeit tiefster Winter herr­ schen«, sagte Matt trocken. »Wenn dieser Glubschaugentyp«, mit einer Kopfbewegung deutete Irvin Chester über die Schulter zum Fernsehgerät, »uns demnächst eröffnen sollte, dass es nun richtig ernst wird, dann werden wir bis zum Einschlag die Hölle auf Erden erleben.« Er stierte in sein Glas.

»Und dann sollte man ernsthaft daran denken, sich die Kugel zu geben.« »An ein Ende glaube ich erst, wenn es da ist.« Matt schürzte die Lippen und nickte, um sei­ nen Satz zu unterstreichen. Ein trotziger Aus­ druck lag auf seinen Gesichtszügen. »’n Shuttle hochschießen, auf dem Scheißding landen, Atombombe rein und Fang!« Wieder klirrten die Gläser auf dem Tresen unter dem Faustschlag des Wirts. »Erledigt.« »Das gibts nur in Hollywood-Filmen«, winkte Matt ab. »Der Komet ist zu schnell, niemals könnte man darauf landen. Außerdem wären vier Monate dafür viel zu knapp …« Begierig griffen sie das Thema auf. Sie disku­ tierten über Interkontinentalraketen, über die Anzahl von Atomsprengköpfen, die nötig wä­ ren, um einen acht Kilometer durchmessenden Kometen zu zersprengen, über Dinosaurier und Bunkersysteme. Jeder war froh, von sei­ ner persönlichen Erschütterung abgelenkt zu werden, jeder versuchte die Hoffnung in sich anzufachen – die Hoffnung, dass die Mensch­ heit selbst mit einem Großen Auslöscher fertig werden könnte. Eine Stunde später – es war schon gegen vier – kassierte Axel.

Jenny und Hank verabschiedeten sich. Matt und Irvin, schon halb an der Tür, sahen sich noch die Vier-Uhr-Nachrichten an. Für die Be­ wohner der amerikanischen Ostküste waren es die Zweiundzwanzig-Uhr-Nachrichten. Von Hamsterkäufen in allen Teilen der Welt wurde berichtet – Lebensmittel vor allem –, von einer sich abzeichnenden Wirtschaftskrise, von stei­ genden Mordraten in den Großstädten, von Unruhen und Ausnahmezuständen in einigen Staaten der Dritten Welt. Und von einer Ter­ rorwelle, die seit einigen Tagen ganz Skandina­ vien erschütterte. Rechtsextreme Fanatiker töteten Künstler und Intellektuelle, ließen Autobomben vor Po­ lizeidienststellen detonieren und überfielen kirchliche Einrichtungen. »Lokis Krieger« nannten sie sich. Matt horchte auf. Die gleiche Mörderbande, die Beryl auf dem Gewissen hat­ te. Am Nachmittag hatten sie eine Kirche in ei­ ner schwedischen Stadt an der norwegischen Grenze überfallen. Dreiundzwanzig Menschen wurden getötet und über vierzig zum Teil schwer verletzt. »Sag ich’s nicht?«, knurrte Irvin. »Die Hölle – es geht schon los.« »Ja«, nickte Matt, »es geht los. Wenn nicht bald Entwarnung gegeben wird, ist das Chaos

nicht mehr aufzuhalten.« Er schlug seinem Captain auf die Schulter. »Dann wird keine Zeit sein, an Urlaub in trauter Zweisamkeit oder im Pferdesattel zu denken. Und an eine Kugel schon gar nicht. Dann werden wir ge­ braucht, Big Boy.« Aus der LA REPUBBLICA, Montag, 17. Okto­ ber 2011: Der Vatikan, seit den so genannten Religions­ kriegen eher schweigsam, meldete sich gestern erstmals zu dem von aller Welt mit Furcht er­ warteten Kometen und der durch ihn ausgelös­ ten Massenhysterie zu Wort. Johannes-Paul III. mahnte die Christenheit, »ihren glaubens­ losen Mitbürgern ein Vorbild zu sein und im Wort der Heiligen Schrift und im Gebet Zu­ flucht zu suchen statt bei Weltuntergangssek­ ten, Wahrsagern und politischen Wirrköpfen«. Scharf wandte er sich gegen die weitverbreite­ te Torschlusspanik, die, so wörtlich, »nur noch die Rettung der eigenen Person und Familie im Sinn hat.« Johannes-Paul III. begrüßte ausdrücklich die in den letzten zwei Monaten in allen Industrie­ nationen signifikant gesunkenen Scheidungs­ raten, die drastische Zunahme der Gottes­ dienstbesucher und die mittlerweile in fast

allen Kirchengemeinden der Welt aufrecht er­ haltene ökumenische Gebetskette. Das rund um die Uhr währende Gebet gegen »Christo­ pher-Floyd« bezeichnete der Papst als ein Zei­ chen dafür, dass Kirche und Glaube noch im­ mer lebendig seien. Dagegen kritisierte der Papst die wöchentlich steigende Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen und den exzessiv angestiegenen Alkoholkonsum in allen Indus­ trienationen. »Gott will uns prüfen«, so der Heilige Vater während seiner Predigt im Pe­ tersdom, »aber er will seiner geliebten Menschheit nicht ihre Zukunft rauben …« Paris, 21. Oktober 2011 Herbert Fuchs lag im Morgenmantel auf dem Bett seines Hotelzimmers, in der Linken ein Sektglas, während er mit der Rechten den Te­ lefonhörer ans Ohr drückte. »Ich bin in Paris.« »Unter einer Seinebrücke bei den Clochards?« Leiser Spott schwang in Julias Stimme mit. »Nein, in einem Vier-Sterne-Hotel; ich hab für drei Wochen gebucht.« »Hast du im Lotto gewonnen?« »Kann man so sagen«, grinste Herbert. »Kommst du?« Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Ich lad dich ein. Wir schauen uns

Paris an, zwei oder drei Wochen lang, solange wir Lust haben, und danach erfülle ich mir meinen Jugendtraum, und du wirst dabei sein.« »Jugendtraum?« »New York City. Stell dir vor, Julia, wir beide machen uns ein schönes Leben in New York City.« »Du spinnst. Ist das dein Ernst? – Das geht doch nicht … Was soll aus der Grillstube wer­ den?« »Scheiß drauf.« »Und Mustafa …? Weißt du, ich glaub, ich lie­ be ihn.« Herbert lachte schallend. »Liebe in den Zei­ ten des Kometen! Vielleicht hast du nur noch vier Monate Zeit, um Pommes zu fritieren und deinen Türken zwischendurch ein bisschen zu lieben. Komm zu mir, Julia, vielleicht schaffen wir es, ein bisschen was nachzuholen.« »Ich kann nicht, Herbert …« »Überleg es dir, Julia, überleg es dir gut. In ein paar Tagen rufe ich noch einmal an. Über­ leg es dir gut!« Er unterbrach die Verbindung, trank seinen Sekt aus und stand auf. Langsam zog er sich an.

Er genoss jedes Kleidungsstück, in das er stieg: die schwarzen Lederstiefel, die dunkel­ graue Wildlederhose, das graue Leinenhemd, die schwarze Lederweste und den schwarzen Hirschledermantel. Alles nagelneu, alles sündhaft teuer. Über zweiundneunzigtausend Euro hatte er bei dem Banküberfall erbeutet. Fast zwei Wo­ chen lang lag die Beute in einem Schließfach des Bochumer Hauptbahnhofs, während Her­ bert weiter auf seiner Parkbank schlief und in der Fußgängerzone Musik machte, als wäre nichts geschehen. In diesen zwei Wochen hatte Herbert seine alten Kontakte zur Drogenszene angezapft und das zum Teil registrierte Geld an einen Geldwäscherring verkauft. Etwas mehr als fünfzigtausend Euro waren ihm ge­ blieben nach dem Geschäft. Immer noch weit mehr als zehntausend Euro pro Monat, falls der Komet tatsächlich die Erde treffen sollte. Und wenn doch nicht … man würde sehen. Kurz darauf verließ Herbert Fuchs sein Hotel, um sich ins Pariser Nachtleben zu stürzen. Etwa zur gleichen Zeit wanderte Marc Christo­ pher Hand in Hand mit Vivian Reynolds am Strand von Miami entlang. Er fragte sie, ob sie ihn heiraten wolle, und sie sagte: Ja.

Und ebenfalls zur gleichen Zeit, nur ein paar hundert Kilometer weiter westlich saß Archer Floyd mit einem guten Bekannten in einem Pub. Der gute Bekannte war Internist. Floyd wollte von ihm wissen, wie es sei, durch eine Überdosis Insulin zu sterben. Sein guter Be­ kannter erklärte es ihm. Und der Komet war noch genau 798.785.280 Kilometer entfernt. (Wir werden nicht mehr in Glutseen tanzen?) (Nein.) (Wir werden uns nie mehr im Magma von Quar’bool’wiut paaren? Und nie wieder wird uns das Doppelgestirn Muran durch Rauch­ schwaden hindurch zu einem neuen Tag leuch­ ten?) (Nein. Wir werden auch nie mehr Seeswane jagen und Strafzüge gegen die Foll’oors unter­ nehmen. Nichts wird je wieder so sein wie es war …) Der Bilderstrom aus ihrer Aura wurde schwächer. Die Daa ‘muran-Farben-Rot, Orange, Gelb – verblassten. Die Formen der Bergzüge, Felsen und Klippen verschwam­ men, die Körperformen der Daa ‘muren lösten sich auf.

Gespannt lauschte Est’sil’bowaan in die Lan hinein: Statt ihrer Mutlosigkeit gab sie sich ihrer Fantasie hin. Sie versuchte sich neue Bil­ der zu machen. Bilder von Dingen, die sie nicht kannte. Bilder vom Ziel. (Nichts wird je wieder so sein wie es war …) Wieder berührten ihn ihre Gedanken. (Ich kann mir nicht vorstellen, wie es stattdessen sein wird. Kannst du dir das vorstellen, Est’sil’­ bowaan?) (Nein.)

4. Irgendwann, irgendwo Als das Eis im See dünner wurde und schließ­ lich brach, tauten auch die Leichen derer auf, die den Winter nicht überlebt hatten. Das Schmelzwasser der Schneedecke weichte den darunter liegenden Waldboden auf. Sie konn­ ten die Toten begraben. Acht insgesamt, einer davon ein junger Jäger – ein Wisaau-Eber hat­ te ihn mit seinen Hauern aufgeschlitzt. Und drei Säuglinge. Aruula stand zwischen Zurpa und Radaan, während Baloor getrocknete Kräuter ver­ brannte und dem in die kahlen Bäume steigen­ den Rauch seine Gebetsrufe hinterher schick­ te. Fast jedes Wort konnte das Mädchen jetzt, nach sechs Monden, verstehen. Baloor nannte den Namen jedes Toten und er­ innerte die Götter an einzelne Begebenheiten aus ihrem Leben. Meist Jagderfolge oder Kriegstaten. Auch Waffen, die sie eingetauscht und Hausrat und Werkzeuge, die sie angefer­ tigt hatten, erwähnte er. Dinge eben, die sie zum Wohl der Horde getan hatten. Von den Säuglingen freilich gab es nicht viel mehr zu sagen, als dass sie einst zu großen Jä­

gern oder Jägerinnen, mutigen Kriegern oder Kriegerinnen oder zu fruchtbaren Frauen her­ angewachsen wären und dass mit ihnen ein Stück Zukunft der Horde gestorben war. Baloor bat Wudan, den Höchsten der Götter, den Geistern der Toten die Pforten Etheras zu öffnen und die Horde mit neuen Schwanger­ schaften zu segnen. Ethera – auch in Aruulas Volk kannte man den himmlischen Ort, in den die Toten eingin­ gen, die Odiin – oder Wudan, wie die Horde ihn nannte – mit gnädigen Augen ansah. Auf den Dreizehn Inseln nannte man diesen Ort Walhaal. Trotz ihrer erst sechs Winter hatte Aruula schon einige Bestattungsrituale erlebt. In ihrem Volk weinte man laut, wenn jemand begraben wurde. Die Einzige, die hier weinte, während die Toten in die feuchten Erdlöcher geworfen wurden, war Aruula. Sie dachte an ihre Mutter und Waleena. Und an die Leiber all der anderen Verwand­ ten, die am Strand vor Kalskroona von den Vö­ geln gefressen worden waren, oder von den Fi­ schen, falls die Flut sie ins Meer gezogen haben sollte. Keine Priesterin hatte für sie um Einlass ins Reich der Götter gebeten. Würden sie trotz­ dem dort auf sie warten? Aruula konnte sich nichts anderes vorstellen.

Die Tage wurden länger, die schneidende Kälte ließ nach, die Frekkeuscher erwachten aus ih­ rer Winterstarre. Roschaan schickte Jäger aus. Junge Frauen und Halbwüchsige fingen Fische aus dem See. Aruula beobachtete, wie sie mit Speeren und Pfeilen ins Wasser schossen. Ihr eigenes Volk, das überwiegend von Fisch lebte, benutzte Angeln und Netze. Das Mädchen ver­ knotete Tiersehnen zu einer langen Schnur und befestigte sie an einer Rute. Sie grub Wür­ mer und Larven aus und spießte sie auf das Schlüsselbein-Knöchelchen eines kleinen Vo­ gels, das sie an die Angelschnur gebunden hat­ te. Auch ein kleines Netz aus Sehnen knüpfte sie – und dachte dabei an ihre Mutter, die ihr all das beigebracht hatte. Als sie ihren ersten Fisch fing, zeigte sich wi­ derwillige Bewunderung auf den Mienen des Horden-Nachwuchses. Bald setzte sich ein jun­ ger Bursche neben sie und ließ sich von ihr zei­ gen, wie man Angelruten und Netze anfertigte. Irgendwann stand Roschaan plötzlich hinter ihr am Seeufer. Sie sah sein Spiegelbild im Wasser, und als sie erschrocken herumfuhr, lächelte er. Es war das erste Mal, dass Aruula den Häuptling lächeln sah.

In den folgenden Tagen verzog sich sein grob­ schlächtiges bärtiges Gesicht öfter zu einem Lächeln, wenn er Aruula erblickte. Manchmal kam es vor, dass Aruula weinte, weil das Heimweh sie quälte oder weil der Nachwuchs der Horde sie hänselte – viele der Kinder und Jugendliche betrachteten sie noch immer als Außenseiterin. Zurpa tröstete sie dann, und hin und wieder setzte sich Roschaan zu seiner Schwiegertochter und dem ver­ schleppten Kind und erzählte Legenden der Wandernden Völker. Legenden vom sagenhaften Südland jenseits des Eisgebirges zum Beispiel, wo man nur blind den Speer ins Unterholz werfen musste, um einen fetten Kamauler zu erlegen, und wo einem die Lischetten-Larven schon gebraten aus dem Gras entgegen krochen und die köstli­ chen Bellits freiwillig zu Füßen der Hungrigen landeten. Von keiner der drei Tiergattungen hatte Aru­ ula je gehört. Was Zurpa ihr später über den Kamauler erzählte, erinnerte das Mädchen an Wisaaun und Renas zugleich. Renas nannte man bei ihrem Volk die weidenden Tiere, de­ ren Fleisch und hellbraunes Fell der Legende nach schon von den Alten geschätzt wurden.

Lischetten und Bellits schienen riesige Insek­ ten oder deren Larven zu sein. Auch von Wudans Götterheer erzählte der Häuptling einmal. Von Sigwaan etwa, der von Zeit zu Zeit auf ei­ nem großen Vogel durch den Himmel zieht, um sich die Welt zu betrachten. Oder von Tho­ raan, der die Feinde Wudans einst für immer mit seiner Kriegsaxt zerschmettern wird. Und von den Elnaks, den mächtigen Streitern Tho­ raans, die manchmal in höchster Not wie aus dem Nichts erschienen, um Wudans Schützlin­ ge unter den Menschen vom Tode zu erretten. »Jedem hat Wudan einen persönlichen Elnak zugeteilt«, erklärte Roschaan. »Eines Tages wirst du den Namen deines Elnaks erfahren, damit du ihn anrufen kannst.« Er hob warnend den Zeigefinger seiner haarigen Pranke. »Und wenn du ihn erfährst, verrate ihn niemandem, sonst verlässt dich dein Elnak.« Aruula hatte wohl von einzelnen Göttern Odi­ ins schon gehört, aber von Elnaks oder ähnli­ chen Wesen hatten weder Waleena noch ihre Mutter erzählt. Das Mädchen fragte sich, ob beide vielleicht deswegen sterben mussten, weil sie die Elnaks nicht kannten und folglich keinen dieser Schutzgötter anrufen konnten in

jener schrecklichen Stunde am Strand von Kalskroona. Auch von dem Letzten aller Tage erzählte der Häuptling. Von dem Tag, an dem Wudans Göt­ ter Orguudoo und seine scheußlichen Dämo­ nen vernichten werden. Von dem Tag, an dem Wudan Orguudoos Zorn von der Erde reißen und sie neu erschaffen wird so erschaffen, wie sie vor Kristofluu gewesen war. Es sprach sich herum, dass der Häuptling das fremde Kind ins Herz geschlossen hatte. Sor­ ban, Roschaans Sohn, zeigte sich immer freundlicher gegenüber Aruula. Die Hänselei­ en hörten auf, das Jungvolk der Horde behan­ delte sie mit zunehmendem Respekt. Nur Radaan nicht, Roschaans Enkel. Zurpa musste Aruula häufig vor dem wilden Kerlchen in Schutz nehmen. Baloor beobachtete das Mädchen oft. Und Aruula merkte es. Seine roten Augen, sein Blick aus Eis und Feuer machten ihr Angst. Sie versuchte ihm aus dem Weg zu gehen. Den Jungkrieger ihres eigenen Volkes, Grigooras, hasste sie. Die ersten Knospen an den Bäumen schlugen aus. Roschaan ließ die Felle der Unterschlüpfe ausbessern und frisches Holz für die Stangen

schlagen. Shmaldan wurde zubereitet und in Ledersäcken verschnürt, Schwerter und Beil­ scheiden mit Fischöl eingefettet. Man flickte Fellmäntel und reparierte Frekkeuscher-Sät­ tel. In diesen letzten Tagen vor dem Aufbruch sah Aruula den verhassten Grigooras oft in der Nähe des Göttersprechers und des Häuptlings. Von Zurpa erfuhr sie, dass er die beiden davon abhalten wollte, weiter Richtung Westen zu ziehen. Dort führte den Legenden nach eine Brücke über den Kalten Sund. Die EeresundBrücke – einer der vielen Wunderbauten der Alten, die Kristofluu nicht vollständig hatte zerstören können. Aruulas Neugierde erwachte. Sie belauschte die nächtlichen Gespräche Sorbans und Zur­ pas. Die beiden redeten oft und lange, wenn sie genug gestöhnt hatten und damit aufhörten, aufeinander herum zu reiten. So erfuhr Aruula mehr: Grigooras behauptete, der Palast des Westreich-Königs läge direkt an der Brücke in den Überresten einer Stadt, deren Namen Aru­ ula oft von den Erwachsenen in der Gemein­ schaftshütte gehört hatte: Malmee. Und er be­ hauptete, die Krieger des Westkönigs würden die alte Brücke bewachen.

Der Kalte Sund zwischen Malmee und einer großen Totenstadt auf der anderen Küstensei­ te, so erfuhr Aruula, war an dieser Stelle nur wenige tausend Speerwürfe eng, aber immer noch zu breit, um ihn mit den Frekkeuschern überfliegen zu können. Die Totenstadt auf der anderen Seite nannte Sorban Kobenhachen. Aruula erinnerte sich an Erzählungen der Er­ wachsenen in der Gemeinschaftshütte, in de­ nen ein ähnlicher Name gefallen war: Kopaag. Unter ihrem Volk ging die Legende, dass die Ruinen Kopaags von einem schlauen Taratzen­ könig und seinen Rotten beherrscht wurden. Je länger ihre kindliche Fantasie über Sor­ bans und Zurpas Geflüster brütete, desto ge­ wisser wurde sie: Kobenhachen war Kopaag. Aruula wollte unter keinen Umständen dort­ hin. Sie wünschte, ihr Erzfeind Grigooras wür­ de den Häuptling und den Göttersprecher überreden können, einen anderen Weg zu wählen. Doch sie wurde enttäuscht. Roschaan war ein Starrkopf. Er hatte sich vorgenommen, den Kalten Sund noch vor dem nächsten Winter zu überqueren und seine Horde zurück nach Sü­ den an den großen Fluss zu führen. Und von diesem Plan rückte er nicht ab.

Die zweite Meerenge zwischen dem westli­ chen und dem östlichen Nordland lag dem Häuptling zu hoch im Norden. Die Horde hatte sie auf ihrem Weg aus dem Süden ins östliche Nordland benutzt. Ein Schiff zu bauen oder einen besonders har­ ten Winter abzuwarten, in dem das Meer zu­ fror, hätte zu viel Zeit gekostet. Und Roschaan hatte genug vom eiskalten Nordland. Etwa einen Vollmond, nachdem man die To­ ten bestattet hatte, ließ Roschaan das Lager ab­ brechen. Fellplanen und frisch geschlagene Stangen, Proviant und Waffen, Hausrat und Schwangere, Kleinkinder, Säuglinge und Kran­ ke wurden auf die Frekkeuscher geladen. Die Horde brach auf. Und sie brach Richtung Wes­ ten auf. Roschaan verzichtete darauf, auf den Küsten­ pfad zurückzukehren. Er wollte die Deckung des Waldes ausnutzen, obwohl sie nur langsam vorankamen im dichten Unterholz, über ent­ wurzelte Bäume und an den Rändern von un­ wegsamen Sumpfgebieten vorbei. Jäger und Jägerinnen mussten den großen Frekkeuschern den Weg mit Schwertern und Beilen frei schlagen. Zartes Grün hing wie ein großer Schleier in den Baumkronen, als Roschaan nach einem

halben Mond ein Lager aufschlagen ließ, das für längere Zeit Schutz vor Kälte und Nässe bieten sollte. Die Späher hatten frische Feuer­ stellen und Menschenkot entdeckt. Der Kalte Sund konnte nicht mehr weit entfernt sein. Und der sagenhafte Palast des blutrünstigen Westkönigs ebenfalls nicht. Roschaan stellte einen Spähertrupp zusam­ men, der bis nach Malmee vorstoßen sollte. Einen Jäger, eine Jägerin, Grigooras und Sor­ ban. Aruula wurde steif vor Schreck, als der haari­ ge Arm des Häuptlings auf sie deutete. »Und du gehst mit. Du musst lauschen …« Bevor sich am nächsten Morgen das erste Grau in den Nachthimmel mischte, brachen sie auf. Sorban, die Jägerin und der Jäger trugen das Mädchen abwechselnd. Aruula schlief noch halb. Nur wenn Grigooras an der Reihe war, sie zu tragen, wurde sie hellwach und wehrte seine kräftigen Arme ab. Lieber lief sie zu Fuß als auf seinen Rücken zu klettern. Zwei Sonnenuntergänge und einen Sonnen­ aufgang lang bahnten sie sich den Weg durch dichtes Gestrüpp, Bruchholz und Sümpfe. Am Abend des zweiten Tages lauschte Aruula. Sie nahm keine deutlichen Bilder und Gedanken

wahr, aber sie spürte die Nähe vieler Geister. Sorban und Grigooras blickten sie fragend an, als sie sich aufrichtete. »Da sind Fremde.« Aruula flüsterte. Die Angst raubte ihr die Stimme. »Viele Fremde, ganz nah …« Im Schutz der Dunkelheit schlichen sie durch den Wald, stundenlang. Aruulas Füße stießen gegen Stein. Silhouetten von Ruinen erhoben sich zwischen den Baumstämmen. Sie hatten den Rand des alten Malmee erreicht. Feuer­ schein wurde sichtbar; viele kleine glitzernden Punkte und ein sehr großer. Der Wald lichtete sich und hörte plötzlich auf. Bäuchlings lagen sie zwischen den Büschen und spähten hinüber zu den flackernden Licht­ punkten. In gerader Linie leuchteten sie etwa vier oder fünf Speerwürfe entfernt auf einem Wall. Hoch über ihnen und noch weiter ent­ fernt war das große Licht. Flammen loderten dort in den Nachthimmel, beleuchteten aber weiter nichts als die Spitze eines Rundturmes. Von weit her hörte man Stimmen. »Der Palast des Westkönigs«, flüsterte Gri­ gooras. »Das ist er, ich schwörs euch, das ist er.« Die anderen schwiegen. Es war viel zu dunkel, um deutliche Umrisse eines Gebäudes

auszumachen. Trotzdem schien Grigooras’ Be­ hauptung sie zu überzeugen. Auch Aruula glaubte ihm. Ihr Herz schlug aufgeregt. Sie lauschte erneut. Jetzt waren die Bilder deutlicher. Sie sah hohe Mauern, Ge­ wölbedecken, alles vom Schein fremdartiger Lichter erhellt. Keine Fackeln sondern Lichter, die in durch­ sichtigen Kästen brannten und sich in glatten Flächen widerspiegelten. Sie sah Fleischkeulen auf Metallgittern schmoren, sie sah viele Män­ ner in Kleidern aus rauem Leder. Der Geist, durch dessen Augen sie all das erblickte, fühlte sich hart und kühl an. Aruula fröstelte und richtete sich auf. »Eine riesige Hütte«, flüsterte sie. »Viele, viele Män­ ner … Männer die sich wie Riesen fühlen … Ich spüre nichts Schönes … Lasst uns schnell weg­ laufen …« Sorban schüttelte den Kopf. Er schickte sei­ nen Jäger und Grigooras nach Süden. Am Waldrand entlang sollten sie sich um den Wall des Gebäudes herum schleichen und versu­ chen die Küste zu erreichen. »Ihr müsst die Brücke finden. Ihr müsst herausfinden, ob sie bewacht wird.« Der Jungkrieger und der Jäger huschten ins Unterholz. Die Dunkelheit ver­ schluckte sie.

Sorban, die Jägerin und Aruula wickelten sich in ihre Felle und drückten sich aneinan­ der, um sich zu wärmen. Stunden vergingen. Aruula fror. Während die Jägerin und Sorban abwechselnd schliefen und wachten, schloss Aruula keine Auge. Und wenn der Schlaf sie einmal in seine Arme nehmen wollte, schreck­ ten unerklärliche Bilder und fremde Stimmen sie wieder auf. Bilder voller Wildheit und Hochmut. Stimmen die sie nicht verstand, die aber von Blutdurst und Machtgier zu raunen schienen. Mit zunehmendem Morgengrauen wurde der Wall erkennbarer. Und es war kein Wall. Es war eine Steinhütte. Ein anderes Wort dafür fiel Aruula nicht ein – obwohl das steinerne Ding mit den unzähligen Fensteröffnungen natürlich auch keine Hütte sein konnte. Hunderte von Hütten hätten in ihm Platz gefunden. Es war etwa zwölf bis fünf­ zehn Speerlängen hoch. Fenster reihte sich an Fenster und Fensterreihe über Fensterreihe. Das Ende der Wallhütte war nicht erkennbar – sie schien kreisrund zu sein. Und aus ihrem In­ neren ragte ein Turm von mindestens vierzig Speerlängen Höhe. »Der Palast«, flüsterte Sorban. »Bei Wudan, das ist der Palast des Westkönigs!« Der

Adamsapfel unter dem Bartflaum, der ihm in den letzten Monden gewachsen war, tanzte auf und ab. Auch ohne diese Beobachtung hätte Aruula seine Angst gespürt. Etwas derart Großes wie diesen Palast hatte auch der Häuptlingssohn noch nicht gesehen. Zwischen ihrer Deckung und dem Palast reih­ te sich Steinhütte an Steinhütte. Eckige Stein­ pfeiler ragten aus ihren flachen Dächern. Und aus den Steinpfeilern quoll Rauch. »Hoch mit dir, Mädchen.« Sorban deutete auf einen Baum vor ihnen am Waldrand. »Klettere hinauf. Ich will wissen, wie groß der Palast ist. Und vielleicht kannst du Menschen entde­ cken.« Widerwillig erhob sich Aruula. Der unheimli­ che Palast erfüllte sie mit Abscheu. Sie wollte möglichst schnell möglichst viel Weg zwischen sich und ihn bringen. Aber Sorban bestand darauf, dass sie den Baum bestieg. Also kletter­ te sie ins Geäst und arbeitete sich geräuschlos in die Krone des Laubbaums vor. Von dort oben bot sich ihr der Palast des sa­ genhaften Königs in seiner ganzen Wuchtigkeit dar. Er war tatsächlich kreisrund und bedeckte eine Fläche, die man auch mit dreißig oder fünfunddreißig Speerwürfen nicht hätte über­ winden können. Und hinter der äußeren und

höchsten Wallhütte zählte Aruula an den Fin­ gern ihrer Hände sechs Weitere, Niedrigere. Eine lag wie ein Ring innerhalb eines größeren Ringes, und zu dem großen Rundturm hin wurden sie immer niedriger. Auf dem Dach des äußeren Walls sah das Mädchen Menschen, zu weit weg, um Gesichter oder Kleidung erkennen zu können. Sie hock­ ten im Abstand von vielleicht einem halben Speerwurf auf dem Zenit des Kuppeldaches. Wächter, die in die Umgebung des Palastes hinein spähten. So viele, dass Aruula sie nicht zählen konnte. Ihre Blicke wanderten über das erschrecken­ de Bauwerk. Grauer noch als der Himmel waren die run­ den Steinwälle des Riesenpalastes, schwarz an vielen Stellen sogar. Auch bräunliche Ab­ schnitte entdeckte Aruula – Stellen an denen die Bewohner die Gemäuer mit Holz ausgebes­ sert hatten. Auch der Rundturm bestand nur zur Hälfte aus schwärzlichem Gestein. Den oberen Teil – Aruula erkannte es an der rauen Oberfläche – hatte man aus rötlichen Steinbrocken errich­ tet. Steine aus den Ruinen von Malmee, ver­ mutete Aruula. Auch zu Hause hatten sie häu­ fig Kanuladungen voller Steine aus den Ruinen

Kalskroonas geholt, um Gemeinschaftshütten und Öfen daraus zu bauen. Zu Hause … Aruula versuchte die Landschaft hinter dem Ringpalast zu erkennen. Sie sah vereinzelte Gebäude, kastenförmig und teilweise recht hoch, doch der Morgendunst hüllte sie ein und Aruulas Blick reichte nicht weit. Sie kletterte aus der Baumkrone und hangelte sich an den bodennahen Ästen ins Gebüsch hinunter. Atemlos berichtete sie Sorban und der Jägerin, was sie gesehen hatte. Die Augen der Jägerin wurden groß und größer. Sorban wirkte ratlos. Er schabte sich die Kopfhaut un­ ter seinem drahtigen Fetthaar. »Kriegern, die solch einen Palast bauen können, sollten wir aus dem Weg gehen«, sagte er schließlich. Sie warteten auf Grigooras und den Jäger. Den ganzen Tag warteten sie. Der helle Fleck hinter dem Dunsthimmel berührte schon den Ringpalast, als die beiden endlich zurück kehr­ ten. »Wir konnten den Anfang der Brücke im Dunst liegen sehen«, erzählte Grigooras. »Dut­ zende von fremden Kriegern bewachen sie. Das Meer lag unter einer Nebeldecke, doch wir hörten es rauschen.

An der Küste stehen Steinhütten, im Abstand von sechs Speerwürfen. Jede ist mit mehreren Kriegern besetzt. Niemals können wir an die­ ser Stelle den Kalten Sund überqueren …« Sie warteten bis zum Einbruch der Dunkel­ heit, dann traten sie den Rückweg an. Zwei Sonnenuntergänge später saßen sie in der Fellhütte des Häuptlings. Auch der Götter­ sprecher hörte sich ihren Bericht an. Roschaan beschloss nach Norden zu ziehen und Malmee zu umgehen. Er hoffte dort ir­ gendwo die Stelle zu finden, an der sie viele Winter zuvor den Kalten Sund überquert hat­ ten, um ins östliche Nordland zu ziehen. Vier Monde später fiel der erste Schnee. Roschaans Späher kundschafteten einen See aus, der sich für das Winterlager eignete. Aruulas zweiter Winter in Gefangenschaft brach an. Schnee, Schnee, Schnee – endlos fiel er aus dem grauen Himmel. Nur noch die Spitzen der Fellhütten ragten über die weiße Decke hinaus. Vier Säuglinge und drei kleinere Kinder starben. Die Horde lebte von ihren Shmaldan-Vorräten; an Jagd war nicht zu denken.

Die Jäger schaufelten mit Äxten und Schwer­ tern eine Grube in die Schneedecke über dem zugefrorenen See. Aruula zeigte ihnen, wie die Fischer ihres Volkes Löcher ins Eis schlugen und Fische fingen. Der Fisch verhinderte den Hungertod der Horde. Der Schnee begann erst nach acht Monden wieder zu schmelzen. Erst lange nachdem die Bäume ausschlugen, konnten sie aufbrechen. Und langsam nur kamen sie voran. Sumpfiger Waldboden, über die Ufer getretene Flüsse und weitflächig überschwemmte Landschaften hielten den Tross immer wieder auf. Fast täg­ lich flogen die zwölf Frekkeuscher über große Wasserflächen und Flüsse hin und her, um alle vierundsiebzig Mitglieder der Horde von Ufer zu Ufer zu transportieren. Dazu kamen die ausgezehrten Kräfte nach dem langen Winter. Selbst bei Männern von Roschaans mächtiger Statur konnte man die Rippen unter der Haut zählen. Vier Monde später kam der nächste Winter­ einbruch. In diesem harten Winter griffen die Späher einen einsamen Wanderer auf. Einen in Taratzenfell gewickelten Jungen. Er war nicht viel älter als Aruula, vielleicht acht oder neun Winter. Er war bis auf die Knochen abgemagert und hieß Knudor.

Roschaan befahl, dass man ihn mit Fisch und Shmaldan fütterte. Er horchte ihn aus. Knudor – er hatte langes blondes Haar stammte aus ei­ ner kleinen Fischersiedlung an der EeresundKüste. Lankroona hieß die Siedlung. Die Rotten des Westkönigs hatten sie überfallen und alle drei­ undsechzig Einwohner getötet. Knudor war als Einzigem die Flucht gelungen. Roschaan drang in den Jungen, ihm alles zu erzählen, was er über den Westkönig und seine Krieger wusste. »Sie nennen ihren König ›Meister des Erd­ kreises‹«, begann der Junge. »Ihre obersten Krieger nennen sie ›Kriegsmeister‹ und den Krieg ›Blutzeit‹.« Seine Stimme klang wie die eines Sterbenden, und er schien durch den Häuptling hindurch zu blicken, während er sprach. Aruula, die mit anderen Kindern vor der ein­ geschneiten Fellhütte Roschaans stand und lauschte, fragte sich, was das für Bilder sein mochten, die er fortwährend anstarrte. Nackte Leichen an einem Strand lagen plötzlich vor ih­ rem inneren Auge. Ihr Herz krampfte sich zu­ sammen – der Junge tat ihr Leid. »Für diese Rotten ist allezeit Blutzeit. Viele Siedlungen an der Küste haben sie verbrannt

und die Menschen getötet. Die Taratzen aus Kobenhachen haben sie vertrieben, ihrem Kö­ nig das Fell abgezogen und ihn in kochendes Wasser geworfen. Sie glauben an eine Göttin, die sie Lokiraa nennen, die Göttin des Todes. Sie sagen, sie sei die Frau Lokiis und die Schwester Wudans, und sie sagen, Lokiraa habe sie auserwählt, sich die Erde Untertan zu machen …« Lähmende Angst legte sich auf die Horde. Man sprach nur noch über die »Meister der Erde« und malte sich ihre Grausamkeit und Macht in den düstersten Grautönen aus. Aruu­ la fand kaum Schlaf in den ersten beiden Näch­ ten nach Knudors Ankunft. Auch Radaan hatte Angst. Sie hielten sich fest in der Dunkelheit der Fellhütte und erzählten sich von Wudans Allmacht, um sich gegenseitig Mut zu machen. Knudor lag neben dem Eingang. Er redete im Schlaf. Manchmal sogar, wenn Sorban auf Zurpa lag und ihr Gestöhne die Fellhütte erfüllte. Roschaan hatte den Jungen der Pflege seiner Schwiegertochter anvertraut. Gegen Baloors und Grigooras Widerstand. Beide sprachen sich dafür aus, Knudor in die Kälte zurückzu­ schicken, damit er verhungerte oder erfror. Der Häuptling aber bestand darauf, ihn mit

durchzufüttern. Wahrscheinlich weniger aus Mitgefühl sondern weil er schnell begriff, dass Knudor ihnen von Nutzen sein könnte. Er kannte sich in dieser fremden Gegend aus. Die Stimmung im Winterlager war bedrückt in jenen Tagen. Der Göttersprecher entzündete ein großes Feuer vor seiner Fellhütte. Aruula begriff nicht, wie er das trockene Holz unter all dem Schnee gefunden hatte. Und sie begriff nicht, warum es brannte. Es musste doch nass sein. Nächtelang beschwor Baloor die Götter. Bis ihm Wudan die Zukunft zeigte. Am Tag danach ließ er die ganze Horde vor seinem Unterschlupf im Schnee antreten. »Wir werden leben«, verkündete er den frierenden und hungernden Menschen. »Wudan ist der Meister der Erde – er wird uns nicht in die Hände der Grausamen fallen lassen.« An­ schließend sprach er ein Dankgebet und ging durch die Reihen der fellvermummten Gestal­ ten. Vor Jedem blieb er stehen und murmelte eine Beschwörungsformel. Jeder musste den Kopf in den Nacken legen und sich einige Trop­ fen eines Kräuterextraktes in den Mund träu­ feln lassen. Die Mütter öffneten die Münder ih­ rer schreienden Säuglinge, damit auch sie die Medizin des Göttersprechers schluckten. Die

Flüssigkeit schmeckte bitter. Aruula kämpfte mit einem Brechreiz. In den Tagen darauf wich die drückende Stimmung von der Horde. Die Menschen hör­ ten auf, im Flüsterton miteinander zu spre­ chen. Es wurde sogar gelacht. Zuversicht brei­ tete sich aus. Der Schnee schmolz; Roschaan sandte Späher aus. Sie sollten die Meerenge finden, an der die Horde viele Winter zuvor den Kalten Sund überquert hatte. Eine Meerenge schmal genug, um von den Frekkeuscher überflogen werden zu können. Knudor führte die Horde derweil der Küste entgegen. Nach etwas weniger als einem Mond kehrten die Späher zurück. Mit beängstigenden Nachrichten. Sie hatten die zweite Meerenge des Eeresunds – Knudor nannte sie Heelsinboor – zwar gefunden, aber sie wurde von Schiffen der Erdmeister be­ wacht. Die Späher erzählten von großen kas­ tenartigen Kähnen, die sich ohne Ruder fort­ bewegen konnten und aus deren Decks Metallrohre ragten, die schwarze Rauchwol­ ken ausspien. Wieder legte sich der Schrecken auf die Hor­ de wie ein giftiger Nebel. Roschaan, Sorban,

Baloor und Grigooras berieten sich eine Nacht lang. Am nächsten Morgen ließ der Häuptling die Horde vor der schwarzen Fellhütte des Göt­ tersprechers zusammen kommen. Der Leder­ ne stellte sich vor die verzweifelten Jäger und Jägerinnen. »Ihr müsst keine Angst haben!«, rief er laut. »Wudan selbst wird der Horde den Weg über den Kalten Sund bahnen! Und jeder von euch, wenn er Augen hat zu sehen, wird seinen Elnak an seiner Seite erkennen!« Roschaan ließ das Lager abbrechen und die Frekkeuscher beladen. Eine völlig unerklärli­ che Heiterkeit legte sich auf sämtliche Mitglie­ der der Horde. Sogar auf die kleinsten Kinder. Nur auf Aruula und Grigooras nicht. Der Jung­ krieger versuchte bis zum Schluss, Roschaan und Baloor von ihrem Plan abzubringen. Sie wiesen ihn ab. Aruula fühlte sich wie in den scheußlichen Ta­ gen drei Winter zuvor, als sie fiebernd und zwischen Tod und Leben schwebend in einem Frekkeuscher-Sattel an der Südküste entlang geschaukelt wurde. »Ich bin bald bei dir«, dachte sie, während sie Zurpa half, Stangen und Felle zusammenzuschnüren. »Ich bin bald bei dir, liebe, liebe Mutter …«

Die Späher meldeten Schiffe der ErdmeisterRotten auf der gesamten Meerenge zwischen dem westlichen und dem östlichen Nordland. Unmöglich konnten sie die leicht passierbaren Pfade der Küste entlang benutzen. Sie mussten den beschwerlichen Weg durch die unwegsa­ men Wälder auf sich nehmen. Und wieder fie­ len die Blätter von den Bäumen, und wieder Frost und wieder Schnee. Aruulas vierter Win­ ter seit ihrer Verschleppung von den Dreizehn Inseln, seit ihrer Mutter und Waleenas Tod. Der Winter war weniger hart als die vier vor­ angegangenen. Nur ein Greis und zwei Säug­ linge erfroren oder verhungerten. Und ein Frekkeuscher erwachte nicht wieder aus der Winterstarre. Die Bäume schlugen aus, der Waldboden wurde weich, und die drei Toten konnten be­ stattet werden. Roschaan ließ Fleischvorräte jagen und Fische fangen, er ließ die Felle und Sättel ausbessern, er ließ Shmaldan herstellen und schließlich das Lager abbrechen. Nicht einmal einen halben Mond später sah Aruula von fern den Rundturm des unheimlichen Pa­ lastes …. Bis auf dreißig Speerwürfe pirschten sie sich im Schutz des Waldes und der Nacht an Mal­

mee und den Palast heran. Ruinen mischten sich unter die Bäume. Früher, zur Zeit der Alten, musste die Stadt sehr groß gewesen sein. Aruula sah nur Umris­ se dunkler Mauerreste, Skelette von Häusern, die über die Baumwipfel hinausragten und vollständig von Büschen ausgefüllt und von Kletterpflanzen überwuchert waren. Der matte kreisrunde Lichtfleck des Voll­ monds stand am Himmel. Aruula war sicher, dass Baloor bewusst eine solche Nacht für den Vorstoß zur Brücke gewählt hatte. Leises Ra­ scheln aus der Dunkelheit des Waldes und Schatten zwischen den schwarzen Säulen der Baumstämme begleiteten den nächtlichen Marsch von über sechzig Menschen und elf Frekkeuschern. Wie betäubt, als hätte sie vom Rauschsaft ge­ nascht, den Waleena so liebte, trottete Aruula neben Zurpa, Sorban und Radaan her. Sie spürte kaum den weichen Waldboden unter ih­ ren Stiefeln. Manchmal strömten ihr Tränen über das Gesicht. Und manchmal war sie von einer grundlosen Freude erfüllt. Sie glaubte, es sei die Freude darüber, ihre Mutter, die Köni­ gin und all die anderen Toten bald wiederzuse­ hen.

Der Mond ging unter und der finstere Him­ mel sog sich mit dem Grau des neuen Tages voll, als Roschaan sie aus dem Wald heraus führte. Sie hörten das Rauschen der Brandung und sahen die Lichter des Palastes des Man­ nes, der sich »Meister des Erdkreises« nennen ließ. Dunstschwaden wallten über Gras und Busch. Der Wald stand wie eine schwarze Mauer und eine kühle Brise wehte vom Sund her. Nie­ mand sprach. Nur hin und wieder wimmerte ein Säugling oder ein Kleinkind grunzte im Schlaf auf dem Rücken seiner Mutter. Und manchmal erklang das metallene Zirpen eines Frekkeuschers. Roschaan schickte Späher aus. Sie kamen schon nach kurzer Zeit zurück. »Die Brücke ist keine zwanzig Speerwürfe mehr entfernt«, be­ richteten sie. »Dreißig Wachen stehen vor ihr auf Posten; zwei weitere Posten mit etwa halb so vielen Kriegern lagern nur wenige Speer­ würfe entfernt in den Steinhütten an der Küs­ te. Wie viele Krieger hinter der Stadtmauer von Malmee in Bereitschaft liegen, wissen wir nicht.« Alle Augen hingen erwartungsvoll an Roschaan und Baloor. Der Häuptling trat vor seine Horde. »Alle Kranken, Verletzten und Al­

ten zu mir.« Vierzehn Männer und Frauen tra­ ten zögernd aus der Menge der Jäger und Jäge­ rinnen. »Bewaffnet euch mit Pfeil und Bogen, gürtet eure Schwerter und Beile«, sagte Roschaan und seine dunkle Stimme vibrierte dabei. Eine kalte Hand griff nach Aruulas Herz und drückte es zusammen. »Ihr nähert euch Malmee. Sie werden euch sehen und angreifen. Wir lassen euch einen Frekkeuscher zurück. Wenn ihr könnt, folgt uns auf ihm. Ich danke euch für alles, was ihr für die Horde getan habt. Wu­ dan sei euch gnädig.« Fassungslos beobachtete Aruula die Ab­ schiedsszenen zwischen Eltern und Kindern, zwischen Brüdern und Schwestern, zwischen Großeltern und Enkeln. Man hörte Kinder wimmern. Auch Radaan weinte. Eine der Tod­ geweihten war seine Urgroßmutter. Auf den Dreizehn Inseln verlangte es das Ge­ setz der Priesterinnen, dass Schwache von den Starken geschützt und dass Alte von den Jun­ gen geehrt wurden. Bei den Wandernden Völ­ kern jedoch schien man zuerst die Schwachen und Alten zu opfern, wenn die Existenz der Horde bedroht war. Die vierzehn Menschen bewaffneten sich. Reglos standen sie im Morgendunst und blick­

ten den verwaschenen Lichtern des Königspa­ lastes von Malmee entgegen. Sie warteten auf Roschaans Befehl. Der aber wies zunächst an, dass sechsund­ zwanzig kräftige Jäger und Jägerinnen die zehn Frekkeuscher bestiegen. Die besten Bo­ genschützen der Horde befanden sich unter ih­ nen. Sie sollten als erstes zur Brücke hinüber fliegen und den Rotten der Erdmeister solange standhalten, bis die Nachfolgenden gelandet waren. Sorban führte die Truppe an. Auch Gri­ gooras gehörte zu seiner Mannschaft. Zehn von ihnen gab Roschaan den Auftrag, die Frekkeuscher zurück zur restlichen Horde zu fliegen. Dann sonderte er neunundzwanzig Schwan­ gere, Mütter mit Kleinkindern, Säuglinge, und Halbwüchsige aus, die als zweite Gruppe zur Brücke fliegen sollten. Zu dieser Gruppe ge­ hörte auch Aruula. Und Knudor. Er stand zwi­ schen ihr und Radaan. Sie hielten sich an den Händen fest. Die restlichen Jäger und Jägerinnen sollten als Letzte fliegen – Bogenschützen und Speer­ kämpfer vor allem. Sie sollten den Abflug der zweiten Gruppe decken. Roschaan führte sie an.

Als besprochen war, was besprochen werden musste, drehte Roschaan sich zu Baloor um. »Jetzt liegt alles in deiner Hand, Götterspre­ cher. Wir haben dir vertraut – jetzt lass uns deine Künste sehen.« »Es liegt in Wudans Hand«, stellte Baloor klar. »Und ihr werdet die Künste dessen sehen, den alle Welt fürchtet.« Er ließ sich im feuch­ ten Gras nieder und stimmte einen leisen Singsang an. Dabei griff er in einen Lederbeu­ tel, holte eine Prise vertrockneter Pflanzenkrü­ mel heraus und schob sie sich zwischen die schmalen Lippen. Später erfuhr Aruula von Zurpa, dass es Rotpilze waren, die der Götter­ sprecher kaute und schluckte. Sie enthielten ein Gift, das die Schmerzen Schwerverwunde­ ter betäuben konnte. Baloors Summen steigerte sich zu einem kla­ genden Flehen. Sein Oberkörper begann hin und her zu schaukeln. Einige junge Männer der Horde trugen Holz herbei und schichteten es zehn Schritte vor dem Göttersprecher zu ei­ nem Haufen auf. Der Körper des in Leder Ge­ kleideten zuckte, er würgte und seine Augen rollten. Als er den Kopf hob, schienen sie rot zu glühen und sich auf Aruula zu richten. Sie erschrak und vergaß zu atmen. Voller Entset­ zen starrte sie auf den Unheimlichen. Er wieg­

te sich und röchelte und sein Blick versprühte Eis und Feuer. Der Himmel über dem Wald färbte sich röt­ lich; der neue Tag brach an. Dunstschwaden stiegen aus dem Gras und lagen wie eine Fell­ decke über dem Meer. Dunst waberte um den Göttersprecher, und Aruula kam es vor, als würden sich die feuchten Schwaden um ihn verdichten. Unwillkürlich wich sie Schritt für Schritt zurück. Und merkte gleichsam, dass die ganze Horde sich von dem Ledernen entfernte. Und dann hob Baloor den Arm und deutete in die Gruppe von Halbwüchsigen, Kindern und Schwangeren hinein, in deren Mitte Aruula stand. Sie glaubte, sein knochiger Zeigefinger würde sich auf sie richten. Stocksteif wurde ihr Körper. Ihr Herz raste wild in ihrer kleinen Brust. Zwei Jäger lösten sich aus der Gruppe um Roschaan und drängten sich durch Frauen und Kleinkinder zu Aruula, Radaan und Knudor vor. Aruula stand wie erfroren. Die Männer tauchten vor ihr auf, ihre Gesichter wie aus schmutzigem Schnee geformt. Baloors Sings­ ang schwebte wie ein Geist aus dem Jenseits über den Köpfen der Horde. Trotz ihrer Panik nahm Aruula die hochgezogenen Schultern

und die versteinerten Gesichter der anderen wahr. Doch dann griffen die Jäger nach Knudors Armen! Sie zerrten ihn aus der Gruppe der Frauen und Kinder heraus, fesselten ihn an Handgelenken und Knöcheln und drückten ihn auf den Holzstoß zehn Schritte vom berausch­ ten Göttersprecher entfernt. Der Junge wehrte sich nicht. Aruula sah, dass er zitterte, und sie sah, dass seine Augen hilfe­ suchend über die Gesichter der Hordenmit­ glieder irrten. Aber es gab keine Hilfe. Mit ei­ ner Geste des Göttersprechers war sein Dasein nur noch ein Sekunden währender Hauch ge­ worden. Immer heftiger schwankte Baloor Oberkörper hin und her. Die Kopflappen seiner Lederkap­ pe rutschten über seine Schultern. Er schlug mit den Handflächen ins Gras und ruderte mit den Armen. »Weg«, krächzte er, »weg!« Die Frekkeuscher mit den Jägern und Jäge­ rinnen der Vorhut setzen sich in Bewegung, hoben ab und schwirrten in Dunst und Mor­ gengrauen hinein. Die vierzehn Alten und Kranken nahmen Schwerter und Bogen auf und schleppten sich durch das hohe Gras Mal­

mee entgegen. Knudor begann zu wimmern und zu weinen. Zurpa und die anderen Frauen zogen und schoben die Kinder und Halbwüchsigen weg von dem Göttersprecher. Der breitete die Arme aus, schloss die Augen und fing an zu schreien: »Dein Sklave Baloor ruft dich! Höre mich, Herr der finsteren Tiefen! Höre mich, schrecklicher Orguudoo …!« Aruula riss Augen und Mund auf. Niemand schien Anstoß zu nehmen an dem, was der Göt­ tersprecher rief. Niemand schien Knudors Fle­ hen hören zu wollen. Aber ihr gefror das Blut in den Adern; sie konnte sich kaum noch bewe­ gen. Zurpa schob sie weg, zur Küste hin. Alle wichen sie vor dem Göttersprecher und dem jammernden Knudor zurück. Aruulas Hände klammerten sich in Zurpas Fell fest. Ihre Beine stemmten sich in den weichen Boden und sie blickte an Zurpa vorbei zurück zu Baloor und Knudor. Der Körper des Göttersprechers zuckte und schwankte wie die Klinge eines Langschwertes in den Händen eines erschöpften Kriegers hin und her, und Knudor wand sich auf dem Holz­ stoß und schrie, und plötzlich schlugen Flam­ men aus seinem Kopf, aus seiner Brust, aus seinem Bauch. Rauch stieg über ihm in die

Luft, der Holzstoß fing Feuer von unsichtbarer Hand! Knudors Körper bäumte sich auf, er schrie in höchsten Tönen – bis er rücklings über das brennende Holz stürzte und ver­ stummte … Der Dunst war allgegenwärtig. Er verschluckte die vierzehn alten und schwachen Mitglieder der Sippe. Aus ihm tauchten nacheinander die Frekkeuscher wieder auf. In ihm verschwim­ mend sah Aruula die Flammen über dem sich krümmenden Körper des Jungen. Er verzerrte, in unwirkliches Licht getaucht, die Silhouette des Göttersprechers, dessen Beschwörungsru­ fe leiser wurden, je weiter die Frekkeuscher auf das Meer hinaus flogen. Und aus dem Dunst schälten sich schließlich auch die riesi­ gen schwarzen Pfeiler der uralten Brücke. Ein Albtraum – was konnte es anderes sein? Der Flug über das scheinbar kochende Meer drang kaum in Aruulas Bewusstsein. Die neun Frekkeuscher rechts, links und vor dem Reit­ tier, dessen Sattel sie sich mit Radaan und Zur­ pa teilte, waren nur undeutliche Schemen im Nebel. Und plötzlich erklangen Schreie von links, von der Küste her, wo die Alten und Schwa­ chen einen Scheinangriff auf die Brücken­

wächter der Erdmeister führten. Donnerschlä­ ge grollten. Aruula zuckte zusammen – noch nie hatte sie derartigen Donner gehört. Wieder und wieder dröhnte er vom Land her zu ihnen herüber. Endlich erreichten sie die Brücke. Von Moos überwucherte Taue führten von ihren schwar­ zen Pfeilern an die Ränder des Brückenbodens hinunter. Ein Frekkeuscher nach dem anderen setzte zur Landung an. Zurpas Tier kam weniger als zwei Speerwürfe vor dem Beginn der Brücke auf. Dort konnte Aruula die Jäger und Jägerinnen ihre Bogen spannen und die Pfeile abschießen sehen. Fremde Krieger stürmten ihnen vom Land her entgegen. Und immer wieder das Donnern. »Weg hier!«, schrie Zurpa. »Hinaus auf die Brücke!« Sie selbst blieb im Sattel des Frek­ keuschers sitzen und lenkte das Tier herum, dessen Flügel rauschten und schwirrten. Es hob ab und flog zurück an den Waldrand, um zusammen mit den anderen Frekkeuscher-Rei­ tern den Rest der Horde abzuholen. Radaan packte Aruulas Hand und zerrte sie mit sich. Doch sie konnte ihren Blick nicht los­ reißen vom Kampfgeschehen am Brückensohle und an Land. Unzählige in dunkles Leder ge­

kleidete Gestalten stürmten dort aus Steinhäu­ sern und dem äußeren Ringwall des Palastes auf die Bogenschützen und das verlorene Häuflein der Alten und Schwachen los. Dazwi­ schen klangen immer wieder die unheimlichen Donnerschläge auf. Und auf einmal wurde es einen Herzschlag lang still. Der Ansturm der feindlichen Rotten stockte. Eine Fontäne aus Steinen und Erde schoss aus dem Boden vor der Brücke hoch in die Luft. Und noch eine und noch eine. Nun blieb auch Radaan stehen und starrte hinüber an Land. Erd- und Steinbrocken prasselten wenige Schritte vor ihnen auf die Holzbohlen der Brücke. Ein Aufschrei ging durch die Reihen der An­ greifer – immer weitere Erdfontänen spritzten in den dunstigen Morgenhimmel. Und dann sah Aruula die Bestien: schwarzpelzige Wülste, so dick wie der Oberkörper eines starkes Jä­ gers und länger als drei Speere. Rasend schnell bohrten sie sich aus der Erde, schlängelten sich blitzartig durch Gras und Ge­ stein und fielen über die Angreifer her. Neun, zehn oder elf waren es, und mit jedem Augenblick schoss eine neue Dreckfontäne in

die Höhe und ein weiteres Ungeheuer wühlte sich aus dem Boden. »Gejagudoo …«, krächzte Radaan neben Aru­ ula. Sie spürte den kalten Schweiß seiner Handfläche an ihrer. »Orguudoos Brut …!« Sie sahen, wie die Erdwürmer die fremden Krieger in den aufgewühlten Boden hinein zo­ gen, wie sie Männer halb verschlangen und die abgerissenen Oberkörper oder Unterleiber durch die Luft schleuderten, sodass Gedärm und Fleischfetzen in die Rücken der fliehenden Rotten klatschten. Und sie sahen, wie ein Teil der Alten und Schwachen den Brückenanfang erreichte. »Weg hier!«, brüllte Radaan. »Lauft!« Endlich löste sich die Starre, in die das Ent­ setzen Aruula gestürzt hatte. Hinter Zurpas Sohn her rannte sie meerwärts die Brücke ent­ lang. Sie glitten aus auf dem glitschigen Holz, sprangen hoch, glitten wieder aus. Die Brücke war lang, sehr lang. Einen ganzen Wald von Bäumen mussten die Rotten des Westkönigs abgeholzt haben, um sie wieder begehbar zu machen. Zweimal noch landeten die Frekkeuscher. Zu­ letzt hoben nur drei noch einmal ab, um Ba­ loor, Roschaan und die restlichen Jäger von der Küste zu holen.

Die Brücke brach nach etwa fünfzig Speer­ würfen ab. Wer kräftig genug war, lief den Weg. Die anderen wurden nach und nach von den Frekkeuschern dorthin geflogen. Am Ende der Brücke führte eine breite Holzrampe auf eine Insel hinab. Zwei kastenartige Schiffe er­ kannte Aruula im Nebel. Sie lagen auf der an­ deren Seite der Insel vor Anker. Die Sippe lief bis zur Mitte der nur von wenig Gras und Gebüsch bewachsenen Insel. Von dort aus bestiegen immer drei oder vier Hor­ denmitglieder die Frekkeuscher. Zuerst wieder kampferfahrene Jäger und Jägerinnen. Die Reitinsekten trugen sie an die Küste des westli­ chen Nordlandes. In den Ruinen von Kobenhachen sammelten sie sich. Roschaan zählte die Frauen, Kinder und Männer durch. Die Vorhut, die den Auf­ trag hatte, sich selbst zu opfern, hatte vier Männer und fünf Frauen verloren. Von großen donnernden Feuerrohren, mit denen die Sol­ daten des Westkönig auf sie und auf die Geja­ gudoos geschossen hätten, erzählten die Über­ lebenden. Aruula hatte nie von solchen Feuerrohren gehört. Aus Sorbans Truppe wa­ ren zwei Jägerinnen und drei Jäger gefallen. Vier weitere hatten zum Teil schwere Verlet­ zungen davon getragen.

Sie warteten bis zum Anbruch der Nacht. Im Schutz der Dunkelheit schlichen sie aus den Ruinen. Unbehelligt erreichten sie im Morgen­ grauen einen See. Dort ließ Roschaan ein La­ ger errichten. Die Verletzten wurden gepflegt, die erschöpf­ te Sippe sammelte neue Kräfte. Aruula hockte am Seeufer und blickte ins kristallklare Wasser. Mit der Überquerung des Kalten Sundes hatte sie jede Hoffnung, je wieder nach Hause zu ge­ langen, fahren lassen. Die Dreizehn Inseln schienen unerreichbarer als der verwaschene Lichtfleck im grauen Himmel … (Nichts wird je wieder so sein wie es war …) Er spürte, wie ihre Energie sich um diesen einen Gedanken sammelte. (Aber es wird etwas sein etwas ganz Neues …) Ein anschwellender Strom hoffnungsvoller Bilder und Empfindungen gingen von ihrer Lebens-Aura aus. Est’sil’bowaan ließ sich von diesem Strom berühren – warm pulsierte er, wie die Fontänen einer heißen Quelle am Grund des Ozeans. Und wie diese vor undenk­ baren Zeiten seinen Körper umspült hatten, so perlten jetzt die Wellen der Lebenskraft aus

der Lan an seiner Aura entlang. Endlich! Da war es wieder: das Verlangen nach dem Ziel. Est’sil’bowaans Geist entspannte sich. (Lebe wohl, Liob’lan’taraasis, ich ziehe mich in meine symbiotische Einheit zurück.) (Nicht doch, Est’sil’bowaan!) Ihre LebensAura zog sich zusammen als wäre sie erschro­ cken. (Bleib noch!) (Ich bin ein Sil – trösten und mahnen ist mei­ ne Aufgabe. Es ist wieder warm in deiner Nähe. Andere brauchen mich. Und ich bin der symbiotischen Einheit der Ests verpflichtet …) (Du kannst mich nicht berühren und dich dann einfach zurückziehen!) Heiße Strahlen schossen aus ihrer Aura – Trotz und Empö­ rung. (Sag mir, wie es sein kann, dass Muran und Daa’mur erkalteten …) (Jeder Planet, jedes Gestirn hat seine Zeit – seinen Beginn und sein Ende. Aber diese Frage quält dich nicht mehr wirklich – du willst mich festhalten …) (O Est’sil’bowaan – ich würde mich so gern mit dir paaren …!) Etwas wie Gelächter brandete Est’sil’bowaan von allen Seiten entgegen.

5. Aus PSYCHOLOGIE HEUTE, November 2011: Man kann die psychische Situation der Menschheit angesichts des drohenden Kome­ teneinschlags durchaus mit den Phasen ver­ gleichen, die ein Sterbender vor dem Tod durchläuft. Nach der Diagnose einer nicht mehr therapierbaren Krankheit versucht der Kranke in der ersten Phase meistens die Ge­ wissheit um den Tod zu verdrängen und so weiter zu leben, als wäre nichts geschehen. In der zweiten Phase dann lehnt er sich gegen das Unausweichliche auf. Er rebelliert gegen sein Schicksal. Diese Phase ist häufig von großer Wut auf die Gesunden und von Aggres­ sionen gegen das medizinische Personal be­ gleitet. In der dritten Phase verfällt der Sterbende häufig in Trauer. Es ist eine Phase lähmender Hoffnungslosigkeit und Lethargie. In der vierten und letzten Phase schließlich hat der Sterbende sein Schicksal akzeptiert. Er ordnet sein Leben, verabschiedet sich von sei­ nen Angehörigen und bereitet sich auf den Tod vor.

Natürlich vermischen sich diese Phasen häu­ fig, und genau das erleben wir zurzeit im Hin­ blick auf den nicht auszuschließenden Kome­ teneinschlag. Die Medien haben mit aggressiver Berichterstattung dafür gesorgt, dass die Verdrängungsphase bei den meisten Menschen bereits vorüber ist. Die vierte Phase der Akzeptanz haben die wenigsten Menschen erreicht. Für die Phase der Trauer und Lethar­ gie gibt es Anzeichen in Hülle und Fülle: Man denke nur an den epidemischen Drogen- und Alkoholmissbrauch oder an die sprunghaft an­ gestiegene Selbstmordrate. Der Großteil der Weltbevölkerung allerdings beginnt gerade erst die zweite Phase zu durch­ laufen, die Phase der wütenden Auflehnung und der Aggression … Paris, 15. November 2011 Von Tag zu Tag wurde es ungemütlicher in Paris. Kaum eine halbe Stunde, in der Herbert nicht zusammenzuckte, weil Gendarmeriefahr­ zeuge mit heulenden Sirenen vorbei rasten. Oder ein Rettungswagen. Ob man in einem Straßencafe in Montmartre saß, aus einem Museum in St. Germain trat oder am Seineufer entlang schlenderte – ständig wurde man durch die Sirenen der Einsatzfahrzeuge an das

täglich wachsende Chaos in der französischen Metropole erinnert. Die Polizei schien pausenlos unterwegs zu sein. Man musste nicht die Zeitung lesen, um den Grund dafür zu wissen. In der zurücklie­ genden Woche war Herbert viermal Augenzeu­ ge von Massenschlägereien und Überfällen ge­ worden: Irgendwelche Jugendbanden aus heruntergekommenen Vorstadtvierteln liefer­ ten sich regelrechte Straßenschlachten mit nordafrikanischen Jugendlichen. Überfälle auf Lebensmittelgeschäfte oder Kioske gehörten zum normalen Straßenbild. An irgendeiner Metrostation, in irgendeinem Cafe gerieten Leute sich aus den nichtigsten Anlässen in die Haare und ließen die Fäuste oder gar die Waf­ fen sprechen. Paris schien zu fiebern. Hinter einer Fassade von Gleichgültigkeit und Lethar­ gie brodelte ein Vulkan. Doch das war es nicht, was Herbert störte. Er hatte zehn Jahre Gefängnis hinter sich und war Schlimmeres gewohnt. Was ihn störte, war die ununterbrochene Polizeipräsenz – ständig die blauen Gendarmeriefahrzeuge, überall die Uniformierten und aus allen Rich­ tungen und pausenlos das Gellen der Sirenen. Das machte Herbert nervös. Er hatte genug von der Stadt, er wollte weg.

Der Flug nach New York City war gebucht. Für zwei Personen. Nur Julias Ja-Wort stand noch aus. Von seinem Hotelzimmer in Montmartre aus rief er sie an. Wohl zum fünften oder sechsten Mal seit er sich in Paris vergnügte. Herbert war nicht der Typ, der so schnell locker ließ. Bei jedem Anruf hatte er Julia so lange bear­ beitet, bis sie schließlich versprach, es sich noch einmal zu überlegen. »Übermorgen fliegen wir in meine Traum­ stadt.« Herbert meldete sich nicht einmal mit Namen, er kam sofort zur Sache. »Ich hab für dich mitgebucht. Wann kommst du? Ich hol dich vom Bahnhof ab.« Er saß in einem schwe­ ren Sessel neben dem Fenster seines Hotelzim­ mers. Seine Finger spielten mit ihrer Uhr. »Du bist es …? Ich … ich kann nicht reden …« Die Unsicherheit ihrer Stimme tat ihm weh. So war Julia früher nie gewesen. »Du brauchst auch nicht reden. Du brauchst nur sagen: Ja.« Er legte ihre Uhr auf den klei­ nen Beistelltisch neben dem Sessel und zog stattdessen einen zusammengefalteten Compu­ terausdruck aus der Innentasche seiner neuen Weste. »Ich hab hier die Zugverbindungen. Also, pass auf – von Dortmund Hauptbahnhof geht ein Euro-City …«

»Arschloch!«, bellte plötzlich eine Männer­ stimme in hartem südländischen Akzent. »Dein letzter Anruf! Ich weiß, wo du steckst! Meine Freunde werden dir ein Loch in dein Scheißhirn schießen! Und jetzt hör gut zu …!« Herbert wollte auflegen – doch fast über­ gangslos meldete sich Julias Stimme wieder. »Ruf mich nicht mehr an, Herbert.« Ihm war, als würde er den Türken neben ihr stehen se­ hen. »Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben …« Sie atmete schnell, während sie sprach, und ihre Stimme klang gehetzt. »Hast du das verstanden? Ich will dich nie wieder sehen …« Die Verbindung wurde unterbrochen. Herberts Hand mit dem Hörer fiel auf die Armlehne des Sessels. Er legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Ein Faustschlag hätte ihn nicht gründlicher betäuben können. Minutenlang saß er so. Bis ihm die Enttäuschung das Was­ ser in die Augen trieb. Dann erst legte er das Telefon zurück auf die Konsole und stemmte sich aus dem Sessel. Er lehnte sich gegen die Wand neben dem Fenster, zog seinen Tabaksbeutel aus der neu­ en Lederweste und drehte sich einen Joint.

Unten auf der Straße rasten zwei blaue Peu­ geots mit blinkenden Blaulichtern und Sire­ nengeheul vorbei. »Scheiße«, murmelte Herbert. Er zündete den Joint an. »Was für eine verdammte Scheiße …« Tief sog er den Haschischrauch in seine Lun­ gen. Er nahm Julias Uhr vom Tisch und be­ trachtete sie. Jim Trash grinste ihm vom Zifferblatt entge­ gen. »Aber tu einer was gegen ein Weiberherz, das mit Liebe infiziert ist …« Er wischte sich das Wasser aus den Augen. Eine halbe Stunde später – der Tag neigte sich und das Sirenengeheul der Einsatzfahrzeuge nahm eher zu als ab – sah er einen Bettler ne­ ben dem Eingang eines Kinos an der Rue de Maubeuge sitzen. Ein Hüne von Mann in einem speckigen Lammfellmantel und mit wallendem dunkelgrauen Haar. Sein eher grobschlächti­ ges Gesicht war von einem drahtigen grauen Vollbart zugewuchert. Der Mann spielte Mund­ harmonika – mit geschlossenen Augen und wehmütig hochgezogenen Brauen. Herbert blieb vor ihm stehen und lauschte der Melodie. Ein Walzer. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er den Kaiserwalzer erkannte. Die Melodie saugte Erinnerungen aus dem Kel­

ler seines Gedächtnisses. Er befand sich auf einmal auf der Feier seines zweiunddreißigs­ ten Geburtstages. Drei Jahre bevor er einfuhr war das gewesen. Irgendwann gegen Morgen, nach stundenlangem Heavy Metal, legte ein Scherzbold Johann Strauß auf – den Kaiser­ walzer. Julia brachte ihm damals den Walzerschritt bei … Herbert griff in die Tasche seines Hirschle­ dermantels, zog zwei Fünf-Euro-Stücke heraus und ließ sie in die Konservenbüchse neben den ausgestreckten Beinen des Mannes fallen. Der unterbrach seine Melodie für keinen Moment, öffnete nicht einmal die Augen. Herbert schnallte sich Julias Uhr vom Hand­ gelenk. Noch einmal betrachtete er das kitschi­ ge Stück – das weiße Zifferblatt, die blauen Zeiger, den grinsenden Jim Trash in seinem Superhelden-Dress. So lange sah er sich die Uhr an, bis er selbst grinsen musste. »Davon geht die Welt nicht unter, was, Jim­ my?« Er lachte laut los. »Davon nicht, verdammte Scheiße …« Er ki­ cherte, bis ihm die Tränen aus den Augen kul­ lerten und in seinen Bartstoppeln versicker­ ten. »Davon nicht …«

Der Bettler öffnete kein einziges Mal die Au­ gen. Mit Wehmutsfalten auf der Stirn blies er den Kaiserwalzer, als wäre es ein Blues. Und Herbert kicherte wie ein Irrsinniger. Schließlich ließ er die Uhr und Jim Trashs Grinsen in die Blechbüchse fallen. »Vorbei.« Er schlug dem Bettler auf die Oberschenkel. »Irgendwann ist es einfach vorbei. Habe ich Recht, Kumpel?« Der Mann reagierte nicht. Herbert stand auf und drehte ein paar Run­ den im Walzerschritt über den Bürgersteig. Dann verbeugte er sich vor dem Abwesenden. »Merci beaucoups und mach weiter so. Ich mach auch weiter so. Ein bisschen Zeit haben wir ja noch.« Er wandte sich ab und ging weiter. Jetzt erst öffnete der Bettler die Augen und winkte ihm hinterher. Aber das sah Herbert nicht mehr … Harlem, 17. November 2011 Sie hatten ein Mädchen vergewaltigt. In ei­ nem Hinterhof der hundertdreißigsten Straße. Nicht das Erste wahrscheinlich. Männer der Bruderschaft brachten die drei Jungen in Wa­ shington Roots Wohnung. Einer war sechzehn, die anderen beiden siebzehn. Der Rädelsfüh­ rer trug Stacheldraht statt eines Gürtels in den Laschen des Hosenbundes. Die Nasenscheide­

wand hatte er sich mit dem Oberschenkelknö­ chelchen einer Ratte durchbohrt. Der Zweite – Roots hatte ihn schon gekannt, als er noch in Windeln auf dem Bürgersteig vor dem Haus herum gekrabbelt war – hatte sich Stirn und Wangen mit orangenen Flammenornamenten bemalt. Der Dritte trug einen dicken Kreolen­ ring in der Unterlippe. Sein Kahlkopf glänzte von weißer Farbe. Der New Yorker Durchschnittsbürger wech­ selte die Straße, wenn ihm solche Burschen auf dem Bürgersteig entgegen kamen. JungleRapper nannten sie sich. Jetzt aber hockten sie mit gesenkten Köpfen auf Washs Wohnzim­ mercouch. Manchmal sah einer von ihnen auf. Und seine großen Augen wanderten ängstlich über die Gesichter der Männer, die sich in Washs und Sarahs Wohnzimmer versammelt hatten. Der Vater des vergewaltigten Mädchens trat nach ihnen, beschimpfte und bespuckte sie. Ei­ nige andere Männer hielten ihn fest, damit er sich nicht auf die Jungens stürzte. Natürlich hatten sie geleugnet. Stundenlang. Bis Washington Roots sie sich einzeln vorge­ knöpft hatte. Vor seiner Autorität war schließ­ lich einer nach dem anderen in die Knie gegan­ gen.

»Ich bring euch um!«, schrie der Vater des Mädchens. »Ihr dreckigen Ratten! Ich bring euch um!« Washington Roots wusste, dass die Drei nicht die Einzigen waren. Fast täglich wurden in den letzten Wochen in Harlem junge Mädchen ver­ gewaltigt. Einigen hatten die Täter die Kehlen durchgeschnitten. Jungle-Rapp – es war tat­ sächlich, als würde sich die Wildnis in der Stadt ausbreiten … In ganz New York City war sie allgegenwärtig, diese Wildnis. Die Bronx, Harlem und die Lower East Side traf es am Schlimmsten. Wash stand vor den drei Übeltätern. Nach­ denklich blickte er auf ihre gesenkten Köpfe hinab. Der Komet reißt alle Dämme nieder, dachte er. Er setzt den Dschungel in den Köp­ fen frei … Er und seine Bruderschaft hatten in Harlem eine Bürgerarmee und einen Bürgerrat organi­ siert. Es gab kein schriftlich fixiertes Regie­ rungsprogramm, es hatte keine Wahl gegeben, aber es gab einen unumstrittenen Führer – Washington Roots. »In meinem Stadtviertel herrscht Ordnung«, sagte Wash. »Niemand vergewaltigt hier, nie­ mand beklaut seine Nachbarn, niemand schießt hier auf Brüder.« Die Jungens kneteten

ihre Finger, rutschten auf der Couch hin und her oder wippten mit den Schuhspitzen, so schnell, als hätten sie die Kontrolle über ihre Glieder verloren. »Ihr kennt die Gesetze der Bruderschaft, ihr habt sie gebrochen.« Die Drei schwiegen und starrten das Teppich­ muster an. »Ich werde euch nicht der City Poli­ ce ausliefern. Die Zeitungen würden euch zu blutgeilen Monstern stilisieren. Die ganze Stadt würde mit Fingern auf Harlem zeigen – ›Seht sie euch an, die schwarzen Brüder! Seht euch den Abschaum unserer Stadt an!‹ Das darf nicht geschehen.« Er sah sich unter den vierzehn anderen Männern im Raum um. Bis auf Watonga und Diego Calypso waren alle Afroamerikaner. Einige nickten zustimmend. »Jeder in Harlem muss wissen, dass die Bru­ derschaft die Gesetze Allahs achtet«, fuhr Wash fort. »Und dass sie niemanden in Har­ lem duldet, der sie bricht. Deswegen schlage ich dem Bruderschaftsrat die Höchststrafe vor.« Die Jungs rissen die Köpfe hoch. Ungläubig starrten sie erst Wash, dann die anderen Män­ ner an. Wash drehte sich wieder um und war­ tete auf eine Reaktion des Bruderschaftsrates. Ein Mann nach dem anderen nickte. Die Jun­

gen fingen an zu heulen. Zuletzt blickte Wash in das steinerne Gesicht des alten Watonga. Der gehörte zwar nicht zur Bruderschaft, je­ denfalls nicht offiziell – der alte Indianer war ein Dakota und etwas anderes wollte er nicht sein. Aber alle hier verehrten ihn und Wash achtete ihn als weisen Ratgeber. »Du hast dich entschieden, Washington Roots«, sagte Watonga mit seinem rauen Bass. »Du gehst weiter auf dem Weg, den du betre­ ten hast, oder du zauderst. Und wenn du zau­ derst, wird man bald die Nase über dich rümp­ fen.« Wash wandte sich langsam den drei Jungens zu. Ihre dunklen Augen hingen an ihm, weit aufgerissen und voller ungläubigem Entsetzen. »Im Namen des Wu-Tang Clans verurteile ich euch zum Tode.« In der Nacht fuhr der gesamte Clan-Rat zu­ sammen mit den Dreien zu einem Autofriedhof an der Pelham-Bay. Die Jungen hatten nasse Hosen vor Angst. Wash erschoss sie eigenhän­ dig. Wie ein Buschbrand breitete sich die Nachricht weit über die Grenzen Harlems hin­ aus aus. Riverside, Kalifornien, 20. November 2011

Über einen Monat Zeit. »Sie können ruhig bis nach Weihnachten bleiben«, hatte Major Bell­ mann gesagt. »Von mir aus auch über Silves­ ter. Nehmen Sie sich so viel Zeit wie Sie brau­ chen, um Ihre Angelegenheiten zu regeln, Commander.« Am Los Angeles International Airport verab­ schiedete Matthew Drax sich von David McKenzie und stieg in ein Taxi. Der Astrophy­ siker reiste nach New Mexico weiter, wo sein Chef ihn auf dem Apache Point brauchte. »Riverside«, sagte Matt zum Fahrer. Er hatte dem Kommandeur verschwiegen, dass es nichts mehr zu regeln gab. Nur seine Eltern, Burt und seine Crew wussten, dass er zum Scheidungstermin in die Staaten flog. Heute würde Matt sich mit Liz über Haus, Möbel, Geld und so weiter einigen, morgen dann der Termin beim Gericht und das wars dann. Je weiter sie sich Riverside im Südosten von Los Angeles näherten, desto trockener wurde Matts Mund. Und desto größer der kalte Klum­ pen in seinem Bauch. Das Wetter passte zu Matts Stimmung: Es nie­ selte. Graue Wolkenfetzen trieben über Los Angeles. Erstaunlich wenig Verkehr für kali­ fornische Verhältnisse. Auf den Bürgersteigen rechts und links der Straße, hinter den Kolon­

nen der parkenden Wagen, huschten Passan­ ten in Regenjacken und unter Regenschirmen vorbei. Sie bewegten sich merkwürdig lang­ sam, so kam es Matt vor, als müssten sie einen unsichtbaren Widerstand überwinden, um voran zu kommen. Schon in Berlin war ihm das aufgefallen. Seit ein paar Tagen, seit dem Achtzehnten genau, hatten sich die Menschen verändert. Ob auf den Straßen, in der Kantine der Luft­ waffenbasis, in den Kaufhäusern oder sonstwo – überall jene Mischung aus Erstaunen und Unglauben in vielen Gesichtern. Als hätte die Mehrheit der Menschen gerade eine tödliche Diagnose erfahren oder ein vernichtendes Prü­ fungsergebnis. Auch im Flugzeug war es Matt aufgefallen. Und überall bewegten sich die meisten Leute, als hätten sie kein Ziel. Oder aber sie stürmten in Massen durch die Stra­ ßen, auf der Flucht vor den Hundertschaften der Polizei oder um irgendeine Behörde zu stürmen oder einen Supermarkt. Nachrichten über neue Lieferungen von Konservennahrung verbreiteten sich in diesen Tagen so schnell wie in normalen Zeiten die Nachricht von ei­ nem Regierungsumsturz oder einer Katastro­ phe.

Am 18. November hatte der Leiter der Astro­ nomie Division der US Air Force in einem In­ terview mit BBC die Wahrscheinlichkeit, dass »Christopher-Floyd« mit der Erde zusammens­ tieß, mit einundachtzig Prozent angegeben. Sie erreichten South El Monte. Auf einem Hinweisschild las Matt den Namen seines Hei­ matortes: Riverside. Sein Herzschlag beschleu­ nigte sich. Ungewöhnlich viele Streifenwagen kamen ih­ nen entgegen oder schossen plötzlich mit Rot­ lichtern und Sirenen aus irgendeiner Seiten­ straße. Auch die zahlreichen Möbelwagen am Straßenrand fielen ihm auf. Überall wurden Schränke und Hausrat aus den Häusern ge­ schleppt und in die Trucks verladen. Dabei war es Sonntag. »Haben alle die Hosen voll«, sagte der Taxi­ fahrer. Im Rückspiegel hatte er Matts erstaun­ te Blicke bemerkt. »In den letzten zwei Wo­ chen sind mehr Leute aus Los Angeles weggezogen als sonst im einem ganzen Jahr. In San Francisco sieht es nicht anders aus. Wer eine Wohnung im Landesinneren findet, haut ab, wer ein Wohnmobil oder einen Wohnwa­ gen besitzt, packt das Nötigste ein und sucht das Weite.«

Matt beugte sich zwischen die Nackenstützen der Vordersitze. »Warum?« »Der San-Andreas-Graben«, knurrte der Taxi­ fahrer. »Ende Oktober hat so ein Klugscheißer von Geologe eine Computeranimation im Fern­ sehen vom Stapel gelassen, und seither weiß jeder, der es wissen will, was in Erdbebenge­ bieten abgeht, wenn dieser gottverdammte Ko­ met uns rammt. Ganz Kalifornien soll dann an­ geblich umgekrempelt werden.« Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Ich mit meinem Kühl­ schrank ein paar hundert Meter unter der Erd­ oberfläche in kochender Lava, und da wo jetzt noch mein Haus steht, stapeln sich Felsblöcke …« Matt spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf in den Bauch sackte. Er blickte auf die Häuserfassaden. Vor sei­ nem inneren Auge verwandelten sie sich in eine Trümmerlandschaft. Wieder passierten sie einen Möbelwagen. »Hohlköpfe«, knurrte der Chauffeur. »In Lava braten oder von einem Glutorkan durch die Luft gewirbelt werden – wo ist da der Unterschied, können Sie mir das verraten, Mister?« Matt konnte es ihm nicht verraten. Er lehnte sich zurück. Wie ein Film zogen Autos, Stra­

ßenzüge, Menschen an ihm vorbei. Vertraute Gebäude häuften sich, Parks, in denen er als Kind gespielt hatte, Sportplätze, auf denen er mit Burt und anderen um jeden Ball gekämpft hatte, seine Primary School, der Supermarkt, in dem Liz heute noch einkaufte, die Einmün­ dung der Straße, in der seine Eltern lebten, das California Museum of Photography, in dem Liz arbeitete. Riverside. Matthew Drax kam nach Hause. Er spielte kurz mit dem Gedanken, zuerst sei­ ne Eltern zu besuchen und danach zu Liz zu ge­ hen. Er entschied sich dann aber anders. Ich will es hinter mich bringen … Er nannte dem Fahrer die Adresse seines Hauses. Kurz darauf, an der Haustür, stand er Liz ge­ genüber. Sie begrüßten sich knapp, tauschten ein paar Phrasen aus – Wie gehts so, siehst gut aus, wie war der Flug, und so weiter. Matt bat um einen Kaffee der Jetlag steckte ihm in den Knochen. Mit verschränkten Armen lehnte er an der Küchentür, während Liz die Kaffee­ maschine befüllte. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen, saugte ihre schmale Gestalt, ih­ ren geraden Rücken, ihr energisches Profil in sich auf. Sie trug ein langes blaues Kleid mit weitge­ schnittenen Ärmeln und einen dunkelroten

Seidenschal. An ihrer Rechten entdeckte Matt einen Ring, den er noch nicht kannte, einen breiten Silberreif mit rubinrotem Stein. Viel­ leicht habe ich schon einen Nachfolger …, dachte er. Später dann, als sie sich am Wohnzimmer­ tisch gegenüber saßen und über das Haus spra­ chen, durchzuckte es ihn, als hätte er ein blan­ kes Kabel angefasst. Es ist das letzte Mal … Ich sitze das letzte Mal in meinem Haus! Ist das nicht verdammt traurig, wollte er sa­ gen, aber ihre großen braunen Rehaugen wi­ chen ihm aus und der harte Zug um ihren Mund kam ihm abweisend vor. Er sagte nichts. Sie einigten sich schnell. Liz schlug vor, ihm eine kleine Miete zu bezahlen – Matt hatte das Haus von seinem Großvater geerbt und es da­ für noch für ein paar Monate zu bewohnen. »Vielleicht gehe ich nächstes Jahr nach New York City«, sagte sie, »ich hab ein Angebot vom Metropolitan Museum. Aber wenn es so weit ist, können wir immer noch weitersehen …« Wenn »Christopher-Floyd« an uns vorüber­ gegangen ist, sehen wir weiter, dachte Matt. Liz machte Vorschläge für die Aufteilung des Vermögens, der Bücher, des Hausrates und so weiter. Matt war mit allem einverstanden. Es war, als würde der Komet mit am Tisch sitzen.

Gab es überhaupt noch etwas, das wirklich wichtig war, etwas, worauf es ankam? Ja, dachte Matt, dass ich zwölf Jahre lang mein Leben mit dieser Frau geteilt habe, dass ich sie geliebt habe, dass etwas in mir sie noch immer liebt … »Tja, dann bis morgen«, sagte Liz irgend­ wann. Sie stand auf, und alles was er ihr hatte sagen wollen, blieb ungesagt. An der offenen Haustür reichte sie ihm die Hand. Er hielt sie fest. »Ich hab dich zu oft allein gelassen.« »Ja, Matt, das hast du.« »Du musst das Gefühl gehabt haben, dass ich die Luftwaffe mehr liebe als dich. Aber das ist nicht wahr, Liz, das stimmt einfach nicht. Ich hab dich geliebt und ich liebe dich noch. Aber vielleicht habe ich versäumt, es dir zu zei­ gen …« »O ja, Matt, das hast du versäumt und jetzt ist es zu spät.« Sie entzog ihm ihre Hand und schloss die Tür. Matt ging zu Fuß zu seinem Elternhaus. Und während er an so vielen vertrauten Straßene­ cken, Häusern, Grünflächen und Geschäften vorbei kam, wurde ihm bewusst, dass er sich genau so ziellos fortbewegte wie die meisten anderen Menschen.

Sein Vater umarmte ihn auf der Türschwelle, seine Mutter küsste ihn und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Es tat ihm gut; er wusste plötzlich, dass er doch noch ein Zuhause hatte. Sie wollten wissen, wie der Flug gewesen war, sie wollten wissen, wie er sich mit Liz geeinigt hatte. Er erzählte es ihnen im Telegrammstil. Natürlich waren sie auf dem Laufenden. Matt telefonierte zweimal im Monat mit seinen El­ tern. Der Tisch war schon gedeckt, es gab Abendessen. Truthahn mit Rotkohl und Kar­ toffelpüree – Evelyn Drax wusste, was ihr Sohn schätzte. Während des Essens lief das Radiogerät der Stereoanlage. Ein kalifornischer Musiksender – der Lieblingssender seiner Eltern spielte Ol­ dies. Seine Mutter erzählte die neuesten Ge­ schichten aus der Nachbarschaft und dem großen Bekanntenkreis der Familie Drax. Mit einem Ohr hörte Matt zu, mit dem anderen re­ gistrierte er das Zeitzeichen aus dem Radio. Die Sechs-Uhr-Nachrichten. Eine Männerstim­ me verlas die neuesten Meldungen. Wie fast immer in den letzten Wochen drehte sich die erste Meldung um »Christopher-Floyd«. Die NASA-Sonde Contour hatte sich dem Ko­ meten so weit genähert, dass genauere Mes­ sungen vorgenommen werden konnten.

Erste Daten über Oberflächenbeschaffenheit, Kometenkern und Kometenmasse lagen nun vor. Zahlen rauschten an Matt vorbei. Die meisten sagten ihm wenig. Das letzte Da­ tum, an dem der Komet die Erdbahn kreuzen sollte – die allgemeine Sprachregelung der Me­ dien vermied den Begriff »Kollision« – wurde inzwischen schon wieder in Frage gestellt. Die Astronomie Division wollte sich nicht mehr auf den 9. Februar nächsten Jahres festlegen. Und wieder fiel der Name Jacob Smythe, den Matt in den letzten Wochen viel zu oft gehört und dessen Träger er viel zu häufig auf den Fernsehschirmen gesehen hatte. Matts Mutter und ihre Geschichten aus Nach­ barschaft und Freundeskreis verstummten. Schweigend aßen sie jetzt, und jeder von ihnen lauschte der Stimme aus dem Radio. Matt schmeckte kaum den zarten Truthahnbraten und den würzigen Rotkohl, zu sehr nahmen ihn die Nachrichten gefangen. Die meisten Staaten Asiens und Afrikas hat­ ten inzwischen den Ausnahmezustand ver­ hängt. Überall gab es Unruhen, überall Regie­ rungsumstürze, überall blutige Zusammenstöße zwischen Angehörigen ver­ schiedener Religionen, Angehörigen verschie­ dener Rassen. Die Moslems im Norden Indiens

hatten zu einem Ausrottungsfeldzug gegen die christliche Minderheit geblasen. In anderen Teilen Indiens metzelten die Hindus die Mos­ lems nieder. Im Nahen Osten marschierten die Truppen der islamischen Staaten gegen Israel auf, weil irgendein Mullah den Kometen als Strafgericht Allahs interpretierte, das nur abgewendet wer­ den könnte, wenn Israel von der Weltkarte verschwand. In großen Städten wie Islamabad, Daressa­ lam, Mexico City oder Bogota war die staatli­ che Ordnung kaum noch das Papier wert, auf dem sie ihre Gesetze erließ. Verbrechersyndi­ kate, Bandenchefs und War-Lords hatten das Kommando übernommen. In Rio de Janeiro hatten sich die Slumbewohner organisiert und eine Kaserne gestürmt. Von Tausenden von Toten war die Rede. »Zur Stunde ist die Lage vollkommen un­ übersichtlich«, erklärte der Nachrichtenspre­ cher, »nach Informationen aus der US-Bot­ schaft in Rio de Janeiro hat sich ein Teil der kasernierten Soldaten mit den Aufständischen solidarisiert. Im Norden der Stadt, so heißt es, formierten sich bewaffnete Mengen zu einem Marsch auf den Präsidentenpalast …«

Und dann eine Nachricht, die Matt veranlass­ te, das Besteck wegzulegen, aufzustehen und den Lautstärkeregler des Empfängers aufzu­ drehen. »Als erster Staat Europas hat Schweden heu­ te den Ausnahmezustand verhängt. Aus allen Landesteilen wird von bewaffneten Auseinan­ dersetzungen zwischen Armee-Einheiten und Polizei auf der einen und Rechtsextremisten auf der anderen Seite berichtet. Offenbar ist es der rassistischen Gruppierung ›Lokis Krie­ ger‹ gelungen, Teile der Bevölkerung zu mobi­ lisieren. Achtzig Kilometer südlich von Stock­ holm hat ein Kommando der Extremisten den Hochsicherheitstrakts eines Staatsgefängnis­ ses gestürmt und den dort seit siebzehn Jah­ ren wegen Mordes einsitzenden Gründer der Gruppe befreit. Der Mann, den seine Anhän­ ger ›Graf‹ nennen, behauptet mental mit einer der nordischen Göttermythologie unbekann­ ten Göttin namens ›Lokira‹ in Verbindung zu stehen und fordert alle Kirchen und Moscheen Schwedens zu verbrennen und alle Fremden aus dem Land zu treiben …« Den Nachrichten folgte der Wetterbericht, selbst in Zeiten des Kometen noch unentbehr­ lich, wenn auch nicht mehr so populär wie vor zwei Monaten noch. Danach Musik. The Show

must go on, dachte Matt. Sein Vater stellte Glä­ ser auf den Tisch und schenkte Whisky ein. Sie sprachen über den Kometen, über das was sie in den Nachrichten gehört hatten, über den Kometen, über die chaotischen Zustände in den amerikanischen Großstädten, über den Kometen, über Liz, und immer wieder über den Kometen. Eine alte und vertraute Melodie war plötzlich im Radio, ein Stone-Song aus der Steinzeit der Rockgeschichte – »This could be the last time« – und wieder das Gefühl der Letztmaligkeit. Matthews Eltern empfanden es genau so wie er. Keiner sprach mehr ein Wort, jeder wusste, was der andere dachte: Es könnte das letzte Mal gewesen sein. Das letzte Mal, dass sie hier zusammen saßen, in dem Haus, in dem Matt sein halbes und seine Eltern ihr ganzes Leben verbracht hatten, in dem sie geweint und ge­ lacht, in dem sie so viele glückliche Stunden er­ lebt und so viele Schwierigkeiten gemeistert hatten. This could be the last time … Stunden später, als sie schlafen gingen, war die Whiskyflasche bis auf zwei oder drei Gläser leer. Diesen Rest trank Matt aus, bevor er am nächsten Vormittag zum Scheidungstermin ging.

Apache Point, New Mexico, 29. November 2011 Langsam baute das Bild sich auf. Der Monitor füllte sich mit Lichtpunkten. Bläuliche Licht­ punkte vor violettem Hintergrund. In der lin­ ken Hälfte des Monitors konzentrierten sich die Protonen zu einem weißen, an den Rän­ dern ausgefranstem Fleck. »Er strahlt wie eine Röntgenröhre, Sir«, sagte David McKenzie. Seit über einer Woche analysierten sie die Messdaten, die Contour aus dem All zum Kon­ trollzentrum auf dem Apache Point funkte. Die Sonde hatte sich »Christopher-Floyd« auf un­ ter eine Million Kilometer genähert. »Jeder dieser Brocken strahlt ein bisschen, natürlich. Aber doch nicht so intensiv!« Pro­ fessor Dr. Jacob Smythe riss die Arme hoch. »Das ist doch nicht nur Röntgenstrahlung! Da ist noch was! Da ist noch was!« Er stieß sich von McKenzies Arbeitssessel ab. Sein weißes offenes Hemd flatterte wie eine Fahne hinter ihm her, während er an der langen Arbeitszeile vorbei zur Außenseite des Kontrollzentrums rannte. »Was ist mit diesen verdammten Neu­ tronen? Ich will ein Strahlungsprofil!« Nach al­ len Seiten bellte er seine Anweisungen, nicht anders als er es in seiner Zeit am Smithsonian getan hatte. Die Mitarbeiter Seiner Astrono­ mie Division ertrugen es mit stoischer Ruhe.

Die meisten von ihnen waren hochrangige Offi­ ziere der US-Luftstreitkräfte und an Disziplin gewöhnt. Das unterschied sie von Professor Dr. Jacob Smythe. »Schalten Sie das Bild von Hubble II dazu und die Internationale Raumstation! Ich will wis­ sen, was das für eine gottverdammte Strahlung ist!« Hinter der letzten Reihe der insgesamt sechs Arbeitszeilen sprang er die vier Stufen der Treppe hinauf, die von der Eingangstür hinab ins Kontrollzentrum führte. »Die aktuel­ len Bahnberechnungen in den Beamer … Mas­ se, Dichte, Masseverlust, alle Daten über den Kern …!« Er zog einen Schokoriegel aus der Hemdtasche. Auf der rechten der drei großen Leinwände an der Frontseite des Kontrollzentrums baute sich eine Tabelle mit sämtlichen Kometenda­ ten auf, die Contour in den letzten Stunden und Tagen gesendet hatte. »0,8 mal 10 hoch 16 Kilogramm … verdammtes Miststück, woher kommt deine ganze Masse? Und warum ver­ lierst du so wenig?« Smythe biss in den Scho­ koriegel und merkte, dass er vergessen hatte, die Verpackung zu entfernen. »Verflucht! Mist­ stück!« Er riss das Papier mit den Zähnen ab und spuckte es auf den Boden.

So wie in vergangenen Jahrhunderten ein Feldherr von einem Hügel aus das Kampfge­ schehen auf dem Schlachtfeld beobachtet hat­ te, blickte Smythe von der obersten Treppen­ stufe in den großen rechteckigen Raum des Kontrollzentrums hinunter. Sechs Tischzeilen mit je sechs Arbeitsplätzen und sechs bis acht Monitoren standen Reihe hinter Reihe. Auf den Bildschirmen flimmerten Tabellen, Koor­ dinatensysteme mit Kurven, Lichtflecken und Zahlenkolonnen. Kleine runde Leuchten an der Decke warfen gedämpftes Licht auf die Männer und Frauen vor den Mattscheiben. Auch drei Beamer hingen vorne an der Decke und projizierten Bilder auf die drei großen Projektionsflächen an der Frontseite des Raumes. Auf der mittleren funkelte der Ster­ nenhimmel. Fast im Zentrum hing ein dau­ mennagelgroßer Fleck aus leuchtendem Gas: »Christopher-Floyd«. Deutlich waren sein dreifaseriger Schweif – 15,7 Millionen Kilome­ ter lang – und seine gleißende Koma zu erken­ nen. Auf der linken Leinwand sah man eine Weltkarte mit der aktuellen Position von Hub­ ble II und der Internationalen Raumstation. Deren Besatzung versuchte mit Spezialgeräten der rätselhaften Strahlung des Kometen auf die Schliche zu kommen. Auf der rechten Lein­

wand schließlich aktualisierten sich ständig Tabellen mit den Kometendaten. »Der Neigungswinkel hat sich schon wieder um zwei Sekunden verringert, Sir!«, brüllte eine Männerstimme aus einer der mittleren Arbeitszeilen. »Kontrollieren!«, bellte Smythe. Sechsund­ dreißig Männer und Frauen saßen vor Schalt­ konsolen und Monitoren. Smythe hatte Vollbe­ schäftigung angeordnet, Auswertungen und Berechnungen rund um die Uhr. Während sein großes Team in drei Schichten arbeitete, hielt sich Smythe seit Tagen fast ausschließlich im Kontrollzentrum auf. Die Dragees gegen seine Schilddrüsenüberfunktion hatte er auf eines pro Tag reduziert – etwa alle sieben oder acht Stunden verzog er sich für eine Stunde in sein Büro, wo er ein Feldbett aufgebaut hatte. Seit kurzem gehörte David McKenzie zum Team. Professor Dr. Jacob Smythe hatte den Astrophysiker zu seinem Stellvertreter ge­ macht, ohne jemanden um Erlaubnis gebeten zu haben. Genau so wie die Regierung in Wa­ shington niemanden um Erlaubnis gebeten hatte, als sie das 3,5-Meter-Teleskop der Chi­ cago University vorübergehend für die Arbeit der Astronomie Division beschlagnahmt hatte. »Zwei Sekunden, Sir, es bleibt dabei.«

Smythe kniff die Augen zusammen und späh­ te nach vorn zur Tabelle rechts neben dem Sternenhimmel. Neun Grad, achtzehn Minuten und vierundzwanzig Sekunden betrug der ak­ tuelle Bahnneigungswinkel des Kometen. »Warum veränderst du deine Bahn …?«, mur­ melte der Astrophysiker. »Neue Perihelberech­ nung!«, blaffte er ins Kontrollzentrum hinun­ ter. »Aktuelle Entfernung! Eine Sinuskurve von der verdammten Strahlung!« Die Tabelle neben dem Sternenhimmel baute sich neu auf. Smythe starrte den Kometen auf der mittleren Leinwand an. Vierundzwanzig Stunden am Tag wurde er hier, im Observatorium auf dem Apa­ che Point beobachtet. Selbst dann, wenn der Erdball sich zwischen das zugeschaltete Welt­ raumteleskop Hubble II und den Kometen schob. Das 3,5-Meter-Teleskop des Observato­ riums verfügte über die neueste Generation der ALFA-Optik. ALFA stand dabei für »Adap­ tive Laseroptik für Astronomie«. Der Laserstrahl des Teleskops konnte in hun­ dert Kilometern Höhe einen künstlichen Leit­ stern aufbauen, über den nahezu alle Him­ melsbereiche beobachtet werden konnten. »Warum änderst du noch immer deine Bahn?« Als wäre das Kontrollzentrum ein Ge­ richtssaal, er der Staatsanwalt und der Komet

der Angeklagte, streckte Smythe seinen Arm aus und deutete auf die mittlere Leinwand. »Da ist kein Jupiter in der Nähe, der dich dazu zwingt! Da gibt es kein starkes Gravitations­ feld! Warum? Warum? Sag es mir!« »Die Sinuskurve!« Einer der Astronomen in der hintersten Reihe winkte. »Ich hab die Strahlung auf dem Schirm, Sir!« Smythe stürmte die Treppe hinunter. Er beugte sich über die Schultern des Mannes und starrte auf den Monitor. In einem Koordinatenkreuz ent­ standen die Ausschläge eines grünlichen Licht­ punktes und die Kurven, die er zeichnete. Wie das Profil eines Hochgebirges sah die Kurve aus, stieg vom horizontalen Koordinatenstrahl steil an, fiel kurz ab, stieg leicht an, fiel wieder ab und schlug erneut aus. Daneben Tabellen mit den Zahlen der Kern­ teilchen, die Contour in der Röntgenstrahlung des Kometen analysiert hatte – Protonen, Elektronen und auffällig viele Neutronen. »Ein rhythmisches elektromagnetisches Spannungsfeld«, murmelte Smythe. »Baut sich in zeitgleichen Intervallen auf und ab …0,8 Se­ kunden …« »Sieht aus wie die Ableitung eines EEGs«, sag­ te der Astronom.

»Als würde im Kometenkern etwas pulsieren …« »Idiotisch!« Smythe bedachte den Mann mit einem bösen Blick. »Vollkommen idiotischer Vergleich!« Aufge­ regt tänzelte er von Monitor zu Monitor, von Arbeitszeile zu Arbeitszeile, las Daten ab, brab­ belte Zahlen vor sich hin, stieß Flüche aus und blickte immer wieder nach vorn auf die Tabel­ le. Alle fünf Minuten erschienen dort die neuesten Berechnungen von Kometenbahn und – Oberfläche – Mittelwerte aus den Be­ rechnungen von Hubble II und der Sonde. »Er verliert nur 10 hoch 14 Moleküle pro Se­ kunde!«, rief Smythe. Der Vergleich der Kometenstrahlung mit elektrischen Gehirnströmen klebte in seinen Hirnwindungen wie ein Kaugummi an einer Schuhsohle. »Viel zu wenig, um die Bahnände­ rungen zu erklären.« Beide Hände gegen das Gesicht gepresst fixierte er die Daten über den Kometenschweif. Die Ausgasung aus dem In­ nern des Kometen bildeten in Wechselwirkung mit dem Sonnenwind den gewaltigen Plasma­ schweif und verursachte gleichzeitig eine JetWirkung wie das Düsentriebwerk einer Rake­ te. Aber »Christopher-Floyds« Gasausbrüche waren nach Smythes Berechnungen nicht stark

genug, um für den chaotischen Kurs des Him­ melskörpers verantwortlich gemacht werden zu können. »Die Daten, Sir!«, rief jemand. »Contour sen­ det plötzlich völlig unsinniges Zeug! Irgendwas stimmt nicht mit der Sonde …!« »Dann finden Sie gefälligst den Fehler!«, brüllte Smythe. Sein hektischer Tanz von Ar­ beitsplatz zu Arbeitsplatz, von Monitor zu Mo­ nitor hatte ihn zurück zu Dave geführt. Auf ei­ nem seiner Bildschirme war eine Computergrafik des Kometenkerns zu sehen. Errechnet aus den Messungen der ContourSonde. Die Grafik besaß nur Wahrscheinlich­ keitswert, denn anders als der so genannte astronomische Kern – die Hunderte, ja Tau­ sende von Kilometern durchmessende Wolke aus Staub und Gas – war der physikalische Kern, der feste Kometenkörper also nur sehr schwer zu berechnen. »8,093 Kilometer Durchmesser«, las Smythe laut. Die grüne Kugel auf dem Bildschirm setz­ te sich aus einem Konglomerat unzähliger klei­ ner Pünktchen zusammen. »Er scheint aus Millionen von zusammenge­ klumpten Gesteinsbrocken zu bestehen«, sagte David McKenzie leise.

»Ich sehs«, zischte Smythe, »aber ich glaubs nicht – woher dann die große Masse? Woher dann die hohe Dichte? Ich glaubs nicht …« »Die Sonde spinnt! Keine Daten mehr!« Von allen Seiten kam jetzt aufgeregtes Rufen. Smy­ the rannte wieder von Monitor zu Monitor. Er schimpfte laut. Der Funkkontakt mit der Son­ de war tatsächlich abgerissen. Etwas Schlim­ meres hätte in dieser Phase der Sondenmissi­ on nicht geschehen können. »Verbinden Sie mich mit der NASA …!«, schrie Smythe. Stundenlang versuchte Smythes Mannschaft in Zusammenarbeit mit dem Hubble II-Team den Kontakt zur Sonde wieder herzustellen – vergeblich. Es war, als hätte ein kleiner Meteor das teure Gerät zertrümmert. Einer der NASALeute versteifte sich auf diese Theorie. Smythe sah das anders: Nach Analyse der zuletzt emp­ fangenen Daten neigte er immer mehr dazu, der fremdartigen Strahlung des Kometen die Schuld für den Ausfall der Sonde zu geben. Die Stimmung im Kontrollzentrum sank auf den Nullpunkt. Smythe tobte herum wie ein Besessener. Ge­ gen Morgen ließ er die letzten Daten der Sonde und die aktuellen Messungen von Hubble II durchrechnen und auf die Leinwand an der

Stirnseite des Kontrollzentrums projizieren. Langsam baute sich die Tabelle auf, Spalte für Spalte, von oben angefangen. »Fassen wir zusammen!« Wie ein Prediger stand Smythe zwischen den vorderen beiden Arbeitszeilen und starrte zur Tabelle hinauf. »Unbekannte Störstrahlung geht von dem Ko­ meten aus. Er besitzt einen physikalischen Kern aus zahlreichen, unerwartet dichten Kör­ pern, Gestein, Eis, weiß der Teufel was …« Eine Spalte unter der anderen erschien auf der Leinwand. »Durchmesser 8,093 Kilometer, Geschwindigkeit im Augenblick 50,2 Kilometer pro Sekunde …« Die Spalte mit dem Datum des Periheldurch­ gangs baute sich auf. Geraune ging durch die Tischreihen. Einige Männer und Frauen sprangen auf. »8. Februar 2012«, murmelte Smythe. »Erdentfernung zu diesem Zeitpunkt 5,8 Millionen Kilometer plusminus Null bis 5,79 Millionen Kilometer … Was ist denn das für eine lächerliche Berech­ nung?« Er stieß einen Fluch aus. »Es sieht aus … als hätte … als hätte er uns im Visier«, stammelte Dave. »Als würde irgendein Gott mit dem Klumpen auf uns zielen …« »Reden Sie nicht so einen Unsinn!«, bellte Smythe. Seine eigenen Gedanken von seinem

Stellvertreter ausgesprochen zu hören machte ihn wütend. Die letzte Tabellenspalte, die un­ terste, leuchtete jetzt auf der Leinwand auf: Kollisionswahrscheinlichkeit 84,79 bis 100 Prozent … »Jesus …« Gestöhne und Gemurmel von allen Seiten. »Gott sei uns gnädig«, »wir haben uns verrechnet …«, »Himmel … das kann nicht wahr sein …« Smythes Rechte fuhr zu seiner Hemdtasche und zog einen Schokoriegel heraus. »Ich will den Präsidenten sprechen«, murmelte er. Und dann fuhr er herum und brüllte laut ins Kon­ trollzentrum hinein: »Verbinden Sie mich mit dem Weißen Haus …!« Manhattan, Upper East Side, 30. November 2011 Die Bilder auf dem Fernsehschirm glichen sich beängstigend. Wasserwerfer inmitten ei­ ner aufgepeitschten Menschenmasse vor dem Reichstag in Berlin. Panzer am Hamilton Fish Park in der Lower East Side, umringt von Stei­ ne werfenden Jugendlichen. Kolonnen von Ar­ meefahrzeugen auf dem Champs-Elysees, Schützenpanzer auf der Jagd nach Aufständi­ schen in den Armenvierteln Mexico Citys und Kalkuttas, Zehntausende demonstrierender

Menschen, teilweise bewaffnet, vor dem Präsi­ dentenpalais in Rio de Janeiro, und so weiter. »Leben wir nicht in unglaublich spannenden Zeiten?«, krähte Timothy LaHaye. Halb nackt, nur in ein Leintuch gewickelt, lag er auf seiner Designer-Couch und strahlte das TV-Gerät an. »Sag selbst, Baby, ist es nicht schlichtweg geil, dass uns das Schicksal in eine Zeit hinein gebo­ ren hat, in der wir Augenzeugen eines derart kosmischen Ereignisses werden dürfen …?« Kim Yong neben ihm sagte nichts. Ihr stump­ fer Blick hing am Bildschirm. Ein Jumbo-Jet war darauf zu sehen. Er stand auf dem Rollfeld des Pekinger Flughafens. Eine Leiche fiel eben aus dem Schott auf das Rollfeld. Schon wieder eine Flugzeugentführung. Die dritte in dieser Woche. LaHaye schob ihren ebenfalls halb nackten Körper von seiner Brust, beugte sich zum Tisch und griff nach seinem Sektglas. »Mach nicht so ein Gesicht, Baby.« Er stand auf und hob das Glas. Das Leintuch rutschte von sei­ nem dürren Körper. »Langes gesundes Leben? Pfui Teufel!« Splitternackt stand er da. »Gesi­ cherte Verhältnisse? Stabile staatliche Ord­ nung? Pah! Für so einen Kick pfeife ich auf das alles!« Er nahm einen Schluck Sekt.

Kim Yong blickte an ihm vorbei auf die Matt­ scheibe. Die Börsendaten. Der Dow-Jones war auf unter dreitausend Punkte gerutscht. Ein Börsenkrach ohne Beispiel. Alle Leuten stießen ihre Aktien ab. Niemand kaufte noch welche. Reihenweise gingen Firmen bankrott, viele weil ihre Mitar­ beiter einfach nicht mehr zur Arbeit erschie­ nen. »O Gott, Baby!« LaHaye verdrehte die Augen und machte ein weinerliches Gesicht. »Guck doch nicht so belämmert aus deiner wunder­ schönen Haut! Du musst das positiv sehen! Nur alle siebzig Millionen Jahre schaut so ein Brocken bei uns herein! Manche behaupten so­ gar nur alle zweihundert Millionen Jahre! Stell dir vor, was deine und meine siebzig Jährchen dagegen sind! Stell dir vor, was für ein unge­ heures Glück es ist, so etwas erleben zu dür­ fen!« Er leerte sein Glas, knallte es auf den Tisch und angelte sich sein Leintuch vom Bo­ den. »Ich könnte drauf verzichten, ehrlich, Timmy. Ich will leben, weiter nichts.« Seine Regisseu­ rin seufzte tief. »Ich hab einfach nur Angst.« LaHaye ließ sich wieder neben sie auf die Couch fallen. »Was für eine Katastrophe, dass Vince die Rechte an diesem Kometen nicht

kaufen konnte …!« NBC hatte versucht, sich die Übertragungsrechte an dem Kometen zu si­ chern. Ein Aufschrei war durch die Presse ge­ gangen. Der Anflug des Kometen betreffe die gesamte Menschheit, wurde dem Fernsehsen­ der von regierungsamtlicher Seite beschieden. Jeder Erdenbürger habe ein Recht auf freie In­ formation über ein Ereignis, das unter Um­ ständen sein ganzes persönliches Leben beein­ flussen würde. So etwa hatte die Begründung in dem offiziellen Ablehnungsschreiben gelau­ tet. »Aber davon lassen wir uns nicht ins Bockshorn jagen, nicht wahr, Baby?« Er legte den Arm um Kim und zog sie zu sich. »Alles was an Unterhaltungswert in ihm steckt, wer­ den wir aus diesem Dreckklumpen heraus­ pressen …!« »Ich weiß nicht … Wenn er nun wirklich ein­ schlägt … Ich hab solche Angst …« Seit dem 18. November, seit die Wahrscheinlichkeit einer Kollision mit über achtzig Prozent angegeben wurde, war mit Kim nicht mehr viel anzufan­ gen. Ein Jammer, denn sie war die wichtigste Frau in LaHayes Team. Er hatte sie zu sich in sein Apartment in die Upper East Side genom­ men, fütterte sie mit Kokain und Amphetami­ nen, versuchte ihre Depression mit Comic-Fil­ men, Sex und wilden Partys zu zerstreuen. Bis

jetzt spielte sie noch mit, doch LaHaye machte sich ernsthafte Sorgen um sie. Ohne Kim stand Timmys MoonTalk auf wackligen Beinen. Schon der Verlust seiner Maskenbildnerin hat­ te ihn mächtig erschüttert. Rozanne war vor drei Wochen einfach nicht mehr ins Studio ge­ kommen und seitdem spurlos abgetaucht. Auf der Mattscheibe verkündete ein Meteoro­ loge die Wetteraussichten für den kommenden Tag. Das nasskalte Wetter sollte anhalten. »Hast du was gemerkt, Baby?« LaHaye deute­ te auf den Fernsehschirm. »Kein Wort über den Kometen. Ist dir das aufgefallen?« »Vielleicht steht es so schlimm inzwischen, dass sie sich nicht trauen es uns zu sagen«, seufzte Kim. »Ach was!«, winkte LaHaye ab. »Vielleicht hat es sich der Wonneknubbel anders überlegt und rauscht nun doch an uns vorbei …« Er küsste die teilnahmslos wirkende Frau auf die Stirn. »Egal. Solange er noch durch das All und die Hirnwindungen des Fernsehvolks geistert, werden wir unseren Zuschauern seine aufre­ gendsten Seiten zeigen. Hast du schon die Gäs­ te für nächsten Montag zusammen?« »Ja«, seufzte Kim, »aber ich nicht zufrieden – lauter Weltuntergangsfanatiker und ein paar Leute die sich umbringen wollen …«

»Wunderbar!«, krähte LaHaye. »Das ist doch wunderbar!« »Außerdem habe ich gehört, dass die beiden Kometenentdecker sich in den Staaten aufhal­ ten, in Florida angeblich …« »Was?« LaHaye sprang auf. »Und das sagst du mir erst jetzt?« »Der eine heiratet unten in Miami eine ameri­ kanische Schauspielerin, der andere ist wohl Trauzeuge …« »Fett!«, kreischte der Fernsehmoderator. »Die müssen in die Show! Treib sie auf! Ich will sie in der Show sehen! Los, Baby, häng dich ans Telefon! Dann kommst du auf andere Gedanken …« New York City, Bronx, 4. Dezember 2011 Das Neonlicht spiegelte sich in den grünen Kacheln der Wände und der Decke und des Bo­ dens. An der linken Seite des quadratischen Gewölbes reihte sich eine schwere Metalltür an die andere. Ehemalige Kühlboxen. An der Wand gegen­ über hing eine schwarze Fahne. Aus dem weit aufgerissenen Rachen des roten Drachenkop­ fes darauf schlängelten sich orangene zungen­ artige Gebilde das Feuer, das der Drache in die Welt hinein spie. Unter dem Drachenkopf,

ebenfalls rot auf schwarzem Grund, war der gebogene Namenszug der Bruderschaft in ru­ nenförmigen Großbuchstaben zu lesen: »WuTang Clan.« Vor der Wand, die der Eingangstür gegenüber lag, drängten sich sechsundzwanzig Männer um einen Stadtplan und vollgeschriebene Ta­ petenbahnen, die Washington Roots an den Kacheln hatte befestigen lassen. Vor etwas mehr als zwei Wochen, am 18. No­ vember, war das Hauptquartier von Citizen Power aus, der alten Primary School in das leerstehende und zum Abriss bestimmte Laza­ rus-Hospital umgezogen. Aus dem ehemaligen Lehrerzimmer hatte Washington Roots die Kommandozentrale der Bewegung in eine ehe­ malige Pathologie, eine Leichenhalle verlegt. »Sie bauen Bunker.« Roots deutete auf den Stadtplan. »Unter dem Metropolitan Museum, im Grand Central Terminal und unter dem Universitätskomplex. Die Informationen unse­ rer Leute aus allen drei Bauteams gleichen sich fast aufs Wort: Ausschachtungen bis in zweioder dreihundert Meter Tiefe, Stahlbetonde­ cken, darunter eine Schale aus einer Titan-Tef­ lon-Legierung, hitze- und druckbeständig, Stahlschleusen mit UV-Strahlern, unzählige

kleine Schlafräume, medizinische Zentren und Kommandozentralen.« Wash zog seine schwarze Stirn in Falten und musterte die um ihn stehenden Männer. »Sie bauen also tatsächlich Bunker. Das ist Fakt. Fakt ist auch, dass alle drei Baustellen von schwerbewaffneten Einheiten der Nationalgar­ de abgeriegelt werden. Vorgestern Abend hat sogar ein Panzerbataillon der Army rund um die Columbia University Stellung bezogen. Lauter hochmoderne M-2-Panzer.« Er stemm­ te die Fäuste in die Hüften und ging zwischen den Männern hindurch zum ehemaligen Ob­ duktionstisch. Dort setzte er sich auf die schwere Marmorplatte. »Jetzt frage ich euch, Brüder: Hat irgendeiner von euch eine Einla­ dung bekommen, sich mit seiner Familie in ei­ nem dieser Bunker in Sicherheit zu bringen, wenn es ernst wird?« Die Männer, die Hälfte Afroamerikaner, die anderen Hälfte Latinos, Asiaten oder weiße Einwanderer aus Osteuropa, sahen sich betre­ ten an. Diego Calypso schüttelte als Erster den Kopf. »Unsere Leute in den Bautrupps sagen, die Bunker seien für höchstens achthundert Personen geplant. Schätze, die Stadtregierung wird nur Leute hinein lassen, die sie für wich­ tig hält. Und natürlich sich selbst.«

»Und ich schätze, wir sollten gründlich dar­ über nachdenken, ob uns das gefällt«, sagte Washington Roots, und er betonte jedes einzel­ ne Wort dabei. Sie mussten nicht lange disku­ tieren – niemandem gefiel das. »Was also ist zu tun?«, fragte Roots. Jetzt wurde die Diskussion allerdings hitzig. Sie spielten verschiedene Szenarien durch. Die Hälfte der Männer, die Mitglieder von Citizen Power schlug vor, einen Aufstand anzuzetteln und eine der drei Baustellen zu stürmen. Die Männer vom Wu-Tang Clan schlugen eine Be­ setzung des Municipal Buildings und eine Ge­ fangennahme des Bürgermeisters vor. Die Stadtregierung sollte gezwungen werden, ihre Pläne offen zu legen. Die Debatte wurde laut, die Temperamente schäumten über, Roots schwieg die ganze Zeit und hörte nur zu. »Wir haben fast fünfzig Waffendepots über Harlem und die Bronx verteilt«, rief Diego ir­ gendwann. »Wir könnten zehntausend Mann bewaffnen – die Gewehre und Pistolen, die je­ der von uns zuhause hat, gar nicht mitgezählt. Fast ein Viertel der Bauarbeiter gehört zum Wu-Tang Clan oder zu Citizen Power und selbst in der Nationalgarde und in der Army haben wir unsere Leute. Wenn wir uns beeilen, könnten wir schon in einer Woche das Grand

Central Terminal oder die Columbia University stürmen! Wir könnten New York City inner­ halb von Stunden endgültig in einen Hexenkes­ sel verwandeln …« »Hast du nicht begriffen, Mann?«, donnerte ein bulliger Afroamerikaner in einem schmie­ rigen Trenchcoat los. »Wir wissen nur von Bunkern für höchstens zweitausendfünfhun­ dert Menschen! Willst du die Regierung etwa zwingen, für unsere Familien weiter zu bauen und für sich selbst Gräber zu schaufeln? Zwei­ tausendfünfhundert Menschen – das reicht nicht mal für die Citizen Power und die Leute von Wu-Tang.« »Und warum willst du den Bürgermeister ge­ fangen nehmen?«, rief einer der Latinos. »Wollt ihr etwa die Regierung übernehmen? Dann kreuzen einen Tag später mindestens zwanzig Kriegsschiffe auf dem Hudson und dem East River!« »Viele von uns werden sterben.« Die Männer verstummten. Alle blickten sie Wash an. »Egal wie wir’s anstellen – viele von uns werden ster­ ben.« Er sprach eindringlich, fast beschwö­ rend. Er rutschte vom Seziertisch und begann um ihn herumzulaufen, langsam und mit nach­ denklich an die Schläfe gelegten Fingern. »Ich hab einen guten Freund in Cambridge, Massa­

chusetts. Er arbeitet dort als Astrophysiker in einem Observatorium. Garfield heißt er. Der Komet wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einschlagen, sagt er, und er sagt weiter, das Gerede von achtzig oder fünfundachtzig Prozent seit vierzehn Tagen sei reine Augenwischerei. Die Regierung ist ratlos, und nicht nur unsere Regierung. Wenn mein Freund Recht hat, sterben wir wahrscheinlich alle. Es sei denn, wir handeln, dann haben ei­ nige von uns eine Chance. Dann wird der eine oder andere unter uns noch die Kinder seiner Kinder auf den Schoß nehmen. Und dann wird Wu-Tang und Citizen Power weiterleben und irgendwann vielleicht ihre Chance erhalten, die Welt nach dem Big-Bang nach unserer Vor­ stellung zu gestalten.« Eine Zeitlang sprach keiner im Raum ein Wort. Diego Calypso schließlich brach das Schweigen. »Ich werde nicht auf den Kometen warten wie ein Schlachtbulle auf seinen Metz­ ger. Ich will leben. Und wenn die Chancen noch so schlecht stehen – lasst uns handeln.« Er wandte sich an Washington Roots. »Was schlägst du vor, Wash?« Der Clanführer blieb hinter dem marmornen Obduktionstisch stehen und stützte sich mit den Fäusten darauf ab. Seine schwarzen Augen

wanderten von Gesicht zu Gesicht, bis sie an der unbewegten Miene des alten Watonga hän­ gen blieben. »Gönne uns dein Wort, Bruder. Lass uns wissen was du denkst.« »Ihr seid in Gefahr«, begann der Dakota. »Nicht wegen des Kometen, nicht wegen der Army oder der Nationalgarde. Ihr seid in Ge­ fahr, euch vom Wildwasser eurer Gefühle mit­ reißen zu lassen. Ihr müsst klug sein. Der Fuchs, der den Dachs angreift, noch während der seinen Bau gräbt, ist nicht klug. Klug aber ist der Fuchs, der wartet, bis der Dachs seinen Bau fertig gegraben hat und dann erst über ihn herfällt und ihm das Genick durchbeißt.« Washington Roots nickte langsam. »Wir wer­ den also warten«, sagte er. »Aber wir werden dabei nicht untätig bleiben. Schleust weitere Männer in die Bautrupps der Bunkerbaustel­ len ein. Schmuggelt Waffen in die Baustellen hinein. Und dann Diegos Gedanke – der Hexenkessel. Je mehr Leute in New York City auf die Barri­ kaden gehen, desto mehr Probleme haben Re­ gierung, Army und Nationalgarde. Lasst uns also darüber nachdenken, was wir tun müssen, um den Big Apple ins Chaos zu stürzen …«

Killeen, Texas und Brooklyn Heights, NY, 8. Dezember 2011 In den Tagen nach der offiziellen Scheidung hatte Matt es nicht länger in Riverside ausge­ halten. Er mietete sich einen Plymouth und fuhr ziellos Richtung Osten. Zwei, drei Tage lang fühlte er sich wie betäubt und verstärkte diesen Zustand noch durch viel zu viel Whisky. Wie viele Stunden und Tage hatten sie über Scheidung gesprochen. Wie viele Wochen hat­ te er selbst darüber nachgegrübelt. Wie oft hat­ te er sich vorzustellen versucht, dass sie wahr machen würde, wovon sie seit zwei Jahren im­ mer häufiger sprach. Wie oft hatte er sich vor­ zustellen versucht, ohne Liz weiter zu leben. Und jetzt, da es tatsächlich geschehen war, kam er sich vor wie ein Mann, dem man ein Stück seines Lebens amputiert hatte. Acht Tage lang fuhr er von Campingplatz zu Camping­ platz, von Hotel zu Hotel und trank so viel, bis er nichts mehr fühlte. Ein übler Kater nach einem besonders hefti­ gen Rausch und die Zehn-Uhr-Vormittags­ nachrichten waren es schließlich, die ihn zur Besinnung brachten. Er saß im Frühstücks­ raum eines kleinen Hotels in Killeen, Texas. Lustlos stocherte er in seinen gebratenen Ei­ ern herum, aß nur wenig davon, trank dafür

umso mehr Kaffee und eine in einem Wasser­ glas aufgelöste Aspirintablette. Das unver­ meidliche TV-Gerät lief auf einer Konsole über einem großen Aquarium. Gleich zu Beginn des Nachrichtenmagazins verlas der Sprecher die Spitzenmeldung: »Die für den zweiundzwanzigsten Dezember ge­ plante Ablösung der Besatzung der Interna­ tionalen Raumstation wird immer fraglicher. Wie erst gestern bekannt wurde, weigert sich die Besatzung – zwei US-Amerikaner, zwei Russen, ein Deutscher, ein Franzose und zwei Japaner vor dem achten Februar 2012 den Rückflug zur Erde anzutreten.« Matt stellte die Kaffeetasse ab, griff zur Fern­ steuerung und stellte das TV-Gerät lauter. »Weder ESA noch NASA noch eine der betrof­ fenen Regierungen wollten dazu Stellung neh­ men …« Dann flimmerte das Getümmel einer Pressekonferenz über die Mattscheibe. Auf dem Podium, vor dem Gestrüpp Dutzender von Mikrofonen erschien ein Gesicht, das Matt nicht mochte: Jacob Smythes Gesicht. Die an­ wesenden Reporter bombardierten ihn mit Fragen. Ob die Weigerung der Besatzung mit dem befürchteten Kometeneinschlag zusam­ menhänge, wie denn das konkrete Datum für ihren frühesten Rückflug zustande käme und

ob sie womöglich über Informationen verfüg­ ten, die dem Durchschnittsbürger nicht zur Verfügung stünden. Smythe wand sich, flüchtete sich in Worthül­ sen. Die Crew der Raumstation habe eben Angst wie jeder andere Mensch auch, in Sa­ chen »Christopher-Floyd« gäbe es prinzipiell nichts Neues, und wie das Datum 8. Februar zustande käme, sei ihm selbst schleierhaft. Doch die Reporter ließen nicht locker. Einer erhob sich und rief mit lauter Stimme: »Ich habe gute Beziehungen ins Astrophysical Ob­ servatory des Smithsonian, Sir. Dort zweifeln ein paar ernst zu nehmende Leute längst nicht mehr daran, dass ›Christopher-Floyd‹ uns er­ wischen wird. Und die gleichen Leute nennen als Kollisionsdatum den achten Februar. Ver­ fügt die Astronomie Division unserer Air For­ ce etwa über schlechtere Rechner und unge­ nauere Messgeräte als das Smithsonian?« Ein Tumult erhob sich im großen Pressekon­ ferenzsaal des Pentagons. Die Damen und Her­ ren von der Presse sprangen von ihren Stühlen auf und stürmten das Podium. Selbst wenn der Astrophysiker es gewollt hätte – die Flucht aus dem Saal wäre ihm nicht gelungen. Die Me­ dienleute umringten ihn, von allen Seiten rich­

teten sich Mikrofone auf ihn, sein fahles Ge­ sicht zuckte im Blitzlichtgewitter. Der Mann rastete aus. »Was kann ich für die Nachrichtenpolitik des Weißen Hauses?«, brüllte er. »Die Bahn des verfuckten Kometen ist so unberechenbar der Flug einer Fleder­ maus! Kann sein, er fällt uns am achten Febru­ ar auf die Köpfe, kann auch nicht sein. Was weiß ich? Bin ich Jesus …?« Wieder erschien der propere Anchorman auf der Mattscheibe. »Soeben erreicht uns eine Meldung der Nach­ richtenagentur TASS«, erklärte er in aller­ sachlichstem Tonfall und mit Pokermiene. »Astronomen der russischen Raumfahrtbe­ hörde, die ungenannt bleiben wollen, erklär­ ten nach dieser Meldung in einem Interview, dem Kreml lägen bereits seit über einer Wo­ che gesicherte Daten vor, die sich nicht anders interpretieren ließen, als dass ›ChristopherFloyd‹ am achten Februar zweitausendzwölf um sechzehn Uhr zweiundvierzig MEZ mit der Erde kollidieren wird …« Matt starrte den Bildschirm an wie ein Ange­ klagter den Richter, der ihm aller Unschulds­ beteuerungen zum Trotz die Höchststrafe auf­ gebrummt hatte.

Kollision mit der Erde … hatte er da etwas falsch verstanden? Am 8. Februar 2012… »Mein Gott«, stöhnte er. »Das sind ja … das sind ja nur noch zwei Monate …« Er spürte seine Kopfschmerzen nicht mehr. Die Bilder im TV-Gerät zogen an seinen Augen vorbei und berührten kaum sein Bewusstsein. Nicht einmal mehr zwei Monate … Er dachte an seine Eltern, an deren Haus, an Liz und an sein eigenes Haus, er dachte an Riverside mit seinen Sportplätzen und Grünanlagen, er dachte an all die Städte, durch die er während der letzten acht Tage gefahren war, er dachte an sein Land, an Malmö und Kopenhagen und Städte, durch die er Ende August gereist war. Eine Flut von Bildern überschwemmte ihn. Kollision mit der Erde … 8. Februar 2012… Noch sechzig Tage, dann ist all das kaputt … Er versuchte sich die Konsequenzen dessen vorzustellen, was er da wider Willen dachte. Er versuchte zu fühlen, was das bedeutete – für sein Land, für die Menschheit, für die Stadt, in der er lebte, für Berlin, und für sein eigenes unbedeutendes Leben. Er fühlte nichts; da formte sich keine Vorstellung in seinem Hirn, die ihm die Wirklichkeit einer Welt nach dem Kometeneinschlag auch nur ahnungsweise fassbar gemacht hätte. Nur die Fernsehbilder

der Computeranimation, die er mit seiner Crew im Zwiebelfisch gesehen hatte, fielen ihm ein. Aber was hatten Bilder, die man sorglos mit einem Bierglas in der Hand betrachten konnte, mit dem eigenen Leben zu tun? Und die Dinosaurier fielen ihm ein … Matt ließ das Frühstück stehen, packte und zahlte. Er fuhr Richtung Houston. Eine bren­ nende Sehnsucht überfiel ihn unterwegs. Sehnsucht nach Liz, Sehnsucht nach seinen Eltern, Sehnsucht nach Menschen, die ihm nahe standen, die ihm das Gefühl gaben, doch nicht ganz bedeutungslos zu sein. Burt … sein bester Freund in Brooklyn. An der nächsten Tankstelle hielt er an und wählte Burts Num­ mer. Lea war am Apparat. »Ich will euch sehen«, sagte Matt. Mehr nicht. »Komm wann du willst – für dich ist immer Platz bei uns.« In Houston gab Matt den Mietwagen ab. Er er­ wischte einen Flug der Southern Air Lines am späten Nachmittag. Es war längst dunkel, als er auf dem LaGuardia Airport landete. Mit ei­ nem Taxi fuhr er nach Brooklyn Heights in die Cranberry Street. Burt selbst öffnete ihm die Tür. Sie umarmten sich stumm. Am Absatz der Treppe zum Ober­

geschoss stand Lea – sie wirkte blass, und Matt fielen die dunklen Ränder unter ihren Augen auf; traurige Augen, trauriger als er sie in Er­ innerung hatte. »Onkel Matt, Onkel Matt …« Die Kinder in Nachthemd und Schlafanzug polterten die Treppe herunter, Dennis voran. Er sprang Matt in die Arme, der fing ihn auf. »Hey, bist du groß geworden!«. Auch das Mädchen nahm er hoch. Er erkannte Patricia kaum wieder – es war zwei Jahre her, dass er Lea und Burt zuletzt in Brooklyn besucht hatte. Patricia hatte Leas große Augen und ihren breiten Mund. »Wir ziehen um, Onkel Matt, noch einmal Weihnachten in unserem Haus, dann ziehen wir um.« Matt setzte sie ab. »Irgendwohin, wo uns der Komet nicht wehtun kann …« »Kommt jetzt«, sagte Lea merkwürdig schroff. »Ihr müsst ins Bett. Onkel Matt ist auch morgen noch bei uns.« Sie zog die Kinder hinter sich her die Treppe hinauf. »Gute Nacht!« Matt winkte ihnen nach. Dann wandte er sich mit fragendem Blick an Burt: »Ihr zieht um?« »Vielleicht.« Burt fasste den Arm des Freun­ des und führte ihn ins Wohnzimmer. »Lea macht dir gleich noch was zu essen. Erzähl.«

Und Matt erzählte. Von Berlin, von den tägli­ chen Demonstrationen vor dem Reichstag, von seinem Alltag auf der Luftwaffenbasis, von Ri­ verside und seinen Eltern, und zuletzt von Liz und dem Scheidungstermin. Lea kam ins Zimmer, servierte Bier und Sandwiches, setzte sich dazu. Leise sprachen sie über das, worüber alle Welt sprach: über den Kometen und die düsteren Schatten, die er vorauswarf. Burt berichtete von seinem täglichen Kampf gegen das Chaos in New York City. Und wäh­ rend er von Straßenschlachten, Hausbesetzun­ gen und Bombenanschlägen sprach, fiel Matt auf, dass sein Freund älter geworden war. Fal­ ten, die ihm vor zwei Jahren noch nicht aufge­ fallen waren, durchzogen sein Gesicht. Vor al­ lem zwei tiefe Furchen, die sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln herunter­ zogen. Auch ein paar graue Fäden entdeckte er im dichten blauschwarzen Haar seines Freun­ des. »Und in diesen unsicheren Zeiten wollt ihr euer Haus aufgeben?«, fragte Matt. »Wohin wollt ihr denn umziehen?« Burt und Lea wechselten verstohlene Blicke. »Ich habe es dir vor zwei Monaten schon am Telefon angedeutet, erinnerst du dich?«

Burt stand auf. »Komm mit, Matt, ich zeig dir was.« Matt und Lea folgten Burt aus dem Wohnzim­ mer. Über die Küche gelangten sie durch eine Doppeltür in die Garage. Kein Wagen stand darin. Und trotzdem war kaum noch Platz in ihr. Bis an die Decke stapelten sich die Kisten. Umzugskartons. »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Matt zö­ gernd. »Trockennahrung, Milchpulver, Konserven­ dosen, robuste Kleidung, Medikamente, De­ cken …« Burt versenkte die Hände in die Ho­ sentaschen. Er stellte sich vor den Kisten auf und musterte Matt mit einem rätselhaften Blick, den dieser nicht deuten konnte. »Wollt ihr euch in den Orbit schießen lassen oder was soll das bedeuten?« »Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, Matt«, sagte Burt. »Die Stadtregierung lässt Bunker bauen. Un­ ter dem Metropolitan Museum, unter der Co­ lumbia University und im Grand Central Ter­ minal. Ich bekomme fünf Plätze.« Matt runzelte die Stirn. »Ihr seid zu viert.« Unwillkürlich flog sein Blick zu Leas Bauch. »Erwartet ihr ein Kind?«

»Nein, Matt«, sagte Burt. »Du bist mein bes­ ter Freund. Ich hab an dich gedacht. Der fünfte Platz ist für dich …« Perrine, Florida, 10. Dezember 2011 Die Kirche war förmlich eingekesselt von Fahrzeugen – große Autos zumeist: Nobelka­ rossen von Chrysler, Cadillac, Volvo, Benz und so weiter. Auch zwei Ferraris registrierte Ar­ cher Floyd. Die kleine Kirche wirkte irgendwie fehl am Platz unter all dem Blech. Eine Baptis­ tenkirche – weiß getüncht, ziemlich flach, mit einem Pagodendach und einem klotzigen nied­ rigen Turm. Die Menschen strömten im Eingangsbereich zusammen. Zweihundertfünfzig, dreihundert Leute schätzte Floyd. Verwandtschaft von Vivian Reynolds zum kleinen Teil und jede Menge Leute vom Film: Schauspieler und Schauspie­ lerinnen, Kameraleute, Drehbuchautoren und der eine oder andere Produzent und Regis­ seur; Saxon zum Beispiel. Eine Menschentrau­ be umgab ihn, als wäre er der Bräutigam. Damals, vor über drei Monaten in Harbour View, hatte Floyd ihn nur von weitem gesehen. Als er am Strand die Wikinger wohl zehnmal landen und über isländische Frauen herfallen

ließ, und am Abend, als die Szene endlich im Kasten war und er Sue vor versammelter Crew zur Schnecke machte. Jetzt, da Floyd hinter Marc Christopher und Vivian her und Seite an Seite mit Sue in Rich­ tung Kirchenportal schlenderte, konnte er den Regisseur etwas gründlicher in Augenschein nehmen. Ein Zwerg mit krummen Beinen und hohlwangigem Gesicht. Vielleicht fünfzig, viel­ leicht sechzig Jahre alt. Hastig führte er seine schwarze Zigarettenspitze zum Mund, so oft, als hätte ihm eine überirdische Instanz die Pflicht auferlegt, mindestens hundert Zigaret­ ten am Tag zu rauchen und er Sorge, dieser Pflicht nicht nachkommen zu können. Er trug einen breitkrempigen Strohhut – um seine Glatze zu verbergen, vermutete Floyd – und einen weißen Anzug, dessen Jackett nicht weit genug war, um die Wölbung seines Bau­ ches zu vertuschen. Floyd stellte sich nicht die Frage, was Sue an dieser Karikatur von Mann anziehend fand. Sie hatte es ja damals unter dem Eindruck der verglühenden Sternschnuppen selbst heraus­ gegackert: Ich will einen Millionär heiraten … Niemals würde Floyd diese Szene vergessen. Vivians Wunsch nach einer Hauptrolle nicht, Marc

Christophers Begehren nach schweißfreien Fü­ ßen nicht, und schon gar nicht Sues Gekicher in jenem denkwürdigen Augenblick, als sie den »Pickel« auf Saturns leuchtender Scheibe ent­ deckte. Wir Idioten, dachte Floyd, Bertram müsste er heißen, oder »Pickel«, oder »Kicker« – aber niemals »Christopher-Floyd«. Der Lohn der Eitelkeit … Sie hatte sich übrigens verändert, Sue Bert­ ram, sie kicherte nicht mehr bei jeder Äuße­ rung, die sie für einen Witz hielt, plapperte nicht mehr wie ein vollgequatschter Anrufbe­ antworter. Der Komet – er verändert uns alle … Floyd ärgerte sich, weil er damals im Hotel in Harbour View die Gelegenheit, sie zu vögeln, ungenutzt hatte verstreichen lassen. Das un­ terschied ihn eben von seinem Freund – Chri­ stopher griff zu, Floyd grübelte über Theorien des Zugreifens. Aber gut – die Zeit war zwar knapp, doch den einen oder anderen Fehler würde man eventuell noch wettmachen kön­ nen. Jemand schrie: »Hoch sollen sie leben!« Je­ mand ließ einen Sektkorken knallen, und die Menschentraube um Saxon löste sich auf, um sich um das Brautpaar zu sammeln. Von allen

Seiten klatschten Hände auf Christophers Schultern – Hände von Leuten, die er nie zuvor gesehen hatte. Vivian wurde tausendmal ge­ küsst, ein schräger Chor stimmte einen UraltSong an – »All you need is love« – und zwei, drei Sektflaschen kreisten. Der Komet schien selbst die Southern Baptists verändert zu ha­ ben. Zumindest ihre Sitten. Plaudernde, lachende Menschen geleiteten das Brautpaar zum Kirchenportal, vor dem Tross rückwärts gehend zwei Männer mit Vi­ deokameras. Fotos wurden geschossen. Floyd stellte sich Vivian und Marc Christopher über einem Fotoalbum gebeugt vor. In welcher Zu­ kunft wollt ihr euch an diesen Tag zurückerin­ nern?, fragte er sich. Sue hakte sich bei ihm ein und grüßte nach al­ len Seiten, Küsschen hier, Küsschen da, zwei Küsschen für Saxon. Brautvater und Braut­ mutter umarmten Tochter und Schwiegersohn und übernahmen die Führung des Trosses. Die Verwandtschaft reihte sich in den Brautzug – Vivians Geschwister, Vivians Schwager und Schwägerinnen, Vivians Nichten und Neffen, Vivians Freunde und Freundinnen. Marc Chri­ stopher drehte sich nach seinem Freund um. Floyd nickte dem Kahlkopf zu und lächelte, so gut er eben lächeln konnte. Von Christophers

Seite gab es heute keinen einzigen Freund, kei­ nen einzigen Verwandten unter der Festgesell­ schaft. Archer Floyd allein hatte die Flugreise über den Atlantik angetreten. Sie näherten sich dem Portal. Ein Reflex der Mittagssonne ließ das Kreuz auf dem Kirch­ turm aufleuchten. Die Sonne schien aus einem wolkenlosen Himmel – in Schottland regnete es in Strömen. Das wusste Floyd aus dem Telefongespräch mit seiner Frau gleich nach dem Frühstück. Esther rief jeden Tag an. Floyd kniff die Augen zusammen und spähte zum Kirchturm hinauf. Statt eines Lichtrefle­ xes auf dem Messingkreuz sah er den Kome­ ten. Da stand kein Komet, natürlich nicht, es war ja heller Tag und die Sonne schien. Der Komet brannte auf seinen Netzhäuten und in seinem Hirn. Floyd hatte sein Meade-Teleskop mit ins Flugzeug verfrachtet. Jede Nacht beob­ achtete er das verfluchte Ding, manchmal bis in die Morgenstunden hinein. Das verfluchte Ding, das ihn unsterblich gemacht hatte … Sie betraten die Kirche. Helles Kiefernge­ stühl, weißgetünchte Wände, auch der Altar ein schlichter Tisch aus Kiefernholz, kein ein­ ziges Bild an der Wand. Das aufgekratzte Film­ volk verstummte, die Sektflaschen schienen

sich in Luft aufgelöst zu haben. Man rutschte auf den Kirchenbänken zusammen; ein paar Dutzend Leute mussten mit Stehplätzen Vor­ lieb nehmen. Vier Stühle standen vor dem Predigerpult. Vi­ vian und Marc Christopher nahmen auf den beiden mittleren Platz, Sue setzte sich neben Vivian, Floyd neben seinen Freund. Eine jäm­ merliche Orgel stimmte eine Melodie an und überraschend kraftvoller Gesang erfüllte plötz­ lich den kleinen Raum – »Amazing Grace«, ge­ radezu inbrünstig vorgetragen. »… I once was blind, but now I see …« Floyd glaubte die Ver­ zweiflung aus der Inbrunst heraushören zu können. Es gab keine großartige Liturgie. Eine Begrü­ ßung, ein Gebet, eine Lesung, das war es schon. Dafür hielt der Reverend – ein Afro­ amerikaner mit für seine Jugend unverhältnis­ mäßig ernsten Gesichtszügen – eine ausführli­ che Predigt. Über einen Spruch aus der Bergpredigt des Zimmermanns aus Nazareth: Sorget nicht für morgen, euer himmlischer Vater weiß, was ihr braucht … Na also, dachte Floyd, entspann dich. Der Gottesmann sprach natürlich von dem verfluchten Kometen und besaß sogar die Taktlosigkeit zu erwähnen, dass die Entdecker

desselben »hier unter uns sitzen, direkt vor dem Predigerpult«. Floyd rutschte unruhig auf seinem Stuhl – Kiefernholz, wie gesagt – hin und her. Der Mann lobte den mutigen Schritt einer Eheschließung angesichts des drohenden Untergangs. Er zitierte einen deutschen Refor­ mator, der behauptet hatte, er würde an dem gleichen Tag, an dem er erführe, dass tags dar­ auf die Welt unterginge, einen Apfelbaum pflanzen. Floyd hatte Luther gelesen. Er hatte sich nicht allzu viel gemerkt, nur dass der Mann zu wenig geschlafen, zu viel gearbeitet und gern zu viel Bier getrunken hatte. Auf dem Kiefernholztischchen neben dem Predigerpult flackerten zwei Kerzenflammen. Sie verschwammen vor Floyds Augen; er sah den Kometen und wusste, dass er die Stunden nach der Hochzeitsparty vor dem Teleskop ver­ bringen würde. Es sei eine Zeit, in der der Glaube auf dem Prüfstand stehe, sagte der Reverend, und wohl dem, der sich in solch einer Zeit keine Sorgen mache außer der, ob sein Herz wirklich dem Heiland gehöre … Floyd beobachtete Christopher, Vivian und Sue aus den Augenwinkeln. Christopher be­ trachtete Vivians Knie – sie trug ein sehr kurz­

es fliederfarbenes Kleid. Vivian hatte Tränen in den Augen. Und Sue sperrte Augen und Mund auf und lauschte dem Prediger wie einem, der ihr die Zukunft vorhersagte. Zukunft …, dachte Floyd, das Wort hatte ein­ mal eine Bedeutung … Er fixierte die Kerzen­ flammen; sein Komet stand über dem schmucklosen Altar. Floyds Rechte fuhr in die Tasche seiner Anzugjacke und schloss sich um eine Stechampulle. Seit Wochen trug er sie mit sich herum. Vierhundertsechzig Einheiten In­ sulin. Spritze und Kanüle steckten in der In­ nentasche seines Jacketts. Dann kam, was kommen musste – nach ei­ nem weiteren Lied und einem Gebet bedeutete der Reverend Gemeinde, Brautpaar und Trau­ zeugen aufzustehen. »Willst du, Vivian Reynolds, Marc Christopher zum Manne neh­ men …«, und so weiter, »… willst du durch gute und durch schlechte Tage zu ihm halten, bis der Tod euch scheidet …?« Dann Vivians »Ja«, gefolgt von den gleichen Fragen an Christo­ pher und wieder »Ja«, dann Ringtausch, Se­ gen, KUSS … Vor dem Kirchenportal mischten sich kurz darauf ein Regen von Blumenblüten, Küsse, Hochrufe und das Floppen von Sektkorken.

Ab in die Luxuslimousinen. Der Konvoi rollte Richtung Miami, zu einem Restaurant in der Innenstadt. Dort gab es eine Band, die es ver­ stand die Leute zum Tanzen zu animieren, und ein kaltes Büffet: Truthahn, Räucherlachs, Meeresfrüchte, Salate ohne Ende, Desserts und so weiter. Die Festgesellschaft bewaffnete sich mit Sektkelchen und fiel über das kalte Büffet her. Floyd fragte sich, ob es Überleben­ de geben würde und was sie essen würden nach dem 8. Februar … Er tanzte mit Sue – auch mit anderen Frauen, aber immer wieder mit Sue. Mangelnde Erfah­ rung hin, mangelnde Erfahrung her – Floyd beschloss das Versäumte nachzuholen und sie doch noch zu vögeln. Wenigstens einmal im Leben wollte er seinen Schwanz in eine andere Frau als Esther stecken. Sues Körper fühlte sich seltsam steif an die­ sen Abend. Nicht das geringste Zeichen von Verführungsabsichten konnte Floyd in ihrem Verhalten entdecken – alles war anders als da­ mals auf der Hotelterrasse. Marc Christopher strahlte. Vermutlich emp­ fand er das, was alle Welt »Glück« nannte. Floyd beneidete ihn. Und bedauerte ihn gleich­ zeitig.

Irgendwann, kurz vor Mitternacht, trat ein Mann in rotem Livree an Floyd heran – einer der Kellner des Restaurants. Er sagte: »Telefon, Mister Floyd, im Büro des Mana­ gers.« Wieso kennt er mich?, dachte Floyd. Ver­ fluchter Komet … Hinter dem Kellner her ging er ins Büro des Managers. Er wusste, dass es nur Esther sein konnte. Er stellte sich vor, wie sie schlaflos im Bett lag, in Edinburgh auf der anderen Seite des Atlantiks, und seine obszö­ nen Gedanken las. Auf dem Schreibtisch des Managers lag der Hörer neben einem Telefon. Floyd nahm in auf und sagte: »Hi, Darling, wie gehts dir?« Eine Frauenstimme am anderen Ende flötete: »Bestens.« Es war nicht Esther. Es war eine Frau, deren Namen Floyd nicht verstand, und ihre Stimme sagte: »Hätten Sie nicht Lust, in Timmys MoonTalk aufzutreten?« Floyd lehnte ab. »Mein Bedarf ist gedeckt.« Die Frau aber ließ nicht locker. Sie nannte eine Gage – einen Dollarbetrag, für den Floyd ein Vierteljahr lang Logarithmen, thermodynami­ sche Hauptsätze und Formeln zur Errechnung elektrischer Widerstände an die Tafel hätte kritzeln müssen. Der Gedanke kam ihm, dass es sich eventuell nicht mehr lohnen würde,

noch einmal nach Edinburgh zurückzukehren. Seine Rechte griff nach der Ampulle in seiner Jackentasche. Die Insulinampulle fühlte sich warm an, weil Floyd sich in den Tanzpausen ständig an ihr festgehalten hatte. Er sagte: »Warum eigentlich nicht?« New York City, Brooklyn Heights, 12. Dezem­ ber 2011 Matt hatte seinen Freund in dessen Büro im Municipal Building abgeholt. Vorangegangen war ein stundenlanger Streifzug durch die Stadt. In Uniform – Burt hatte ihm das emp­ fohlen. Der Big Apple war nicht mehr die Stadt, in der Matt einst vier Semester Deutsch und Französisch studiert hatte, bevor er nach West Point auf die Militärakademie ging. Auf Schritt und Tritt sah er Marines, Nationalgardisten und Cops. An jeder großen Kreuzung Militär­ fahrzeuge, am Washington Square und am Grand Central Terminal sogar Panzer. Militär­ kontrollen auch an den Zufahrten zum Hol­ land Tunnel und zum Brooklyn Batterie Tun­ nel. Das gleiche Bild an der Brooklyn Bridge und der Manhattan Bridge. Fast jedes Fahrzeug,

das aus der Stadt hinaus oder in die Stadt her­ ein wollte, wurde kontrolliert. Am Broadway und in der 5th Avenue war je­ des zweite Geschäft geschlossen. Das Geheule von Sirenen erschien Matt noch allgegenwärti­ ger zu sein als in den Jahren, in denen er in Manhattan gelebt hatte. Er sah brennende Häuser und Löschzüge davor, er sah abge­ sperrte Straßen, in denen sich Sicherheitskräf­ te und aufgebrachte Menschenmassen Stra­ ßenschlachten lieferten. Und er sah unzählige Menschen in Handschellen. Vier- oder fünfmal wurde er Zeuge, wie Nationalgardisten oder Cops Dutzende von Männern und Frauen in Militärfahrzeuge verfrachteten. Meist junge Menschen und meist Afroamerikaner oder La­ tinos. Jetzt standen sechs Bierdosen auf dem Wohn­ zimmertisch, vier leere, zwei halbvolle. Lea und die Kinder waren zu irgendeiner Weih­ nachtsfeier gegangen. Burt und Matt schwelg­ ten in Jugenderinnerungen. Und hatten das Chaos um sie herum seit der zweiten Dose Bier ausgeblendet: die Metropole im Ausnahmezu­ stand, die Welt in den Trümmern staatlicher Ordnung, den Kometen. Es tat gut, all das für kurze Zeit verdrängen zu können. Es tat gut, sich in Bildern schöner Er­

innerungen treiben zu lassen. Bilder aus Zei­ ten, in denen das Lachen noch leicht aus der Brust sprudelte, aus Zeiten, in denen man noch eine Zukunft hatte. »Erinnerst du dich noch an Laura Petersen?«, fragte Burt. »Wie könnt ich die vergessen?«, lachte Matt. »Ich war ja schließlich lange genug in sie ver­ liebt. Aber sie ging mit dir!« Matt deutete auf seinen Freund und mimte den Zornigen. »Alle hast du sie gekriegt, du Hund! Alle die du woll­ test!« »Jetzt übertreibst du aber!« Burt drohte mit dem Zeigefinger. »Luisa Mellendes habe ich nicht gekriegt.« »Luisa Mellendes? Die war doch doppelt so schwer wie du und stank fürchterlich aus dem Mund.« »Aber sie hatte als Erste in unserer Klasse den Führerschein und kam jeden Tag mit dem Auto ihres Vaters in die Schule.« »Deswegen warst du scharf auf sie? Hab ich nicht gesagt, dass du ein Hund bist? Wahr­ scheinlich hat sie dich durchschaut.« »Falsch! Ganz falsch!«, lachte Burt. »Ihr Va­ ter hat mich mit einem Joint im Park gesehen und ihr den Umgang mit mir verboten.« Sie stießen an und tranken aus den Dosen. »Und

was die schöne Laura betrifft«, fuhr Burt fort, »sie hat mich verlassen, weil sie dich wollte!« »Ich weiß«, grinste Matt. »O ja – ich weiß noch, wie ich es genossen hab, als sie eines Ta­ ges auftauchte und mir eine ziemlich unver­ schlüsselte Liebeserklärung gemacht hat.« »Und du hast sie abblitzen lassen. Die ganze Klasse hat davon gesprochen und keiner hat es verstanden – ich auch nicht.« »Der Preis war mir zu hoch.« Matt lächelte wehmütig. »Es ist mir verteufelt schwer gefal­ len, aber deine Freundschaft war mir wichti­ ger. Ich wollte sie nicht aufs Spiel setzen.« »Meinetwegen hast du Laura abblitzen las­ sen?«, staunte Burt. »Aber ich hätte es getra­ gen wie ein Mann!« »Hättest du nicht! Du warst schon immer ein Sensibelchen …« »Hätte ich wohl …!« »Das Risiko war mir einfach zu hoch«, sagte Matt. »Was bist du für ein nobler Bursche!« In ei­ ner pathetischen Geste breitete Burt beide Arme aus. »Was habe ich für einen einzigarti­ gen Freund! Lässt sich meinetwegen das sü­ ßeste Mädchen von Riverside durch die Lap­ pen gehen! Komm an meine Brust!« Er stand

auf, beugte sich über Matt und umarmte ihn. Sie lachten. »Und darauf genehmigen wir uns noch ein viertes Bier.« Er holte zwei frische Dosen aus dem Kühl­ schrank, die Bügel sprangen knallend auf, sie stießen an und tranken. Und weiter gings mit der Reise durch die Vergangenheit. Gegen sie­ ben Uhr standen acht leere und zwei volle Bier­ dosen auf dem Tisch. Burt griff zur Fernbedie­ nung und schaltete das Fernsehgerät ein. »Muss das sein?«, brummte Matt. Eine war­ me Nebelbank lag auf seinem Hirn, und für einen Augenblick sah er zwei schwarzgekleide­ te Nachrichtensprecherinnen auf der Matt­ scheibe statt einer. »Nur mal reinschauen«, sagte Burt mit nicht mehr hundertprozentig beweglicher Zunge. »Aus beruflichen Gründen – ich will morgen keine Überraschung erleben …« Am unteren Bildrand war ein schmaler hell­ blauer Streifen eingeblendet, auf dessen rech­ ter Seite ein Datum und eine Uhrzeit: February 8th, 2012, 10:42 Eastern Time. Und links stand zu lesen: »58 days, 16 h, 41 min., 12 sec.« Die letzte Zif­ fer verringerte sich mit jeder verstreichenden Sekunde.

»Idioten«, knurrte Matt. Wie weggeblasen waren alle nostalgischen Gefühle; schmerzhaft prallte er auf dem Boden der Wirklichkeit auf. Sie erfuhren, dass die Kometenbahn sich stabi­ lisiert hatte und man nun von einer Kollision am 8. Februar um 10:42 Uhr Ostküstenzeit ausging. Zentralasien galt als wahrscheinliches Einschlagsgebiet. Bewe­ gungslos saßen sie in den Sesseln, die Bierdo­ sen in den Händen. »Die Apokalypse ist jetzt amtlich, alter Freund«, sagte Burt leise und sehr heiser. »Jetzt können wir uns wenigstens diese unsin­ nige, verzweifelte Hoffnung sparen.« Mit der linken Faust klopfte er sich gegen das Brust­ bein. »Wir werden weiter hoffen«, krächzte Matt. »Auf irgendwas, und sei es noch so unsinnig. Vielleicht darauf, dass wir zu der Promille ge­ hören werden, die den Crash überlebt.« »Berauschende Hoffnung.« Burt griff nach seiner Bierdose und nahm einen tiefen Schluck. »Auf einem verbrannten Trümmer­ haufen etwas Essbares aus der Asche kratzen …« Teilnahmslos starrten sie auf die Bilder, die über die Mattscheibe flimmerten: Massenhin­ richtungen in Rio de Janeiro, wo die Slumbe­

wohner die Regierung gestürzt hatten. Flug­ zeugflotten auf dem französischen Flughafen Charles de Gaulle, wo wie auf fast allen euro­ päischen Flughäfen ab morgen Luftbrücken eingerichtet werden sollten, um Fluchtwillige in die Vereinigten Staaten und vor allem nach Kanada auszufliegen. Autokolonnen auf osteu­ ropäischen Autobahnen, wo sich Hunderte von Kilometern lange Staus Richtung Westen und Nordwesten wälzten. »Hast du es dir überlegt, Matt?« Sehr ernst klang Burts Stimme nun. »Was?« »Der Bunkerplatz. Wir sollten wenigstens in den ersten Monaten danach darauf verzichten, etwas Essbares aus der Asche zu kratzen.« Matt antwortete ihm nicht. »Komm mit uns, Matt. Du bist Offizier der amerikanischen Luft­ waffe. Du hast ein Recht auf einen Bunker­ platz. Ich hab keine klare Vorstellung, was ge­ nau auf uns zukommt. Ich habe viele Computeranimationen im Fernsehen gesehen, ich habe Hunderte von Zeitungsartikeln über einen Kometeneinschlag gelesen, aber was wirklich geschehen wird, übersteigt meine Vorstellungskraft. Aber eines kann ich mir vorstellen: dass ich leben werde. Dass wir le­ ben werden. Was haben wir nicht alles zusam­

men gemeistert, Matt. Wir werden zusammen in diesen Bunker gehen, und wenn hier alles in Trümmern liegt, gehören wir zur ersten Gene­ ration, die anpackt und neu aufbaut. Ist das kein lohnendes Ziel?« Matt nickte langsam. »O ja«, krächzte er. »Ein lohnendes Ziel …« Auf dem Fernsehschirm sah man Soldaten mit automatischen Waffen von Deckung zu De­ ckung springen. Sie hechteten hinter parkende Wagen, schossen von Containerdächern herab, kauerten sich hinter Leitplanken von Autobah­ nen. Man sah Granateneinschläge zwischen den Ringhallen eines gewaltigen runden Ge­ bäudekomplexes, aus dem ein runder Turm ragte. Die Terrorgruppe »Lokis Krieger« hat­ ten das schwedische Messezentrum in Malmö besetzt und verteidigte es zäh gegen die anstür­ mende Infanterie der schwedischen Armee. Keines der Bilder berührte Matt sonderlich; eine bleierne Lethargie auf seinem Gemüt. »Du gehst also mit, Matt?« Etwas prallte hart von außen gegen das Haus. Burt zuckte zusammen. Und wieder schlug et­ was gegen die Hauswand. Burt und Matt sprangen auf. Sie liefen zum Fenster und späh­ ten hinaus dunkle Schatten bewegten sich vor

der Garteneinfahrt hinter dem gusseisernen Rolltor. »Ich wusste es«, zischte Burt. »Irgendwann muss das Chaos auch nach Brooklyn Heights kommen …« Er zog eine Tür in der Schrank­ wand auf und nahm zwei Waffen heraus, zwei Armeerevolver. Einen warf er Matt zu. Dann lief er zum Telefon und wählte den Notruf. »Mein Name ist Burt Cassidy«, sagte er atem­ los. »Ich bin der stellvertretende Leiter der New Yorker Baubehörde. Mein Haus wird überfallen …« Er gab die Adresse durch. Sie eilten zur Haustür. Burt zog sie einen Spalt auf. Männerstimmen wurden laut. »Komm raus, Cassidy!«, »Zeig dich, Motherfu­ cker!«, »Wir wollen mit dir reden, komm raus …«, »Keiner schlägt dich …«, »Der Scheißkerl hat die Hosen voll …« Dazwischen raues Ge­ lächter. »Du bleibst hier!«, zischte Matt. »Ich geh hin und sprech mit ihnen …« »Bist du wahnsinnig?« Burts Gesichtshaut war aschfahl. »Wir warten bis die Polizei kommt …« Ein Lichtkegel schob sich die Cranberry Street entlang und näherte sich dem Haus. Der Wagen verlangsamte seine Fahrt. Im Licht der Scheinwerfer erkannte Matt dreißig, vierzig in

Leder und lange Trenchcoats gekleidete Ge­ stalten vor dem Haus, die meisten Afroameri­ kaner. Der Wagen stoppte; sie umringten ihn. »Jesus …«, stöhnte Burt. »Lea und die Kinder …« Wagentüren wurden geöffnet. Eine Kinder­ stimme weinte laut und eine Frauenstimme protestierte energisch. Matt erkannte Leas Stimme. Burt riss die Tür auf und stürmte aus dem Haus, Matt hinterher. Sie schleppten Lea und die Kinder vor das Tor. »Willst du jetzt mit uns reden, Cassidy?« Die Außenbeleuchtung des Hauses flammte auf. Ein großer Afroamerikaner in einem schwarzen Fellmantel stand vor dem Tor. Ein schwarzes, im Nacken zusammengeknotetes Tuch bedeckte seinen Schädel. Ein Kreolenring prangte in seinem rechten Ohrläppchen. Mit beiden Fäusten umklammerte er das Ge­ stänge des Rolltors. Matt erkannte einen schwarzen Siegelring mit einen rotem Symbol an seiner Linken. »Roots!«, brüllte Burt. »Was soll das, zum Teufel!« Blinkende Rotlichter tauchten zwischen den Stämmen der Platanen auf der nächtlichen Cranberry Street auf, ein Streifenwagen. Matt wunderte sich, weil er ohne Sirene zum Einsatz fuhr. Er schien es auch nicht beson­

ders eilig zu haben. Hinter Leas Wagen stoppte er. Fahrer- und Beifahrertür gingen auf, zwei Uniformierte stiegen aus, Afroamerikaner. Sie setzten sich ihre Schirmmützen auf die Köpfe und schlenderten seelenruhig auf die Men­ schenansammlung vor Burt Cassidys Torein­ fahrt zu. »Gentlemen?« Einer der beiden Uni­ formierten tippte sich an den Mützenschirm. »Doch nicht etwa ein Problem?« »Die Burschen haben mein Haus mit Steinen beworfen!« Burts Stimme vibrierte vor Erre­ gung. »Sie halten meine Frau und meine Kin­ der fest!« Der Mann, den Burt mit »Roots« angespro­ chen hatte, wandte sich an den Cop. Sie tu­ schelten; Burt und Matt konnten kein Wort verstehen. Patricia und Dennis klammerten sich an Lea fest. Die blickte ängstlich durch das Gitter des Rolltores hindurch zu Burt und Matt. Burt betätigte die Fernsteuerung des To­ res. Rasselnd schob es sich auf. »Die Gentlemen schwören, sie hätten keine Steine gegen Ihr Haus geworfen!« Einer der Cops drängte sich durch die Menge. »Sie wollen bloß ein paar Worte mit Ihnen re­ den. Und Ihre Familie kann selbstverständlich ungehindert aufs Grundstück fahren.«

Die Kinder rannten zu ihrem Vater und ver­ steckten sich hinter seinem Rücken. Lea schritt hocherhobenen Hauptes zurück zu ih­ rem Wagen und steuerte ihn in die Gartenein­ fahrt hinein. »Ich will mit diesen Leuten nicht reden!«, rief Burt. »Das sollten Sie aber, Mister.« Matt hörte den drohenden Unterton in der Stimme des Cops, und plötzlich begriff er. Der Beamte drehte sich um und winkte den Mann namens Roots herbei. »Sagt was ihr zu sagen habt.« Die abgerissenen Gestalten machten ihrem Anführer Platz. Roots baute sich vor Burt auf. »Hör gut zu, Cassidy – du sitzt auf einem Pul­ verfass, falls du es noch nicht gemerkt hast. Wir haben mehr als nur eine Ahnung von dem, was ihr im Grand Central Terminal, unter dem Metropolitan Museum und in der Columbia University treibt. Wir dachten, es könnte die zurzeit etwas nervösen Manhatties vielleicht beruhigen, wenn wir ihnen am nächsten Mon­ tag in LaHayes Talk-Show erzählen, was wir wissen …« Aus den Augenwinkeln beobachtete Matt sei­ nen Freund. Burt stand wie festgewachsen, die Arme hingen schlaff an seinem Körper herab,

sein Mund stand offen und ein Ausdruck hilflo­ ser Verblüffung lag mit einem Mal auf seinem Gesicht. »… wir dachten, es wäre fair, dir das vorher anzukündigen, Cassidy«, sagte Roots. »Wenn du dich traust, lade dich doch auch bei LaHaye ein. Der perverse Spinner ist froh um jeden Verrückten, der in seiner Show das Maul auf­ macht. Du könntest vor laufender Kamera und vor den Augen Amerikas sagen, dass wir gott­ verdammte Lügner sind. Falls du Beweise da­ für liefern kannst …« Manhattan, 16. Dezember 2011 »Alles kaputt.« Herbert Fuchs stützte sich mit der Rechten gegen die runde Wand. Mit der Linken wies er auf das Hochhausgebirge auf der anderen Straßenseite der 5th Avenue und den südlichen Teil des Central Parks. »Das geht alles kaputt, kapierst du das, Schoko?« Er musste lachen und schwankte dabei. Ein Rülpser entfuhr ihm. »Tschuldigung, ist sonst nicht meine Art …« Er sprach langsam, machte eine Pause nach fast jedem Wort, als musste er sorgfältig zie­ len, bevor seine Zunge es in das kreisrunde Turmzimmer hinein spuckte. Und das musste er auch – sorgfältig zielen –, denn viel zu viel

Sekt und viel zu viel Marihuana hatten sein Hirn in einen klebrigen Morast verwandelt. Nur träge und verformt entstiegen seine Ge­ danken und Worte diesem Morast. »Gesundheit und Jahrzehnte ihres Lebens ha­ ben sie geopfert, um diesen Kontinent und die­ se Insel zu entdecken. Kriege haben sie geführt gegen Briten, Franzosen und Indianer und ge­ gen sich selbst, bis sie diese bombastischen Häuser aus dem Boden stampfen konnten, bis sie von hier aus die Welt regierten. Und nun al­ les für die Katz! Hey Schoko, kapierst du das?« Fünfzehn Stockwerke unter ihm wälzte sich die Blechlawine der abendlichen Rushhour nach Norden hinauf und nach Süden hinunter. Vor dem Südeingang des Central Parks zwi­ schen den Siegessäulen und dem monumenta­ len Torbogen der Grand Army Plaza standen M-2 Panzer und Armeefahrzeuge. Der Aus­ schnitt des Central Parks, den Herbert Fuchs von seinem Turmzimmer-Fenster aus überbli­ cken konnte, war von Zelten übersät. Plane an Plane standen sie am Teichufer und am Wald­ rand. Eines der vielen Flüchtlingslager in New York City. Herbert hatte sich im Plaza Hotel eingemie­ tet. Im fünfzehnten Stockwerk bewohnte er eine Drei-Zimmer-Suite mit Turmzimmer.

Er hatte schon immer davon geträumt, ein­ mal in einem Schloss zu wohnen. Und das Pla­ za sah aus wie ein zu hoch geratenes französi­ sches Renaissance-Schloss. Er lachte meckernd, als er die vielen Zelte im Central Park betrachtete. »Schau sie dir an, Schoko – haben alles aufgegeben in der Alten Welt, um ihr bisschen Leben zu retten. Wollen nicht glauben, dass so ein Komet die ganze Welt kaputtschlägt, die ganze, Schoko, die gan­ ze – selbst das stolze New York City.« Er ki­ cherte, bis ihm die Tränen kamen. Er stieß sich von der Wand ab, hielt sich den Bauch vor La­ chen und schwankte zum Bett. Er war nackt, genau wie das Mädchen, das darauf lag. Äch­ zend ließ er sich zu ihr sinken und nahm dem Mädchen den Joint aus der Hand. Er hatte die Frau sorgfältig ausgesucht. Die Agentur hatte ihm drei Kataloge mit Fotos vor­ gelegt. Sie durfte auf keinen Fall so aussehen, dass sie ihn an Julia erinnerte. Und das tat die Frau, die er Schoko nannte, auch nicht. Sie hieß Miriam Clayborn und war nicht älter als achtzehn. Nur eine kurze krause Matte bedeck­ te ihren Schädel, und sie war schwärzer als die Zellentür, die Herbert zehn Jahre lang angest­ arrt hatte.

Er zog an dem Joint und saugte den Marihua­ na-Rauch in seine Lungen. »Warum kommst du dann hierher, wenn du das so genau weißt?«, fragte das Mädchen spöttisch. »Ein Jugendtraum«, lallte Herbert, »New York City, ein Jugendtraum … Du hast doch auch Träume, Schoko, oder hat der Komet sie dir schon ausgetrieben?« Er reichte ihr den Joint und ließ sich zwischen ihre spitzen Brüs­ te sinken. Wie ein gestillter Säugling lächelte er. »Ich hab gehört, die Welt geht eventuell un­ ter, und da hab ich eine Bank überfallen und mir allerhand Träume erfüllt. Und einer heißt New York City …« »Was hast du?« Mit einer Mischung aus Be­ wunderung und Furcht sah sie ihn an. »Eine Bank überfallen.« Herbert grinste. »Es ging ganz einfach …« Und er erzählte, und zwar alles. Das Mäd­ chen, das er Schoko nannte, staunte nicht schlecht. Später, nachdem er auf ihr eingeschlafen war, schob sie seinen Körper von ihrem, stand leise auf und ging ins Nebenzimmer, wo das Telefon stand. Von der Chefin des PR-Büros von CBS erfuhr sie die Nummer von Timothy LaHayes Regisseurin. Genau die wollte sie sprechen. »Ich hab hier einen Typen, der hat eine Bank

überfallen, als er hörte, dass der Komet kommt. Was zahlen Sie mir, wenn ich ihn überrede, in Ihrer Show aufzutreten …?« New York City, Brooklyn Heights, 18. Dezem­ ber 2011 Es war Sonntagnachmittag, als der Major aus Berlin anrief. Burt, Lea und die Kinder waren auf einer Geburtstagsfeier einer Freundin von Lea in Fiatbush. Ja, man feierte noch Geburts­ tage in jenen Tagen. »Ich brauche Sie, Commander«, sagte Ri­ chard Bellmann. »Die ganze Welt ist außer Rand und Band, Berlin auch. Sie machen sich keine Vorstellungen, Drax, was hier los ist. Vierundzwanzig Stunden Guerilla-Krieg, jeder gegen jeden. Die Leute stürmen die Startbah­ nen der Flughäfen, weil sie Angst haben, kei­ nen Flug nach Kanada mehr zu erwischen.« Die Stimme des Majors klang müde und er­ schöpft. »Hier auf der Basis in Köpenick sind gestern nur fünfundfünfzig Prozent der Trup­ pe zum Dienst erschienen. Die Leute melden sich nicht ab, machen sich einfach aus dem Staub, was weiß ich wohin, vermutlich zu ih­ ren Familien in die Staaten …« »Was ist mit meiner Crew?«, fragte Matt.

»Ihre Staffel ist vollständig, Commander. Sie wartet auf Sie.« Eine Pause entstand und beide schwiegen. »Ich würde Sie gern nach Brüssel schicken, Commander Drax. Der Krisenrat der NATO tagt dort fast rund um die Uhr. Man denkt über den Einsatz von Atomwaffen nach.« »Gegen den Kometen?« »So ist es. Der General hat mich nach Brüssel abkommandiert, aber ich kann hier nicht weg. Ich brauche einen fähigen Offizier, der mich in Brüssel vertritt. Wann kommen Sie zurück, Commander?« Matt dachte an den fünften Bunkerplatz. Und er dachte, dass er sein Heimatland vielleicht nie wieder sehen würde, wenn er jetzt zurück nach Berlin flog. »Ich wollte noch ein paar Sa­ chen erledigen, Sir …« »Das verstehe ich gut, Matt.« Matt konnte sich nicht erinnern, dass der Kommandeur ihn je mit Vornamen angesprochen hatte. »Ich verstehe sogar jeden, der sich aus dem Staub macht, um die letzten Wochen mit sei­ ner Familie zu verbringen. Glauben Sie mir – auch ich denke manchmal daran. Aber ich habe mich entschieden. Noch einmal, Matt, ich brauche Sie hier.«

Matthew erzählte Burt und Lea nichts von dem Anruf. Doch die Stimme seines Komman­ deurs verfolgte ihn bis in die Träume hinein. Manhattan, 19. Dezember 2011 Der Mann trug einen knöchellangen Mantel aus schwarzer Seide, übersät von unzähligen goldenen Sternchen. Seine langen Rastalocken waren feuerrot gefärbt und fielen bei jeder Verbeugung über seinen Hinterkopf nach un­ ten. Das Publikum tobte und wollte gar nicht mehr aufhören zu applaudieren, als hätte der Exot in dem schwarzen Mantel dort vorn am Rande des Podiums ein noch nie dagewesenes Zauberstückchen hingelegt oder einen brand­ neuen Song zum Besten gegeben. Doch er hatte weiter nichts getan als sich zu verbeugen und den letzten MoonTalk vor Weihnachten und im Jahre 2011 anzukündigen. Timothy LaHaye hieß der Exot. Herbert mochte solche Typen nicht. Typen, die durch einen hindurch glotz­ ten und bei denen man das Gefühl hatte, sie würden nur mit sich selbst reden, wenn sie sprachen. Endlich verebbte der Applaus, Timothy La­ Haye drehte sich um und tänzelte zu dem frei­ en Sessel zwischen Herbert und dem Afro mit dem schwarzen Kopftuch und dem Kreolen­

ring im Ohr. Sein Mantel öffnete sich und der eng anliegende Body, den er darunter trug, wurde sichtbar. Ein weißgelbes flammendes Muster auf schwarzem Grund. Herbert begriff erst jetzt, dass dieses Muster den Kometen darstellen sollte. Die weißen Schweife schlän­ gelten sich um die Beine und Hüften des Fern­ sehmoderators, flossen auf seinem Bauch in einen gelblichen Strahlenkranz zusammen, und auf der Hühnerbrust des Mannes prangte in gelber Leuchtfarbe die ellipsenförmige Spit­ ze des Kometen. LaHaye ließ sich neben Herbert in seinen Ses­ sel fallen und stellte seine Gäste vor. Herbert wusste selbst nicht genau, warum er eigentlich hier war. Schoko hatte ihm die Talk-Show schmackhaft gemacht, und Herbert hatte sich gedacht: Wie oft in einem Leben tritt man schon in einer Talk-Show auf? Im Prinzip nie. Also beschloss er auch das noch mitzunehmen. Die Dollars, die dabei heraussprangen, interes­ sierten ihn nicht. Wenn es nach seinem Konto­ stand gegangen wäre, hätte der Komet auch erst im Sommer kommen können. Der Afro links neben dem Moderator stellte sich selbst vor. »Mein Name ist Washington Roots«, sagte er. »Ich bin der Führer von Citi­

zen Power und das Oberhaupt des Wu-Tang Clans …« Der Schwarze sah ein bisschen aus wie eine Mischung aus Dschingis Khan und dem roten Korsaren. Mit einem kräftigen Schuss Martin Luther King. Seine schwarzen Augen loderten, während er sprach, und Herbert fragte sich, ob er hier wirklich bei einer witzigen Talk-Show saß oder sich womöglich in ein Schwurgericht verirrt hatte. Er war froh, nicht neben dem schwarzen Dschingis Khan zu sitzen. »Ich vertrete die Bürger unserer Stadt«, fuhr der fort, »die aus Mülltonnen leben und Ratten jagen müssen, um ihre Kinder satt zu bekom­ men. Ich bin hier, um die Minderheit in unse­ rer Stadt anzuklagen, die wie die Maden im Speck -« »Na wunderbar!«, krähte der Moderator und klatschte in die Hände. Das Publikum applau­ dierte. »Wir begrüßen den Big Boss der Armen und Entrechteten im Studio.« Er strahlte. »Nett, dass du vorbeischaust, Robin Hood!« Der Applaus legte sich rasch und der Modera­ tor wandte sich an die beiden Männer neben dem schwarzen Dschingis Khan. Ein freund­ lich lächelnder Kahlkopf und ein etwas verbis­ sen dreinschauender Mann mit dunklen Lo­ cken.

Beide Schotten. Herbert fiel aus allen Wol­ ken, als er hörte, dass er mit den Entdeckern des Kometen in einem Raum saß. »Wow!«, rief er spontan und klatschte in die Hände. Das Pu­ blikum applaudierte verhalten und die beiden Schotten warfen sich hilflose Blicke zu. »Und das ist Herbie Fox!«, krähte der Exot im Sternenmantel, während er sich an Herbert wandte. »Herbie aus Good Old Germany, du willst keine Regierung stürzen, du hast keinen Kometen entdeckt; erzähl uns mal, was du Auf­ regendes getan hast in dieser Sitcom namens Leben!« »Oh, nichts Besonderes eigentlich …« Herbert fand es plötzlich anstrengend, in einer Fern­ sehsendung aufzutreten. Er spürte förmlich die Blicke von zigmillionen Menschen. Seine feuchten Hände umklammerten die Armleh­ nen seines Sessels, das Atmen fiel ihm schwer und er musste sich räuspern, weil ihm die Stimme brach, »… ich hab ein paar Jahre lang Musik gemacht, ein paar Jahre lang Drogen ge­ schmuggelt und dafür ein paar Jahre lang im Knast gesessen. Und nun will ich mir wenigs­ tens noch ein paar Wochen die Welt anschau­ en, solange …« »Wie bescheiden!« LaHaye spreizte die Fin­ ger, legte seine gewölbte Stirn in tausend Fal­

ten und verdrehte die Augen. »So lieben wir die Deutschen, nicht wahr?« Er grinste in alle Richtungen. Herbert begriff nicht, was den Mann so entzückte. »Herbie ist zu bescheiden, um über die Sternstunde seines Lebens zu sprechen, Ladies und Gentlemen. Dann will ich es tun: Herbie wollte unserem Besucher aus dem All nicht mit leeren Taschen gegenüber­ treten, also überfiel er kurzerhand eine Bank …!« Das Studiopublikum applaudierte, und Her­ bert glaubte, alles unter seiner Haut verwan­ delte sich in Stein. Luder, dachte er, verdamm­ tes Luder … Klar, dass Schoko ihm diese Peinlichkeit eingebrockt hatte. Seine Augen suchten das Publikum nach Uniformen ab, aber wegen der Beleuchtung konnte er kaum etwas erkennen. Er blickte sich nach dem Büh­ nenausgang um. Kaum bekam er mit, wie der elegant gekleidete Schönling neben ihm sich vorstellte. »Mein Name ist Doktor Burt Cassi­ dy, ich bin stellvertretender Leiter des Baude­ zernates. Ich habe mich heute Abend hierher in Mister LaHayes Show einladen lassen, um im Namen unserer Stadtregierung allen ver­ brecherischen Elementen entgegen zu treten, die die tragische Krise zu ihrem Vorteil aus­ nutzen wollen …«

Bis zum Rockefeller Center hatte er Burt chauffiert. In die Radio City Music Hall selbst begleitete er seinen Freund nicht. Matt war kein Freund von Talk-Shows. Und die Vorstel­ lung, inmitten von grinsenden und brav ap­ plaudierenden Menschen zu sitzen verursachte ihm stumpfe Zähne. Er fuhr ein Stück ins west­ liche Chelsea hinaus und ging dort in ein Bistro, das er schon in seiner Studentenzeit gern besucht hatte – das »Cornelia Street Cafe«. Zu Matts Studentenzeiten hatte es hier lateinamerikanische Musik und Dichterlesun­ gen gegeben. An diesem Abend lief ein TV-Ge­ rät. Burt machte keine überzeugende Figur. Er wirkte verkrampft, und was er sagte, hörte sich nach den üblichen Standardsprüchen aus den Schaltzentralen der Macht an. Der Deut­ sche neben ihm mit seinen langen grauen Haa­ ren, seinen glänzenden Stiefeln und seinen Wildlederklamotten kam Matt wie eine Puppe aus einem Schaufenster von Macy’s vor. Mit hochgezogenen Schultern klammerte er sich an den Armlehnen seines Sessels fest. Irgen­ detwas schien den Deutschen mächtig unter Druck zu setzen. Einen kaltblütigen Bankräu­ ber jedenfalls stellte Matt sich anders vor.

Das Bistro war bis auf den letzten Platz be­ setzt. Die Wenigsten kümmerten sich um das TV-Gerät. LaHaye stürzte sich zuerst auf die beiden Schotten. Minutiös mussten sie den Abend schildern, an dem sie den Kometen ent­ deckt hatten. Sie berichteten eher zögernd, ohne Leidenschaft – sachlich und trocken wie Versicherungsbeamte, die einen Unfallhergang schildern mussten. Der Kleinere von beiden, Archer Floyd, machte einen ausgesprochen be­ drückten Eindruck dabei. Ein Mann, der den Konkurs seiner Firma bekannt gab, hätte nicht zerknirschter in die Kamera geblinzelt. LaHaye jedoch zeigte keinerlei Gespür für sol­ che Nuancen. Er schnitt seine affigen Grimas­ sen, riss seine Witze, beglückwünschte die bei­ den zur Entdeckung des Mega-Stars des Jahrtausends und als »Konzertmeister des neuen Big-Bang«. So etwa drückte er sich aus. Als Floyd einräumte, dass im Grunde genom­ men zwei Amerikanerinnen den Kometen als Erste entdeckt und für einen Vulkanausbruch auf dem Saturn gehalten hatten, geriet LaHaye völlig aus dem Häuschen, sprang auf und holte die beiden jungen Frauen persönlich aus dem Publikum. Die Leute im Studio der Radio City Music Hall brachten es tatsächlich fertig, von ihren Sitzen

aufzuspringen und den beiden Schauspielerin­ nen Standing Ovations darzubringen. Matt fasste sich an die Stirn, schloss die Augen und versuchte sich einen rotglühenden Feuerball von der Vernichtungskraft einiger hunderttau­ send Wasserstoffbomben vorzustellen, der in die Erdatmosphäre eintaucht und von zirka sieben Milliarden applaudierenden Menschen empfangen wird. Zu seiner eigenen Verblüf­ fung gelang ihm diese Vorstellung. Er bestellte einen doppelten Bourbon. LaHaye pries inzwischen das Walten des Schicksal, das in Form eines glühenden Klum­ pens aus Dreck und Eis die beiden Schotten zu unsterblichen Astronomen, Washington Roots zum Big Boss der Underdogs und den Deut­ schen zum Bankräuber gemacht hatte. Er wollte von dem Grauhaarigen wissen, ob er denn keine Angst vor der Polizei oder wenigs­ tens vor der Strafe Gottes gehabt hätte. Der Deutsche erwachte endlich aus seiner Starre, ließ die Armlehnen des Sessels los und schwor Stein und Bein, dass es sich hier um eine Verwechslung handeln müsse. Wenn er je eine Bank betreten habe, dann nur um Wäh­ rungen umzutauschen oder Geld auf sein Spar­ konto einzuzahlen. Timothy LaHaye bog sich

vor Lachen und sagte, Herbie Fox sei der wit­ zigste Deutsche, der ihm je begegnet sei. Eine Menge Leute im »Cornelia Street Cafe« hatten mittlerweile ihr Geplauder, ihr Kartenoder Würfelspiel oder ihre Billardpartie unter­ brochen und betrachteten die Mattscheibe. Am unteren Bildrand lief übrigens der seit ein paar Tagen obligatorische schmale Streifen mit der genauen Einschlagszeit des Kometen – 8. Fe­ bruar, 10:42 Eastern Time – und der Anzahl der noch verbleibenden Zeit: 51 Tage, 13 Stunden, 28 Minuten, 17 Sekunden … Die Leute im Bistro schienen die Zahlen auf dem schmalen Streifen nicht zu sehen oder hatten sich daran gewöhnt. Jedenfalls machten sie vergnügte Gesichter, während sie Timothy LaHaye in seinem Kometenkostüm dabei zusa­ hen, wie er sich den Bauch hielt und krähte. Man sah nicht alle Tage einen Deutschen, der einen Amerikaner zum Lachen brachte. Plötz­ lich aber fiel dem Moderator das Lachen aus dem Gesicht und den Gästen des Cornelia Street Cafes auch – der Afroamerikaner sprang auf und brüllte: »Von mir aus pisst euch in die Hosen vor Lachen bis zum achten Februar!

Ich aber will jetzt wissen, wer an diesem Tag in den Bunkern sitzen wird, die derzeit unter dem Metropolitan Museum, der Grand Central Station und der Columbia University gebaut werden!« Sein ausgestreckter Arm deutete an LaHaye vorbei auf Burt. »Und ich will es vom Vize-Chef der Baubehörde wissen, von Mister Cassidy!« »Cool bleiben, Robin!«, rief Timothy LaHaye. »Du hast hier keinen Scheidungstermin!« Er wandte sich an Burt. »Doktor Cassidy weiß si­ cher etwas Listiges darauf zu antworten …« Matt hielt den Atem an. Wer wird in den Bun­ kern sitzen …? Die Kamera richtete sich auf Burt. Farblos waren seine Lippen, seine Augen schmal, und über seinen Kiefergelenken wölbte sich die Kaumuskulatur. Matt wusste, dass Burt tage­ lang seinen Chef und den Bürgermeister be­ kniet hatte, sich in LaHayes Show zu zeigen und dem Führer der Aufständischen die Stirn zu bieten. Sein Chef und der Bürgermeister hatten verlangt, dass Burt allein die Stadtregie­ rung vertrat. »Der Komet setzt ganz neue Maßstäbe«, be­ gann Burt. »Es geht nicht um Ihr oder um mein Leben, Ladies und Gentlemen. Es geht um das Überleben der Menschheit!« Unglaub­

lich still wurde es mit einemmal im Bistro. »Die Regierung wird Datenträger mit dem kul­ turellen und wissenschaftlichen Erbe der Menschheit in den Bunkern deponieren lassen und einige Spezialisten, die in der Lage sind, es zu verarbeiten und für einen Neuaufbau zu nutzen -« »Eine Elite also!«, fuhr ihm Roots ins Wort. »Und wer legt fest, welche Menschen zu dieser Elite aus Spezialisten gehören werden? Zufäl­ lig weiß ich sehr gut Bescheid über Astrophy­ sik, Nanoelektronik und Molekularbiologie. Und in Harlem und der Bronx gibt es eine Menge Spezialisten in Sachen Überlebens­ kunst, Menschlichkeit und Chaos-Organisati­ on. Wer, Mister Cassidy, bestimmt, was ein Spezialist ist und was nicht? Wer legt die Maß­ stäbe fest? Auf welchem Gebiet etwa sind Sie ein Spezialist, der das Überleben der Mensch­ heit fördern könnte? Wie man hört, wurde Ih­ nen und Ihrer Familie ein Bunkerplatz zuge­ teilt! Weil Sie ein Spezialist sind oder weil Sie wie jeder von uns schlicht und einfach nicht verrecken wollen und zufällig an den Schalthe­ beln der Macht sitzen?« Matt leerte seinen Whisky. Er wollte einen zweiten bestellen, doch die Studentin hinter der Theke hatte nur noch Augen und Ohren für

das, was sich auf der Mattscheibe abspielte. Und nicht nur sie das ganze Bistro lauschte atemlos. Einem schwarzen Racheengel gleich stand der Afroamerikaner jetzt vor dem Regierungsver­ treter. Die Spannung im großen Studioraum war von einer Sekunde auf die andere so greif­ bar geworden, dass sich Floyds Nackenhaare aufrichteten. Einige Leute im Publikum stan­ den vor ihren Stühlen und starrten fassungslos auf die Bühne. Sues Hand klammerte sich um seinen Arm – er und Marc teilten sich ihre Sessel mit den Frauen. »Ihr da oben habt New York City doch längst aufgegeben!«, brüllte der Schwarze namens Roots. »Ein paar Wochen lang wollt ihr uns noch in der Zwangsjacke des Ausnahmezustan­ des ruhig halten, um euch dann in die Bunker zu verkriechen!« »Hey, Robin!«, krähte der Moderator. »Nun ist aber gut! Du befindest dich in Timmys MoonTalk und nicht auf der Straße! Wir wol­ len uns ein bisschen amüsieren …« Sein Feixen wirkte verkrampft; nur noch lächerlich sah er aus mit seinem feuerroten Haar und in seinem

Sternenmantel. Floyd spürte, dass dem Mode­ rator die Sache aus der Hand glitt. »Spezialisten! Erbe der Menschheit! Ich kotz gleich!« Die donnernde Stimme des Afros er­ füllte das Studio. »Das Schiff sinkt und die Rat­ ten verlassen es! So ist es, Mister Cassidy!« Mit drei großen Schritten war er am Rand des Po­ diums. »Die Stadtregierung hat ihre Maske fal­ len lassen, Ladies und Gentlemen! Ein Rudel Ratten, das nur an sein eigenes Überleben denkt!« Er wirbelte herum und deutete wieder auf Burt Cassidy. »Und da sitzt eine von diesen Ratten! Ackurat frisiert und in teurem Dreitei­ ler!« Der Regierungsvertreter sprang auf und stürzte sich auf den Schwarzen. Mit dem Handrücken der Rechten schlug er ihm auf den Mund. Und dann noch einmal mit der an­ deren Hand auf die Wange. Roots’ Lippen sprangen auf. Der Deutsche rannte zu den Streithähnen, schob sich zwischen sie, stellte sich schützend vor den Schwarzen und stieß Cassidy mit beiden Fäusten gegen die Brust, sodass dieser stolperte, rücklings gegen seinen Sessel taumelte und mit ihm zusammen aufs Podium stürzte. LaHaye riss die Arme hoch. »Seid ihr be­ scheuert!« Zuschauer stürmten auf die Bühne.

Einige drangen mit geballten Fäusten auf Roots und den Deutschen ein. Andere liefen zu dem Regierungsbeamten, schrien ihn an, bom­ bardierten ihn mit Fragen. Der Tumult war perfekt. Mit wehendem Sternenmantel tänzel­ te LaHaye in der aufgebrachten Menge herum. Aber es gelang ihm nicht, die Leute zu beruhi­ gen. Floyd sah eine Asiatin aus dem Bühnen­ eingang auf das Podium eilen. Sie war sehr blass und machte eine bekümmerte Miene. LaHaye baute sich kurz drauf vor einer Kame­ ra auf. »Ladies und Gentlemen daheim vor den Fernsehgeräten – heute Abend habe ich hof­ fentlich den letzten Zweifler unter Ihnen da­ von überzeugt, dass Timmys Moon Talk wirk­ lich eine Live-Show ist. Und Sie sehen ja, was dabei herauskommen kann.« Er wandte sich um und wies stolz auf die heftig debattieren­ den und teilweise aufeinander einschlagenden Menschen auf dem Podium. »Leben pur. Aber wie lautet der schöne alte Spruch: Wenn es am schönsten ist … War ein bisschen kurz heute, aber dafür umso amüsanter! Schöne Weih­ nachten und einen guten Rutsch wünscht Ih­ nen Timmy LaHaye …« Sue sprang plötzlich auf. Sie schob sich zwi­ schen den Deutschen, der aus der Nase blutete, und drei Männer, die auf ihn einschlugen.

»Schämen Sie sich!«, schrie sie die Männer an. Floyd und Christopher zogen den Deutschen vom Boden hoch und schoben ihn vor sich her durch den Bühnenausgang hinaus. In einem Taxi brachten sie ihn in die Ambu­ lanz des Lennox Hill Hospitals. Aus Dankbar­ keit lud er sie anschließend in einen Nachtclub ein. Sein rechtes Auge war zugeschwollen, sei­ ne genähte Lippe so dick wie ein Frankfurter Würstchen. »Das war meine erste Talk-Show«, sagte er, »und es war meine letzte, darauf könnt ihr Gift nehmen.« New York City, Brooklyn Heights, 20. Dezem­ ber 2011 Matt saß schon am Frühstückstisch, als Burt am nächsten Morgen die Küche betrat – ein zerschlagener Burt: Zerkratztes Gesicht, schwarze Ränder unter den Augen und blaue Flecken an Schläfe und Wangenknochen. Seine Haut war über und über mit roten Pusteln übersät; seine Allergie hatte sich über Nacht zurückgemeldet. »Ich kann mich nicht krank melden. Ich muss ins Municipal Building – der Bürgermeister hat eine Krisensitzung anbe­ raumt.« »Das wird schwer für dich.« »Da muss ich durch.«

Matt schenkte ihm Kaffee ein. Burt rührte ihn um und starrte dabei abwesend auf die gebra­ tenen Eier mit Schinken, die Matt ihm zuberei­ tet hatte. »Ich würde dir gerne zur Seite stehen, Burt«, sagte Matthew. »Aber ich muss zurück nach Europa.« Erschrocken blickte Burt auf. »Was willst du in Europa, Matt? Dort findest du den gleichen Hexenkessel wie hier! Nur einen Bunkerplatz – den findest du dort nicht!« »Ich fliege morgen.« Burt ließ sich erschöpft gegen die Stuhllehne sinken. »Und was ist mit deinem Bunkerplatz? Willst du ihn etwa nicht?« Ungläubig musterte er seinen Freund. Matt nickte. »Doch. Doch, ich will ihn.« »Dann musst du hierbleiben, Matt. In weni­ gen Tagen wird der private Flugverkehr einge­ stellt. Jede Maschine wird für die Luftbrücke benötigt. Bleib hier, Matt.« »Ich plane nicht zurückzukehren.« Matt sprach jetzt sehr leise und mit brüchiger Stim­ me. Die Gewissheit, zum letzten Mal seinem Freund gegenüber zu sitzen, schnürte ihm die Kehle zu. »Ich will den Bunkerplatz für Liz. Ruf sie an, Burt. Überrede sie, nach New York

City zu kommen. Gib ihr den Bunkerplatz, ver­ sprich mir das …« Manhattan, 24. Dezember 2011 Die Aufzugstür schob sich auseinander. Floyd trat in die Zimmerflucht. Langsam schritt er die Zimmertüren ab – 682, 681, 680. Vor der Tür mit der Nummer 679 blieb er stehen. Sues Tür. Er atmete tief durch. Unter seinem Arm klemmte eine in Geschenkpapier eingeschlage­ ne Pralinenschachtel. Blumen konnte man in ganz New York City nicht mehr bekommen. Er war sicher, dass Sue allein in ihrem Zim­ mer war. Vivian und sein Freund saßen unten im Hotelrestaurant, zusammen mit dem Deut­ schen. Sie hatten sich im gleichen Hotel ein­ quartiert wie er. Floyd wollte den Abend allein mit Sue ver­ bringen. Vielleicht die ganze Nacht. Er hatte lange gezögert. Vielleicht war es der Anflug von Weihnachtsstimmung, der ihm schließlich geholfen hatte, alle Skrupel über Bord zu wer­ fen. Heute würde er es tun. Heute würde er sie vögeln. Die Erregung machte ihm das Atmen schwer. Statt zu klopfen wandte er sich noch einmal von der Tür ab und lief langsam bis zum Fens­ ter der Zimmerflucht. Zum hundertsten Mal

legte er sich die Worte zurecht, malte sich Schritt für Schritt die Verführung aus. Am Fenster blieb er stehen und sah hinunter auf die nächtliche Stadt. Eine Flutlichtanlage tauchte den Eingangsbereich des Central Parks und das Zeltlager dahinter in grelles Licht. Überall Panzer und Armeefahrzeuge, auch am Himmel Scheinwerferkegel – Hubschrauber kreisten über den Wolkenkratzern. Vier Ma­ schinen zählte Floyd. Irgendwo weiter südlich zwischen den Häusern leuchtete Feuerschein. Dort brannte es. Sie hatten Weihnachten in Florida verbringen wollen. Aber nun saßen sie in der Falle. Die Flughäfen New York Citys waren zum militäri­ schen Sperrgebiet erklärt worden. Tunnel und Brücke waren unpassierbar – teils wurden sie von nervösen Armee-Einheiten kontrolliert, teils von rücksichtslosen Aufständischen. An allen großen Bahnhöfen tobten heftige Kämp­ fe. Panzereinheiten und Armeefahrzeuge pa­ trouillierten entlang der Hauptverkehrswege zwischen Lower Manhattan und dem Grand Central Terminal, dem Metropolitan Museum und der Columbia University. Den großen Rest der Stadt überließen Nationalgarde und Army weitgehend dem Chaos.

Weihnachten in Florida – wohl das letzte Weihnachtsfest seines Lebens – blieb ein Traum. Floyd wandte sich vom Fenster ab. Mit energischen Schritten steuerte er Zimmer 679 an. Jetzt oder nie! Er pochte gegen die Tür. Sue öffnete. Wenn sie überrascht war, zeigte sie es nicht. Sie bat ihn herein. »Frohe Weihnachten«, sagte Floyd und reich­ te ihr die Pralinen. Sie schälte sie aus dem Geschenkpapier. »Danke«, lächelte sie. »Ich wollte mir gestern Schokolade kaufen, aber die Geschäfte hatten geschlossen oder waren ausgeplündert. Wo hast du die her?« »Beziehungen«, sagte Floyd. Er hatte die Pra­ linen einem der Liftboys für sagenhafte fünf­ unddreißig Dollar abgekauft. Und der Junge hatte sie gegen Zigaretten auf dem Schwarz­ markt eingetauscht. »Du bist lieb.« Sue stellte sich auf die Zehen­ spitzen und küsste ihn auf die Wange. Er roch den Duft ihres Parfüms. Er spürte die Wölbun­ gen ihrer Brüste an seinem Körper, er fühlte die Wärme ihrer Schenkel durch den Stoff sei­ ner Hose. Jetzt oder nie … Er zog sie an sich, fasste ihren Nacken und drückte seinen Mund auf ihre Lippen. Zwar ließ sie seine Zunge in

sich hinein, zwar hielt sie still, während seine Rechte über ihre Schulterblätter hinab bis zu ihrem Gesäß rutschte, aber da war nichts Ein­ ladendes in ihrer Körperhaltung und in der Art wie sie den Kopf hielt. Starr fühlte sie sich an. Floyd schob es auf den Überraschungsmo­ ment und drängte sie langsam in Richtung Bett. Erst als er sie hinunter auf die Matratze ziehen wollte, drückte sie ihn von sich weg. »Bitte nicht, Archie … lass mich, ich will nicht.« Widerwillig gab Floyd sie frei. Sie mied den Blickkontakt mit ihm und strich sich ihr Kleid glatt. Er hatte sich die Entwicklung des Abends anders vorgestellt. »Aber ich dachte …« »Im August auf der Terrasse in Harbour View?« Sie stieß einen wehmütigen Seufzer aus und ging zur Sitzgruppe auf der anderen Seite des Raumes. Von dem kleinen Rauchglastisch angelte sie sich ihre Zigaretten, steckte sich eine zwischen die Lippen und ließ sich in den Sessel daneben fallen. »Ja, Archie, da war ich scharf auf dich, da hättest du zugreifen sollen. Aber das war in einem anderen Leben.« Wie­ der fielen ihm ihre hochgezogenen Schultern und der ängstliche Ausdruck in ihren Augen auf. Wo ist das naive Kicherding geblieben, das den Schnabel nicht zu bekam …, dachte er.

Er ließ sich aufs Bett sinken. Scham und Ent­ täuschung brannten in seiner Brust. Seine Rechte ertastete ein aufgeschlagenes Buch ne­ ben sich auf der Bettdecke. Er sah hin – eine Bibel, aufgeschlagen im sechsten Kapitel der Johannes-Apokalypse. Die Hälfte des Buches bedeckte eine kleine bunte Broschüre. Floyd sah die kitschige Zeichnung eines Kometen, darunter in flammenden Großbuchstaben: »Der Herr kommt zum Gericht wie ein Dieb in der Nacht.« »Du liest die Bibel?«, fragte er erstaunt. Sie nickte. Er nahm die Broschüre hoch und blät­ terte sie durch. Ein religiöses Erbauungstrak­ tat. »Und solchen Schwachsinn liest du auch?« »Das ist kein Schwachsinn!«, begehrte sie auf. »Das ist die Wahrheit.« »Und wie lautet die so genannte Wahrheit in diesem Fall?« »Lies doch.« »Sag es mir.« Alles hätte Floyd erwartet, aber nicht, dass eine Frau wie Sue plötzlich fromm wird. Das niemals. »Es ist kein Komet.« Jene trotzige Überheb­ lichkeit schwang plötzlich in ihrer Stimme, die Floyd aus Begegnungen mit religiösen Fanati­ kern kannte. »Es ist der Herr selbst. Er kommt zum Gericht über die Ungläubigen und zur Er­

richtung des tausendjährigen Reiches für die, die an ihn glauben.« Es klang, wie auswendig gelernte Phrasen eben klingen – hohl und jämmerlich. »Das glaubst du nicht wirklich, Sue«, flüsterte Floyd. Er war wie vor den Kopf gestoßen. »Du solltest es auch glauben, Archie, damit du gerettet wirst.« Sie fasste sich an den Kopf. »Ein Komet …! So etwas Hirnrissiges! Ich glaub nicht einmal, dass es so etwas überhaupt gibt! Und selbst wenn: Sagt ihr Wissenschaftler nicht selbst, ein Komet könne höchstens alle zweihundert Millionen Jahre einmal die Erde treffen? Zwei­ hundert Millionen Jahre …!« Sue beugte sich vor. Leidenschaftlich glühten ihre Augen jetzt. »Überleg doch mal, Archie – zweihundert Mil­ lionen Jahre! So alt kann die Menschheit gar nicht werden! So etwas kann man gar nicht er­ leben!« Da war sie plötzlich wieder, die Naive. Aber auf eine Weise, die Floyd erschütterte. »Weißt du überhaupt, was für einen Unsinn du da re­ dest?«, flüsterte er. »Jerry glaubt das auch.« »Was für ein Jerry, zum Teufel?«

»Jeremy Saxon, du kennst ihn doch. Er hat mir die Bibel geschenkt. Und das Traktat …« Cambridge, Massachusetts, 31. Dezember 2011 Es war kurz nach halb zwölf. Jacob Smythe stieß die Tür zum Kontrollzentrum des Astro­ physical Observatory im Smithsonian auf. Die Köpfe der zwölf Männer und Frauen an den Arbeitskonsolen fuhren herum. »Kein Emp­ fangskomitee?«, rief Smythe in den achtecki­ gen Raum hinein. »Na, bin selbst schuld. Hätte vorher anrufen sollen.« Er zog eine fahrbare Einkaufstasche hinter sich her. »Dachte, ich tu ein bisschen was für mein Image, Ladies und Gentlemen.« Er schloss die Tür und zog die Tasche bis in die Mitte des Raumes. Sie schien schwer zu sein. Etwas klirrte in ihrem Inneren. »Los, Garfield, Christine, Levington – schaffen Sie Sektkelche her!« Er öffnete den Reisverschluss der Rolltasche, entfaltete raschelnd eine große Plastikmülltüte, griff hinein und zog eine Sekt­ flasche nach der anderen heraus. Eisstückchen fielen auf den Boden. Der ganz mit einer Müll­ tüte ausgekleidete Wagen steckte voller Eis­ würfel und Sektflaschen. Die Männer und Frauen erhoben sich von ih­ ren Sitzen und näherten sich langsam. »Doktor

Smythe …« Louis Garfield fand als erster seine Sprache wieder. »Was für eine Überraschung …« »Da müsste ich mich schon gewaltig verän­ dert haben, wenn es mir nicht mehr gelingen sollte, Sie zu überraschen!« Smythe lachte me­ ckernd. »Lasse mir doch von so einem zufällig daherschwirrenden Eisbrocken den Charakter nicht verderben!« Er blickte auf die große Leinwand an der Stirnseite des Raumes. Der nördliche Sternenhimmel funkelte dort, fast im Zentrum des Sternbildes Steinbock. Und knapp darunter der lange Schweif des Kome­ ten. »Christopher-Floyd« leuchtete heller als alle anderen Sterne auf der Leinwand. Zusam­ men mit dem Schweif bedeckte er eine hand­ tellergroße Fläche des glitzernden Bandes der Milchstraße. Am unteren Rand der Projektionsfläche lief der Einschlagstermin und die bis dahin noch verbleibende Zeit: 38 Tage, 11 Stunden, 13 Mi­ nuten, 54 Sekunden. »Blenden Sie die verdammte Fußzeile aus, Garfield! Ich kann sie nicht mehr sehen!« Smy­ the entkorkte nacheinander drei Flaschen. Spencer Levington und Christine Perlman ver­ ließen den Kontrollraum und kehrten kurze Zeit später mit Sektgläsern zurück. Garfield

und Smythe schenkten ein. »Muss nächste Wo­ che nach Europa«, sagte Smythe. »Brüssel, NATO-Hauptquartier.« Sie stießen an. »Man munkelt, der Komet soll mit Atom­ sprengköpfen beschossen werden«, sagte Gar­ field. »So, munkelt man?« Das Sektglas in der Hand, tänzelte Jacob Smythe zu dem Ar­ beitspult unter der Projektionsfläche. »Ja, hab auch so was gehört. Frag lieber nicht, woher Sie das wissen.« Der afroamerikanische Astrophysiker zuckte mit den Schultern. »Jede Neuigkeit über den Kometen verbreitet sich schneller als eine radioaktive Wolke.« »Radioaktive Wolke, ha! Das haben Sie schön gesagt, Garfield!« Er trank und betrachtete dabei den Kometen. »Nun, da Sie es schon wissen – ein Shuttle ist zur Internationalen Raumstation unterwegs. Er transportiert die Sprengköpfe. Die Träger­ raketen sind schon oben.« Seine ehemaligen Mitarbeiter scharten sich um ihn. »Wie schätzen Sie die Chance ein, Pro­ fessor?« »Nun ja, mit ein bisschen Glück werden sie ihn treffen. Vom Kurs abbringen können sie ihn nicht, jedenfalls nicht genug um ihn die

Erde verfehlen zu lassen. Mit ein bisschen mehr als nur Glück werden sie ihn zertrüm­ mern. Dann schlagen zwar statt einem mehre­ re hundert Kometen auf der Erde ein, aber die können unseren Globus zumindest nicht wie eine Eierschale zerbrechen.« Er drehte sich zu den Männern und Frauen um. »Ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Nor­ malerweise glaube ich nur, was ich selbst ge­ messen habe. Aber in diesem Fall mache ich eine Ausnahme: Ich glaube, wir haben keine Chance. Ich glaube, am achten Februar wird dieses verfluchte Ding die Evolution endgültig ad absurdum führen, so gründlich, dass kein Hirn sich eine Vorstellung davon machen kann.« Seine Glubschaugen leuchteten wie die eines Mannes, der von einer fixen Idee besessen ist. Sein knochiges Gesicht verzog sich zu einem zynischen Grinsen. »Am achten Februar, La­ dies und Gentlemen, wird die Natur den Be­ weis dafür liefern, dass nicht die schleichende Entfaltung, sondern Katastrophen für wahre Veränderung im Universum sorgen. Warum schwirren anstelle eines zehnten Planeten lau­ ter Asteroiden zwischen Mars und Jupiter her­ um? Wo ist das Wasser auf dem Mars geblie­ ben? Wie kommen die Ringe des Saturns

zustande? Warum rotiert die Venus als einzi­ ger Planet unseres Sonnensystems in entge­ gengesetzter Richtung um die Sonne? Woher rühren die weißen Flecken in der menschli­ chen Frühgeschichte? Woher die große Flut aus Genesis fünf und dem Gilgamesch-Epos? Und wo sind die Dinosaurier geblieben? Evolu­ tion!« Er lachte laut. »Katastrophen, Ladies und Gentlemen, Zusammenstöße von Him­ melskörpern, Einschläge von Kometen! Nur passieren sie – nach unseren bescheidenen Maßstäben – so selten, dass sie in unseren Theorien keine nennenswerte Rolle spielen. Und wenn es am achten Februar wieder einmal passiert, wird vermutlich niemanden übrig bleiben, der die richtigen Schlüsse daraus zieht.« »Das stimmt nicht ganz, Doktor Smythe«, korrigierte ihn Levington. »Einige zehntau­ send, vielleicht sogar einige hunderttausend Menschen könnten die Katastrophe nach den jüngsten Wahrscheinlichkeitsberechnungen überleben.« »Wahrscheinlichkeitsberechnungen …!« Smy­ the krähte vor Vergnügen. »Das Wort habe ich aus meinem Vokabular gestrichen.« Er stieß mit den Männern und Frauen an und trank. »Aber kein Grund sich deswegen zu grä­

men, Ladies und Gentlemen – auch nach uns wird nichts Nennenswertes sein Unwesen auf Erden treiben.« Wieder lachte er. Dann blickte er auf seine Armbanduhr. »Mitternacht, Ladies und Gentlemen, das neue Jahr beginnt!« Er hob sein Glas. »Ich wünsche Ihnen ein gesundes und glückliches Jahr 2012!« (Wie mag es den anderen ergehen?) Wehmut strömte durch die Pole ihrer Lebens-Aura. (Sie streben ihren Zielen entgegen, genau wie wir. Sie werden das Andenken Daa’murans zu fernen Sternen bringen, genau wie wir. Sol’daa’muran geleitet sie, genau wie er uns ge­ leitet …) Est’sil’bowaans Gedanken zogen sich aus der Aura der Lan zurück. Er konzentrierte sich auf die sechs anderen Wandler. Nicht einmal mehr ein schwaches Glimmen konnte er ertas­ ten. Unendliche Räume trennten sie inzwi­ schen voneinander. In sieben Wandlern waren sie aufgebrochen. Jeder trug neunundvierzig symbiotische Ein­ heiten. Und in jeder Einheit glühten siebzig mal siebentausend Lebens-Auren.

(Sagtest du nicht, du wüsstest etwas über das Ziel?) Der Gedanke der Lan berührte ihn wie­ der. Sie dachte nicht daran ihn loszulassen. (Dort leben sie auf kaltem Festland, berichte­ ten unsere Finder. Und sie sind umgeben von kalten Meeren.) (Was tut’s – wir werden ja durch ihre Augen sehen, mit ihrer Haut fühlen und mit ihren Händen greifen …) Wieder merkte Est’sil’bowaan, dass die Lan begriffen hatte. (Und noch etwas sagten die Finder), dachte er. (Viele dort halten sich für die Einzigen …) (Sind sie ohne Verstand?) (O nein! Sie haben gelernt, sich auf einem kal­ ten Planeten zu vermehren. Sie haben Gattun­ gen niedergetreten, die stärker als sie selbst waren. Sie können sogar Materie in Energie verwandeln …) (Und das hat sie verführt, sich für die Einzi­ gen zu halten …?) Wieder ein Brausen wie ungeheures Geläch­ ter um seine Aura …

6. Irgendwann, irgendwo Einen halben Mond lang zogen sie dem Son­ nenuntergang entgegen. Bis sie die zerklüftete Küste des Nordmeeres erreichten. Dort ließ der Häuptling erneut das Winterlager auf­ schlagen. Ein harter Winter – Aruulas neunter -: Roschaans Horde schrumpfte auf weniger als sechzig Köpfe. Als Schnee und Eis sich zurückzogen und Bü­ sche und Sträucher ausschlugen, wurden See­ vögel gejagt, ihre Nester geplündert und Fische aus dem Nordmeer gefangen. Die Horde aß sich an Fisch und Fleisch satt, die Frauen wur­ den schwanger, Kinder wurden geboren. Roschaan beschloss noch drei Winter an der Küste zu bleiben. So lange, bis aus den Halb­ wüchsigen brauchbare Jäger und Jägerinnen geworden waren. Einen Vollmond nach dem Ende des Winters ließen Roschaan und Baloor nach Aruula ru­ fen. Sie hockten vor dem schwarzen Unter­ schlupf des Göttersprechers. Männer und Frauen versammelten sich um sie. Von allen Seiten neugierige Blicke.

Auch Sorban saß bei den Hordenführern. Und Grigooras. Sie hatten den ehemaligen Jungkrieger aus dem Volk der Dreizehn Inseln während der zurückliegenden Winter als star­ ken und mutigen Jäger schätzen gelernt. Alle in der Horde achteten ihn. Aruula beobachtete es mit Bitterkeit. »Aus Säuglingen werden Kinder«, begann Ba­ loor, »aus Kindern Halbwüchsige und aus Halbwüchsigen Männer und Frauen.« Der Göt­ tersprecher musterte sie lauernd. »Auch du, Mädchen, wirst bald zur Frau werden. Auch deine Fruchtbarkeit wird die Horde stärken.« Seine knochige Hand legte sich auf Grigooras Schulter. »Das ist der Mann, dem du Kinder gebären wirst.« Der Boden unter Aruulas Fellstiefeln schien zu wanken. Heiß schoss ihr die Empörung aus dem Bauch in die Kehle. »Noch drei oder vier Winter, dann wirst du in seine Fellhütte ziehen«, beendete Baloor seine Rede. Alle Blicke ruhten jetzt auf dem Mädchen. Den Mund weit aufgerissen, die Lider zu Schlitzen verengt und die Fäuste geballt stand sie da und blitzte den verhassten Grigooras an. Der grinste triumphierend.

»Niemals!«, schrie Aruula. »Nie! Nie!« Eine einzige Bewegung ging durch die Horde. Köpfe wurden zusammengesteckt, Gezische und Ge­ murmel erhoben sich. Baloor sprang auf. Seine Miene verzog sich zu einer herrischen Fratze. Er stemmte die Fäuste in seine Hüften und trat so nahe an Aruula heran, dass ihr sein säuerlicher Atem und der herbe Geruch seines Lederzeugs in die Nase stach. »Du wirst tun, was wir von dir verlan­ gen!«, schnarrte er. Aruula wich nicht vor ihm zurück; auch sei­ nem kalten Blick hielt sie stand. »Ich werde es nicht tun«, sagte sie heiser. »Töte mich, wenn du willst.« Sie drehte sich um und lief zurück in Zurpas Fellhütte. Dort zog sie das Schwert ihrer Mutter aus der Fellscheide. Sie legte es über ihre Schenkel und hielt es fest. Den ganzen Tag verließ sie den Unterschlupf nicht mehr. Draußen hörte sie erregte Män­ nerstimmen. Roschaan, Sorban und Baloor stritten miteinander. Nur einzelne Worte konnte sie verstehen. Genug um zu begreifen, dass es um sie ging. Am Abend kam Zurpa in die Fellhütte. Sie lä­ chelte. »Niemand hat es je gewagt, dem Wort des Göttersprechers und des Häuptlings zu wi­

dersprechen.« Zurpa setzte sich zu ihr. »Ba­ loor wollte dich züchtigen lassen. Doch Roschaan und Sorban haben für dich gespro­ chen und den Göttersprecher überzeugt. Du brauchst Grigooras keine Kinder gebären. Aber den Nächsten, dem man dich gibt, musst du nehmen. Und hüte dich vor Grigooras – er wird dir diese Demütigung nicht verzeihen …« Am nächsten Morgen hievte Aruula sich das Schwert ihrer Mutter auf die Schulter und lief durch das Lager, um Sorban zu suchen. Die anderen beobachteten sie mit scheuen, fast ängstlichen Blicken. Baloor verzog sich in seine Hütte, als er sie entdeckte. Wilde Freude durchströmte Aruulas Einge­ weide. Zum ersten Mal empfand sie Stolz, mehr zu sein als nur ein hilfloses Kind. Grigooras stand am Rand des Lagers unter ei­ nem verkrüppelten Baum und enthäutete eine Jagdbeute, einen Wisaau-Eber. Er zog den Dolch aus dem Wild, als er Aruula zwischen den Fellhütten entdeckte. Hass und Feindselig­ keit waren in seiner Miene. Er spie aus, wandte ihr den Rücken zu und stieß das Messer erneut in den Kadaver.

Aruula fand Sorban vor dem Unterschlupf seines Vaters. Gemeinsam mit anderen Män­ nern knüpften sie an einem großen Netz. Auf einem Floß wollten sie ein Stück aufs Nordmeer hinaus fahren, um zu fischen. Vor Sorban blieb Aruula stehen. Sie ließ das Schwert von ihrer Schulter gleiten. Hart und schwer schlug es im Moos ein. »Zeig mir, wie man damit kämpft.« Die Männer sahen von ihrer Arbeit auf. Das breite Gesicht des Häuptlingssohnes verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Ein dichter schwarzer Teppich von Bartstoppeln bedeckte es seit dem letzten Winter. »Du bist noch zu klein, Mädchen. Kannst es ja kaum festhalten.« »Zeig mir, wie man damit kämpft«, beharrte Aruula. »Ich will es lernen. Ich will es bald ler­ nen …« »Komm wieder, wenn dir Brüste wachsen«, feixte Sorban. Er senkte den Kopf und beschäf­ tigte sich weiter mit dem Netz. Ein Dolch fuhr vor den Spitzen ihrer Fellstie­ fel ins Moos. Der Dolch des Häuptlings. Aruula erkannte ihn an dem abgegriffenen, mit Leder umwickelten Knochenschaft. »Nimm ihn.« Roschaan nickte ihr zu. »Nimm ihn und schneide zwei gerade Äste zurecht. So

lang wie dein Schwert. Dann komm wieder. Ich selbst werde dir beibringen ein Schwert zu füh­ ren. Aber wir werden mit Stöcken beginnen.« Er lächelte. »Danke.« Aruula bückte sich rasch, riss den Dolch aus dem Moos und lief in das niedrige Buschland außerhalb des Lagers. Aus einer jungen Birke schnitt sie zwei starke Äste her­ aus. Am nächsten Tag begann Roschaan sie den Schwertkampf zu lehren. Ein Licht glomm in dem Ding. Ein mattes grün­ liches Licht. Das Ding ragte aus dem knieho­ hen Wasser, und wenn der Teil von ihm, den Wasser und Schlick verbargen, genau so groß war wie der, den man sehen konnte, dann musste das Ding fast so groß wie Roschaan sein. Der Junge, der es entdeckt hatte, hielt es kei­ ne Sekunde lang für einen der vielen Felsbro­ cken, die man unter der Steilküste im Schlick stecken sah, wenn das Wasser des Nordmeeres sich bei Ebbe zurückzog. Steine hatten zerklüf­ tete Oberflächen und waren ungleichmäßig ge­ formt. Und aus Steinen leuchtete kein grünes Licht. Der Junge führte einige Jäger zu der Stelle, wo er das Ding entdeckt hatte. Das geschah

drei Monde nach dem Ende des zweiten Win­ ters am Nordmeer. Nach und nach kletterte die ganze Horde den Steilhang hinunter und scharte sich im seich­ ten Wasser um das rätselhafte Ding. Alle schienen magisch angezogen davon. Und die Hände fast aller Hordenmitglieder betaste­ ten es. Auch Aruulas Hände. Die Oberfläche des Dings fühlte sich glatt an. Nicht vollkommen glatt, denn man konnte vie­ le winzige sechseckige Flächen fühlen und se­ hen. Ein wenig erinnerte die Oberfläche des Steins, der kein Stein war, an die Facettenau­ gen der Frekkeuscher. Aruula musste an ein riesiges Moeven-Ei den­ ken, während sie das glatte leuchtende Ding in der leichten Brandung betrachtete. Es war schön, ohne Zweifel, aber dennoch ge­ fiel es ihr nicht. Sie konnte nicht sagen warum. Ihr war zumute wie an jenem Tag vor fünf Wintern, als sie neben ihrer Mutter im Kanu saß und sich vor Orguudoos Dämonen im Ne­ bel fürchtete. Die Erinnerung ließ sie frösteln. Sie trat ein paar Schritte zurück. Die anderen drängten sich um das grün leuchtende Ding. Sie lachten, rieben ihre Ge­ sichter daran, drückten ihre Ohren dagegen, als wollten sie das Herz dieses glattgeschliffe­

nen Facettensteines schlagen hören. Ohne das Ding aus den Augen zu lassen, watete Aruula durch die Brandung, bis kein Wasser mehr ihre Knöchel umspülte. Mehr und mehr Hordenmitglieder rannten an ihr vorbei in Schlick und Wasser hinein, drängten sich durch Menschenleiber, betaste­ ten das fremdartige Ding. Schließlich tauchten Baloor und Roschaan auf. »Weg!«, zischte der Göttersprecher. »Weg da!« Die Männer, Kin­ der und Frauen wichen zögernd zurück. Der Häuptling betastete die Oberfläche des Dings, leckte sie ab, klopfte mit seinem Dolch dagegen – erst mit dem Griff, dann mit der Klinge. Das verursachte ein helles klingendes Ge­ räusch, feiner als Aruula es erwartet hätte. Sie ging in die Knie. Der Göttersprecher umrundete das Ding im Abstand von zwei Schritten. Kein einziges Mal berührte er es. Misstrauen stand in sein kno­ chiges Gesicht geschrieben. Unwillig beäugte er das neugierige Treiben Roschaans. Der be­ arbeitete inzwischen die Oberfläche des Dings mit der Klinge seines Dolches. Nicht den kleinsten Kratzer konnte er einritzen. Doch das Ding leuchtete nun intensiver, als würde ein Licht in ihm leuchten. Jedes Mal, wenn Ba­ loor dahinter durchs Wasser watete, konnte

Aruula seinen Schatten durch das Ding hin­ durch sehen. Das grüne Leuchten begann plötzlich zu pul­ sieren. Roschaan presste die Handflächen da­ gegen und schien vollkommen gefesselt vom Licht im Inneren des Dings. Der rätselhafte Fa­ cettenstein gefiel Aruula immer weniger. Sie legte ihren Oberkörper auf die Schenkel, steck­ te den Kopf zwischen die Knie und begann zu lauschen. Augenblicklich schoss eine Flut von Bildern in ihr Kinderhirn: Dunkelheit, Sternengefunkel, brodelnde Glut­ seen und delfinartige schwarze Körper, die blitzschnell aus dem glühenden Meer schossen und genau so schnell wieder darin eintauch­ ten. Und dann ein ungeheures Verlangen, eine Gier geradezu – die Gier zu leben. Sie packte nach Aruula, und wie in einen Sog stürzte ihr schwacher Geist dieser brennenden Gier ent­ gegen. Ihr war, als hätte sie ihren Kopf in schwelende Glut gelegt – ihr Oberkörper schnellte nach oben und sie schrie gellend. Über fünfzig Augenpaare starrten sie an. Sie kniete am Strand und ihr noch schmächtiger Mädchenkörper zuckte, als versuchte er sich den Klauen einer Bestie zu entwinden, eines Sebezaans oder einer Taratze. Baloors lauern­

der Blick flog zwischen ihr und dem Stein, der kein Stein war, hin und her. Seine roten Augen versprühten Feuer und Eis. »Weg hier!«, brüll­ te er plötzlich. »Lauft! Weg! Verschwindet!« Kinder und Alte, Jäger und Halbwüchsige rannten panisch aus dem Wasser. Sorban bückte sich nach Aruula, zog sie hoch, legte sie sich über seine Schulter und rannte mit der ganzen Horde dem Steilhang entgegen. Kaum des Atmens fähig vor Panik beobachtete Aruu­ la, wie der Göttersprecher Roschaan von dem grün leuchtenden Ding wegzuzerren versuch­ te. »In Wudans Namen! Fort von Orguudoos Stein!« Doch der Häuptling stieß ihn von sich, beugte sich über das Ding und presste seine Stirn dagegen. »Sorban!«, schrie Baloor. »Hierher! Mit vier starken Jägern! Dein Vater …!« Sorban blieb stehen, setzte Aruula ab und stürmte zurück ins Wasser. Grigooras und zwei Jäger folgten ihm. Zu fünft zerrten sie den Häuptling an den Strand. Der aber drehte sich um und streckte sehnsüchtig die Arme nach dem Ding aus. Sein Körper bebte und die Töne, die er ausstieß, klangen fremdartig und wie das Pfeifen der Wale, wenn sie nach dem Winter durch den Kalten Sund zogen.

Hilflos standen Sorban, Grigooras und die Jä­ ger um ihren Häuptling herum. Der wälzte sich im Sand, stieß gellende Pfiffe aus, warf sich ins Wasser, drückte sich gegen das grüne Facet­ tending, stürzte zurück an den Strand und wand sich wie in Schmerzen. Baloor streckte die Arme gegen den Dunsthimmel und rief Wudan um Hilfe an. Entsetzen hielt die Sippe am Fuß des Hanges fest. Entsetzen ließen Sorban und die Jäger Schritt für Schritt von Roschaan zurückwei­ chen. Und der stürzte ins Wasser, um das Ding zu umarmen, riss sich im nächsten Augenblick wieder los, torkelte zurück an den Strand und hielt sich dabei seinen graumähnigen Schädel, als litte er unerträgliche Kopfschmerzen. »Helft mir! Helft mir!«, hörte Aruula den Hü­ nen brüllen, und wenn er dann erneut dem Rätselstein entgegen wankte, hörte sie die Pfif­ fe aus seinem weit aufgerissenen Mund. Hin und her torkelte er, als könnte er sich nicht entscheiden. Pfiff und schrie: »Helft mir!«, warf sich ins flache Wasser, strampelte, zuck­ te, hielt sich den Kopf. »Ein Dämon! Ein Dä­ mon Orguudoos! Mein Kopf …! Er will in mei­ nen Geist …!« Und wieder Pfiffe, und wieder zurück zu dem grün leuchtenden Ding im Was­

ser. Es strahlte jetzt regelrecht; ein Feuer schi­ en in ihm zu brennen, ein grünes Feuer … »Mein Kopf! Er will ihn … Er saugt mich aus! Er dringt in mich ein …! Tötet mich …!« Roschaan stand auf, drehte sich in wildem Tanz im Wasser, schlug flach hin, rappelte sich wieder auf und pfiff und schrie: »Tötet mich! Rettet die Horde und tötet mich …!« Seine Au­ gen rollten in den Höhlen, sein Unterkiefer schob sich hin und her, sein Kopf tanzte. »Tö­ tet mich!« Wieder rannte er ins Wasser, warf sich erneut gegen das grellgrün glühende Ding. Baloor zog sein Beil aus dem Hüftlederband. Mit drei großen Schritten sprang er durchs Wasser, bis er hinter dem Hünen stand. Er holte aus und schlug zu, holte aus und schlug zu, wieder und wieder. Seine Klinge traf Roschaans Nacken, traf seinen Kopf und wie­ der seinen Nacken. »Nein! Nein!« Aruula heulte laut. Nichts von dem, was sie sah, wollte sie glauben. Es war ein Traum, ein Albtraum. »Nein! Nein!« Roschaans Kopf sackte seitlich weg auf seine Schulter. Blut sprudelte ihm aus dem Hals, strömte über seinen breiten Rücken und seine Hände, die, als er zusammenbrach, langsam über die Oberfläche des Rätselsteins glitten und rote Schlieren auf der grünen Glut hinter­

ließen. Der tote Häuptling knickte in den Kni­ en ein und stürzte rücklings ins Wasser. »Weg hier!«, brüllte Baloor. Er stürzte aus dem Meer. Das blutige Beil in der Faust, scheuchte er Sorban und die Jäger vor sich her. »Den Hang hinauf!« Er krächzte, seine Stim­ me überschlug sich. Aruula sah noch, wie die grüne Glut in dem Ding erlosch. Dann packte Sorban sie und zerrte sie mit sich den Steilhang hinauf. Am nächsten Tag spülte die Flut Roschaan Lei­ che vier Speerwürfe weiter nördlich an den Strand. Sie bestatteten ihn oberhalb des Steil­ hanges. Nach dem Ritual trat Baloor hinter Sorban. Er hängte ihm das Amulett mit der weißen Scheibe, den blauen Splittern und der Götterfigur um. »Mögest du es viele Winter tragen, wie dein Vater, dein Großvater und dessen Vater und Großvater es getragen ha­ ben. Wudans Elnak sei allezeit an deiner Sei­ te.« Er stellte sich neben den jungen Jäger, fasste sein Handgelenk und hob seinen Arm. »Seht her!«, rief er. »Sorban, euer Häuptling!« In vielen Nächten bis zum nächsten Winter weinte Aruula sich in den Schlaf. Die Trauer um Roschaan hatte die Trauer um ihre Mutter,

um Waleena und um ihre Heimat neu aufbre­ chen lassen … Niemand wagte sich mehr ans Meer hinunter. Niemand wollte es mehr sehen, das unheimli­ che Ding am Strand, und dennoch war es da. Keiner lachte, keiner sprach mehr als das Nö­ tigste, Kinder und Erwachsene schlichen mit hochgezogenen Schultern zwischen den Fell­ hütten herum – es wollte Aruula scheinen, als hätten sie das unheilvolle Leuchten des Dinges mit ins Lager genommen. Die Kinder spitzten die Ohren, um ein Wort der Erklärung aus dem Getuschel der Erwach­ senen zu erhäschen. Die Erwachsenen be­ lauschten die wortkargen Gespräche der Grei­ se, um zu erfahren, ob irgendeine alte Legende von grün leuchtenden Steinen erzählte, und die Greise fanden sich vor Baloors Zelthütte ein und palaverten mit ihm über Roschaans Tod und über das grüne Ding, das von fern wie ein Stein aussah und doch kein Stein war. Wenige Sonnenaufgänge später ließ Sorban das Lager abbrechen. Nicht nur er, keiner wollte länger in der Nähe des Strandes bleiben, an dem ein unbekannter Stein den mächtigen Jäger Roschaan besiegt hatte.

Sie verstauten Stangen, Felle und Hausrat auf den Rücken der Frekkeuscher. »Was erzählen die alten Jäger?«, wollte Aruula von Zurpa wis­ sen, während sie Proviant und Felle zur Frek­ keuscher-Herde schleppten. »Was sagt Baloor? Ist das Ding wirklich ein Dämon aus Orguu­ doos finsterer Tiefe?« »Baloor sagt, es sei ein Splitter von Orguu­ doos Zorn«, flüsterte Zurpa. Mehr nicht. Sie zogen weiter nach Süden, ein Stück weg vom Meer und durch Wälder und Grasland. Nicht lange, vielleicht einen halben Mond lang oder einen ganzen. An einem Flüsschen, das Baloor und die älteren Jäger Arnaa nannten, ließ Sorban das Winterlager aufschlagen. Es war ein guter Ort. Der Fluss wimmelte von Fischen und er fror nicht zu. Wisaaun, Renaas und selbst wilde Wakudas lebten im Wald und in der weiten Graslandschaft, die ihn säumte. Die Jäger hatten leichtes Spiel. Vier Winter lang lagerten sie am Ufer des Ar­ naas. Babys wurden geboren, Säuglinge lern­ ten laufen und wuchsen heran, Kinder verwan­ delten sich in Halbwüchsige, Halbwüchsige in junge Männer und Frauen. Auch Aruula. Im vierten dieser Winter – es war der vier­ zehnte in Aruulas jungem Leben – fand sie zum ersten Mal Blut in ihrem Lendenschurz.

Zurpa zeigte ihr, wie man ein Polster aus Blät­ tern und Gräsern in den Schurz bindet und wie man sich reinigt. Die Erinnerung an Waleena, ihre Mutter und die Dreizehn Inseln verblasste. Sorbans Hor­ de, Zurpa, Radaan und all die anderen waren jetzt ihre Heimat. Die Blicke des verhassten Grigooras wurden von Tag zu Tag gieriger. Aruula verließ die Fellhütte nicht mehr ohne einen Dolch im rechten Stiefel. Noch immer wog es schwer, das Schwert ihrer Mutter. Aber trotzig beharrte Aruula darauf, mit ihm den Schwertkampf zu üben und nicht länger mit Stöcken. Fast täglich nahmen sich Sorban oder einer der Jäger Zeit, dem jungen Mädchen den Umgang mit dem Langschwert beizubringen. Oft zog sie sich aus dem Lager in den Wald zurück und schwang die schwere Waffe gegen Gestrüpp und Bäume. Es geschah wenige Tage bevor Sorban und Ba­ loor den Aufbruch beschlossen. Ein paar Speerwürfe vom Lager entfernt übte Aruula für sich allein. Sie hieb auf die Krone einer umgestürzten Kiefer ein. Die Klinge sauste über ihren Kopf durch die Luft und fuhr ins morsche Geäst.

Aruula hörte ihn nicht kommen, doch sie spürte seine Blicke in ihrem Rücken. Sie hielt das Schwert mit beiden Händen vor ihren Kör­ per und drehte sich um. Er stand im Unterholz neben dem Stamm einer Eiche – Grigooras. Ein kaltes Lächeln kerbte sein bronzefarbenes Gesicht. Seine dunklen Augen glitten über ih­ ren Körper. »Wacker, wacker«, sagte er, während er sich näherte. »Das Mädchen kämpft gegen tote Bäume.« Er griff über seine Schulter und zog sein Schwert aus der Rückenscheide. »Zeig mir, was du gelernt hast, stolzes Mädchen von den Dreizehn Inseln.« Verächtlich klang seine Stimme, verächtlich war sein Grinsen. Seine Augen tasteten Aruulas nackte Beine, ihren Hals und ihren Schulteransatz ab. Durch die Schwerthiebe gegen den Baum war ihr Fellmantel verrutscht. Sie fühlte sich wie nackt unter seinem kalten gierigen Blick. Grigooras hob das Schwert und machte gleichzeitig einen Satz auf sie zu. Seine Klinge fuhr auf sie herab, Aruula riss ihr Schwert hoch und fing den Schlag ab, doch so wuchtig war er, dass sie rückwärts taumelte. Ihre Handgelenke schmerzten. Wieder schlug er zu. »Wie wärs damit?«, zischte er. Die Klingen prallten aufeinander.

Aruula strauchelte; der Kraft des zehn Winter älteren Kriegers hatte sie nicht viel entgegen zu setzen. »Oder damit!« Er drang auf sie ein, führte wuchtige Hiebe und knurrte dabei wie ein wildes Tier. »Oder damit?« Mit aller Kraft schlug er zu. Panik schoss durch Aruulas Geist; sie spürte ihre Hände und Arme kaum noch, so wuchtig prallte seine Klinge auf ihre. Alle ihre Sinne konzentrierten sich darauf, Grigooras’ Schwerthiebe abzuwehren. An Angriff war nicht zu denken. »Wenn ich dich besiege, stolzes Mädchen …« Blitzschnell zischte seine Klinge gegen ihre rechte Seite, sie parierte. »Wenn ich dich be­ siege, wirst du in meine Fellhütte ziehen, wenn wir aufbrechen!« Er stieß das Schwert in Richtung ihrer Schen­ kel. Aruula keuchte, als sie zur Seite sprang und seine Klinge abfing. »Niemals!«, rief sie. Die Wut beflügelte sie. Sie drang auf ihn ein und er wich zurück. »Nie­ mals, Verräter!« Ihr Zorn gefiel Grigooras; er grinste. Mühelos fing er ihre Hiebe ab. Er täuschte einen Angriff an, zwang das Mädchen sein Schwert nach oben zu reißen, zog blitzschnell die Klinge hin­ unter und stach gegen ihren Oberschenkel.

Aruula schrie auf, krümmte sich, hielt sich mit der Linken die blutenden Wunde, und Gri­ gooras hieb ihr die Waffe aus der kraftlosen Rechten. In hohem Bogen wirbelte das Schwert durch die Luft und schlug krachend ins Unterholz. Grigooras aber packte das Mäd­ chen am Fellmantel und riss sie zu sich. Ihr Atem flog, sie keuchte, ihre Unterlippe zitterte – in ihren dunkelblauen Augen loderte Hass. »O weh, o weh«, feixte Grigooras. »Hab ich dir etwa weh getan? Wie Leid mir das tut …« Er zog ihre Hand vom linken Oberschenkel. Blut sickerte aus einer klaffenden, mehr als hand­ langen Fleischwunde in Aruulas Außenschen­ kel. »O weh, o weh«, flüsterte Grigooras. »Das blutet ja …« Er führte ihre blutverschmierte Hand zu seinem Mund. Finger für Finger leck­ te er ab. »Du wolltest es mir nicht freiwillig ge­ ben …« Blitzschnell ließ er ihr Handgelenk los und griff in ihre Wunde. Aruula schrie auf. »Jetzt musst du es mir geben!« Seine blutige Hand malte rote Streifen in ihr Gesicht, auf ih­ ren Hals, auf ihre Schlüsselbeine. Dann riss er ihr den Fellmantel vom Leib. Aruula wollte schreien, wollte ihn von sich stoßen, doch er schlug ihr ohne Vorwarnung die Faust ins Gesicht und warf sie auf den Waldboden. Im nächsten Augenblick war er

über ihrem nackten Mädchenkörper, die kräf­ tige Linke auf ihren Mund gepresst, das Knie auf ihren Oberschenkel gestemmt, und mit der Rechten riss er ihr den Lendenschurz zwi­ schen Schenkel heraus. Panikwellen schossen durch Aruulas Körper. Sie wand sich unter ihm, warf ihm Dreck ins Gesicht, versuchte ihm in die Hand zu beißen – doch er lachte nur, löste seinen eigenen Len­ denschurz und schob sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie. Grigooras war stark und schwer. Sie spürte die Hitze seiner Haut, sie roch den scharfen Gestank seines Schweißes, sie fühlte sein har­ tes Glied auf ihren Schenkeln. Ekel schüttelte sie. »Ganz brav, stolzes Mädchen, dann tut’s nicht weh«, feixte er. Aruula gab ihren Widerstand auf. Ihr schmächtiger Körper erschlaffte unter seinem. Ihre Hände fassten in sein bärtiges Gesicht, als wollte sie ihn zärtlich streicheln. »So ist’s brav, stolzes Mädchen«, flüsterte er und griff nach ihren Schenkeln, um sie zu öff­ nen. Schneller als ein Lid zuckt, stach sie ihm den ausgestreckten Zeigefinger ins linke Auge. Er brüllte und bäumte sich auf. Sie glitt unter ihm

hinweg, krümmte sich und schrie dabei – die Wunde in ihrem Schenkel brannte wie Feuer. Doch sie bekam den Schaft des Dolches in ih­ rem Stiefel zu fassen, und als Grigooras sich wieder brüllend auf sie warf, stürzte er in die kurze Klinge. Sie fuhr ihm oberhalb der Hüfte in die Flanke. Aruula spürte seinen Körper steif werden. Mit einem langgezogenen Seufzer atmete er ein und richtete sich auf den Knien auf. Sie robbte weg von ihm, sprang auf und hink­ te stöhnend ins Unterholz. Sofort fand sie das Schwert ihrer Mutter. Sie keuchte, und wie bei einem Fisch, den man gerade aus dem Wasser geholt und in den Korb geworfen hat, klappte ihr Mund auf und zu, weil sie um jeden Atemzug kämpfte. Trä­ nen und Schweiß strömten über ihr Gesicht. In ihrem Schenkel brannte die Wunde, in ihrer Brust der Hass und der Ekel. Trotzdem näher­ te sie sich Grigooras Schritt für Schritt. Sie hielt das Schwert nicht, sie schleifte es mit sich. Grigooras kniete noch immer am Boden. Der Dolchschaft ragte aus seinem Unterbauch, das Blut strömte ihm ins Schamhaar und über die Schenkel. Schmutziggrau statt Bronzefar­ ben sah seine Haut aus.

Aruula zerrte das Schwert neben sich her. Sie hinkte um Grigooras herum, stützte sich aufs Schwert, schöpfte Atem. Er belauerte sie, be­ wegte sich nicht. Fünf, sechs Atemzüge lang stand Aruula vor dem nackten Mann, selbst nackt und ungeheuer erschöpft. Als er nach dem Dolchschaft griff, um die Klinge aus sei­ nem Körper zu reißen, packte sie das Schwert, hob es über den Kopf und schlug zu. Grigooras ließ sich fallen, und die Klinge fuhr in sein Gesäß. Noch einmal atmete Aruula tief ein, hob das Schwert, stieß schreiend die Luft aus den Lun­ gen und ließ die Klinge auf Grigooras herab­ sausen. Sie brach in seinen Schädel ein, zwi­ schen Ohr und Schläfe. Gelbliche Flüssigkeit sprudelte heraus und blutige Hirnmasse. Aruula ließ sich neben den Sterbenden auf den Waldboden sinken. Lange saß sie dort, die Stirn gegen die Klinge ihrer Mutter gepresst. Erst als sie fröstelte, zog sie sich an, legte sich das Schwert über die Schulter und wankte durch den Wald ins Lager zurück. Niemand machte ihr einen Vorwurf, nicht einmal Baloor. Vier Jäger zogen in den Wald und begruben Grigooras an der Stelle, an der Aruula ihn getötet hatte.

Drei Sonnenaufgänge später brachen sie auf und zogen von der Küste weg ins Innere des westlichen Nordlandes … Weniger als einem halben Mond später er­ reichten sie einen lichten Waldstreifen. Fast speergerade zog er sich so weit das Auge sehen konnte nach Süden hinunter und nach Norden hinauf. Nicht ganz so breit wie ein Speerwurf, wuchsen nur wenige Büsche und Bäume auf ihm. Auf einem schmalen Streifen in seiner Mitte allerdings wucherte das Gestrüpp ähn­ lich dicht wie zu beiden Seiten seines Randes. Otowajii nannte die Horde diesen lichten Streifen, und Aruula erfuhr von Zurpa, dass solche Otowajiis die weiten Gebiete südlich des Kalten Sundes durchzogen. Die Wandernden Völker benutzten sie als Wege auf ihren Zügen quer durch Euree, wie die Länder südlich des Kalten Sundes geheißen wurden. Die Horde folgte der Otowajii Richtung Sü­ den. Viele kleinere und größere Gestrüpphau­ fen erhoben sich entlang des breiten Weges. Aruula zog ihr Schwert aus der Rückenscheide und stieß in einen dieser Haufen hinein. Ihre Schwertspitze brach durch etwas Hartes, Sprö­ des. Ein Geräusch, als würde Metall über Me­

tall schaben, war zu hören. Sie bog Farn und Dornenhecken auseinander. Eine moosbedeckte Fläche von seltsam ge­ schwungener und ebenmäßiger Form kam zum Vorschein. Mit dem Schwert kratzte sie das Moos ab. Eine schwarzbraune, zum Teil löchri­ ge Eisenhülle wurde sichtbar. Hinter Aruula sammelten sich andere Halb­ wüchsige der Sippe und sahen ihr neugierig zu. »Ein Oto«, sagte Radaan. An einer Stelle wölbte sich ein kleiner schwärzlicher Bügel aus der Hülle des Dings, das Radaan Oto nannte. »Was ist ein Oto?«, wollte Aruula wissen. Sie griff nach dem Bügel, zog daran, und hatte plötzlich einen Teil der brüchigen Eisenhülle in der Hand. Erschro­ cken sprang sie zurück und ließ los – die schildgroße Scheibe prallte dumpf im Moos auf. Radaan und die anderen lachten. Sie schienen die Tücken jener Otos schon zu kennen. »Als ich noch ein sehr kleiner Junge war, vor neun oder zehn Wintern, habe ich Otos auf einer Otowajii des Nordlandes gesehen«, sagte Ra­ daan. »Großvater Roschaan erzählte, dass die Alten in Otos wanderten, wohin sie wollten. Die Otos bewegten sich, ohne dass jemand sie schob oder zog …«

»So etwas gibt es nicht.« Aruula näherte sich dem Gestrüpphaufen. Er war hohl. Modriger Gestank schlug ihr aus der dunklen Höhle ent­ gegen. Sie beugte sich ein Stück in ihren Ein­ gang hinein – und zuckte sofort zurück: Skelet­ te saßen im Inneren des Otos zwei vorn und drei hinten. Sie hingen verkrümmt und teilwei­ se zerfallen auf einer Art Sattel aus metallenen Spiralen. Die Knochenhand des Skeletts direkt vor dem Eingang des Otos steckte in einem starren kreisrunden Ring vor dem Sattel des Skeletts. Am Unterarmknochen hing an einem Metallband eine kleine runde Scheibe, die Aru­ ula an das Häuptlings-Amulett erinnerte. »Bei Wudan …«, stöhnte das Mädchen. »Sind das … sind das die Alten?« »Ja.« Radaan nickte. »Das sind Skelette der Alten. Man findet sie überall …« Irgendwann verließen sie die Otowajii und schlugen einen Bogen gen Sonnenuntergang. »Eine Totenstadt liegt in der Nähe der Otowa­ jii«, erklärte Zurpa. »Flenbuur heißt sie; Tarat­ zen leben dort und wilde Horden. Es ist nicht gut, ihr zu nahe zu kommen.« Auch von einer weiteren Totenstadt hörte Aruula – Ambuur. Einen Mond später zogen sie in ihrer Nähe vorbei. Aruula hörte von ge­

waltigen Ruinen, die in Ambuur aus dem Wald ragten, von Trümmerfeldern, die von Farn und Gestrüpp überwuchert waren, aber auch von erhaltenen Bauten der Alten, in denen Tarat­ zen und andere blutrünstige Bestien hausten. Sie begriff, dass die Wandernden Völker die Ruinenstädte fürchteten und mieden. Westlich des geheimnisvollen Ambuur trugen die Frekkeuscher die Horde über einen breiten Fluss namens Elb. Wenige Sonnenaufgänge später durchquerten sie eine Landschaft mit lichten Wäldern und vielen kleinen Flüssen und Seen. Dort fanden sie Bäume mit saftigen Früchten – Effel, Flumes, Fisische. Aruula kannte sie nicht und auch die Namen hatte sie nie gehört. Sie schmeckten köstlich. Die Seen und Flüsse wimmelten von Fischen, die Wälder von Wisaaun und die Buschgebiete an ihren Rändern von Wakudas. Sorban und Baloor beschlossen, sich für ein paar Winter in dieser nahrungsreichen Land­ schaft niederzulassen. Das Lager wurde aufge­ baut. Nach dem zweiten Winter – Aruulas sech­ zehntem – meldeten die Späher eine fremde Horde. Sorban zog ihr mit dreißig Jägern und Jägerinnen entgegen. Sie stießen auf friedliche Menschen, Angehörige eines Wandernden Vol­

kes, das zwischen dem südlichen Lauf des Großen Flusses und dem Kalten Sund hin und her zog. Sie hatten zwei Winter zuvor ihr Lager am Rande einer großen Ruinenstadt abgebrochen, die sie Ruupod nannten. Dort hatten sie Tauschhandel mit einem Stamm von Ruinen­ bewohnern getrieben, die sich auf die Schmie­ dekunst verstanden. Sie boten Sorban Schwer­ ter, Speer- und Pfeilspitzen und Messerklingen für Felle und Leder. Sorban ließ sich auf den Handel ein und ge­ stattete der fremden Horde am Rande des La­ gers ihre Fellhütten aufzuschlagen. Ein großer Unterschlupf aus rotgefärbtem Leder fiel Aru­ ula unter den Behausungen auf. Ein Unter­ schlupf, den der Göttersprecher so zielstrebig aufsuchte, als würde er denjenigen kennen, der dort Zuflucht vor Nacht und Regen nahm. Neugierig näherten sich Aruula und die Halb­ wüchsigen des Stammes der auffallenden Le­ derhütte. Eine Frau bewohnte sie. Eine alte Frau mit schlohweißem verfilzten Haar. Ihre braune Haut sah aus wie brüchiges vergilbtes Laub, sie trug einen langen zerknitterten Lede­ rumhang von schwärzlichem Rot und ein Ring aus rötlichem Metall hing in ihrem rechten Na­ senflügel. Die Göttersprecherin der fremden

Horde. Aruula, Radaan und die anderen Halb­ wüchsigen sahen Baloor und die Alte vor deren Unterschlupf hocken. Sie palaverten, zeigten sich gegenseitig die geheimnisvollen Inhalte ihrer zahllosen Ledersäckchen und Tonfläsch­ chen – Kräuter, getrocknete Pilze, Wurzeln und Tinkturen. Es war, als würde eine unsichtbare Hand Aru­ ula am Kragen packen und sie zu der roten Le­ derhütte ziehen. Schritt für Schritt näherte sie sich der Greisin und Baloor. Die anderen folg­ ten ihr im Abstand von fünf oder sechs Schrit­ ten. Irgendwann hob die fremde Götterspre­ cherin ihren Kopf. Ihre Augen blieben an Aruula Gesicht hängen. Sie verstummte. »Komm her, Mädchen«, krächzte sie, »komm zu mir!« Zögernd trat Aruula auf sie zu. »Komm, komm – setz dich zu mir, Mädchen!« Die Alte streckte den Arm aus und zog Aruula am Fell­ mantel ins Gras hinunter. »Sag mir, wie du heißt.« »Aruula.« Baloors rote Augen musterten sie unwillig von der Seite. Doch die Alte kümmerte sich nicht um den Göttersprecher. »Du stammst nicht aus dieser Horde, stimmts? Du bist im Nordland geboren.« Aruu­

la nickte. Die schmalen Lippen der Götterspre­ cherin verzogen sich zu einer grinsenden Gri­ masse. Ihr Mund war vollkommen zahnlos. Mit ihren verfilzten Haaren, dem speckigen Le­ derzeug und ihrem zerknitterten Gesicht sah sie furchterregend aus wie ein Dämon aus Or­ guudoos finsterer Tiefe. Aber ihre Augen wa­ ren von einem klaren Grün. Gütige Augen wa­ ren es, die keine Ähnlichkeit mit den stechenden Rotaugen Baloors besaßen. Dennoch hatte Aruula das Gefühl, diese ural­ ten Augen würden bis auf den Grund ihres Herzens blicken. »Was für ein schönes Mädchen«, krächzte die Alte. Die knorrigen Finger ihrer Rechten fuh­ ren über Aruulas Wangen und Haar. »Augen wie Vulkanseen, Haut wie Bronze, Haar wie ein schwarzer Wakuda-Stier … ein schönes Mädchen.« Sie fasste Aruulas Handge­ lenke und zog sie näher zu sich heran. »Sech­ zehn Winter?« Aruula nickte. Die Greisin legte ihre Rechte auf Aruulas Kopf und blickte ihr tief in die Augen. Verblüffung flog über ihre verwitterte Miene. »Du kannst lauschen?« Aruula nickte. Von der Hand der Alten strömte eine warme Woge in ihren Kopf hinein und breitete sich in ihrem Körper aus. Aruula Herz klopfte schneller.

Die Alte nickte langsam. Das Grün ihrer Iris funkelte plötzlich. Sie fasste Aruulas Hand, und ihre Finger drückten sich fester in die Kopfhaut des Mäd­ chens. Ihre welken Lippen bewegten sich, sie schloss die Augen und begann ihren Oberkör­ per hin und her zu wiegen. Aruula verstand ihr Gemurmel nicht; beschwörend klang es und gleichzeitig so, als würde jemand im Schlaf re­ den. Hitze strömte aus der Hand auf ihrem Kopf über, das Herz schlug ihr plötzlich in den Schläfen. Ihre eigene Erregung verwirrte Aruula. Etwas geschah, aber sie begriff nicht was. Sie nahm ihre Umgebung kaum noch wahr weder die rote Lederhütte noch Radaan und die anderen Halbwüchsigen, nicht einmal den Götterspre­ cher, der doch neben ihr hockte. Die Welt schrumpfte für Augenblicke auf das unheimli­ che Gesicht der Alten zusammen. Deren Schaukelbewegungen verstärkten sich. Unter ihren fast durchsichtigen Lidern konnte Aruula die Augäpfel rollen sehen. Das Gemurmel ging in Singsang über. Und plötzlich sprang die Greisin auf. Ihre Gelenke krachten, das Leder ihres seltsamen Kleides knarrte. Sie stellte sich hinter Aruula und legte nun beide Hände auf deren Kopf. »So spricht

Wudan, der Allgewaltige – höre, Aruula von den Dreizehn Inseln: Großes und Wundersa­ mes hat Wudan mit dir vor, doch fürchte dich nicht! Ein mächtiger Elnak Wudans geht an deiner Seite. Orguudoos finsteres Trachten wird dir nicht schaden können. Tausende wird dein Schwert fressen! Und dein Auge wird Dinge sehen, die keiner von uns je sah!« Aruula wagte nicht zu atmen. Der Widerhall jedes Wortes erfüllte ihre Brust. Als die Götter­ sprecherin die Hände von ihrem Kopf nahm, zitterte sie. »Warte«, sagte die Alte. Sie schlüpfte in ihre Lederhütte und kam kurz darauf mit einem Le­ dersäckchen zurück. Auf Baloors hohlwangi­ gem Gesicht lag der Ausdruck tiefer Erschütte­ rung. Die Greisin streifte Aruula den Fellmantel von den Schultern. Sie steckte Zei­ ge- und Mittelfinger in das Säckchen und holte einen weichen violetten Klumpen heraus. Den legte sie in ihre Handfläche, spuckte darauf und verrieb ihn zu einer feuchten Masse. Sie tunkte den rechten Zeigefinger in die Masse und zog Linien über Aruulas Schultern, Arme, Beine und Gesicht. »Gebt sie keinem eurer Jä­ ger zur Frau«, krächzte sie, halb an Baloor ge­ wandt. »Ein mächtiger Krieger wird kommen,

von Wudan gesandt. Der wird ihr Gefährte sein.« »Ein mächtiger Krieger?«, schnarrte Baloor. »Woher wird er kommen?« Die Greisin hielt inne. Ihr verschmierter Zei­ gefinger deutete in den grauen Himmel. »Von dort.« Schweigend fuhr sie fort, Aruulas Kör­ per mit farbigen Linien zu überziehen. Als sie fertig war, drückte sie ihr das Säckchen mit der Farbmasse in die Hand. »Baloor kennt das Rezept. Nach ein paar Monaten verblassen die Zeichen. Erneuere sie. An ihnen wird jeder Wissende erkennen, dass du eine Auserwählte Wudans bist. Orguudoos Brut wird dir nichts anhaben können.« Sie beugte sich vor, drückte ihre zerfurchte Wange an Aruulas Gesicht und flüsterte: »Elisuu heißt dein Elnak.« Sie ließ das Mädchen los. »Sprich nicht über unsere Begegnung. Und nun geh.« Aruula stand auf. Kaum spürte sie den Boden unter den Füßen. Eine nie gekannte Freude erfüllte sie. Später fragte sie Zurpa nach dem Namen der Greisin. »Niemand kennt ihn«, sagte Sorbans Frau. »Alle nennen sie nur ›Wudans Auge‹ …« Die Fremden zogen nach drei Monden weiter. Sorbans Horde blieb noch vier Winter in der

fruchtbaren Landschaft. Dann ließ der Häupt­ ling die Fellhütten abbrechen und die Frekkeu­ scher beladen. Sie wanderten nach Süden, nachdem sie von fahrenden Händlern gehör­ ten hatten, dass der Zugang zum Südland jen­ seits des Eisgebirges nicht länger von den krie­ gerischen Bewohnern der Totenstädte versperrt sei. Sorban beschloss, das Eisgebirge zu überqueren und seine Horde in das liebli­ che Südland zu führen. Ein weiter, beschwerlicher Weg am Großen Fluss entlang begann. Harte Winter rafften Kranke und Säuglinge dahin. Räuberische Rotten überfielen die Hor­ de, und die herangewachsenen Jäger und Jäge­ rinnen erlebten ihre ersten Kämpfe. Zum ers­ ten Mal musste Aruula sich als Schwertträgerin bewähren. Sie focht so mutig und kraftvoll wie einst Waleena, die Königin. Vier Winter später erst erreichten sie den Südlauf des Großen Flusses. Nur dreiundfünf­ zig Köpfe zählte Sorbans Horde noch. Die Frekkeuscher trugen sie ans andere Ufer. Aru­ ula war zu jener Zeit vierundzwanzig Winter alt. Denkwürdige Monde lagen vor ihr. Als Sorban die Horde zum ersten Gipfelpass des Eisgebirges hinaufführte, griffen die Tarat­ zen an …

Die Lan verstummte. Alle verstummten. Uner­ wartet war sie gegenwärtig die Aura des Sols. Est’sil’bowaan erkannte sie sofort. Immer würde er sie erkennen. Alle würden sie jeder­ zeit erkennen. Aus dem Zentrum der symbiotischen Einheit berührte sie ihn. Alle berührte sie. Die Bilder­ ströme versiegten. Von keiner Seite mehr flos­ sen ihm Gedanken und Empfindungen zu. Kei­ ne Gier, keine Sehnsucht mehr, kein Zagen, keine Angst, kein Verlangen. Es war ein einzi­ ges großes Innehalten. Nur noch die Gedanken des Sols waren prä­ sent. Alle lauschten ihnen. So lange war es schon her, dass seine Lebens-Aura aus der Mitte des Wandlers durch alle symbiotischen Einheiten pulsiert war. (Ora’sol’guudo berührt euch!) Klar wie ein heißer Ozean bei völliger Windstille waren die Gedanken des Sols. (Wir sind nah), dachte der Sol. (Sehr nah. Haltet euch bereit …)

7. Brüssel, 10. Januar 2012 Im Hauptquartier der NATO begegnete Matt ihm zum ersten Mal leibhaftig; dem Mann, den er in den letzten Wochen und Monaten so oft im Fernsehen gesehen hatte: Professor Dr. Ja­ cob Smythe. Die erste von vielen Begegnungen. Aber das wussten beide noch nicht. Wie auch hätten sie es ahnen sollen? Kaum je­ mand, der zu diesem Zeitpunkt eine persönli­ che Zukunft über den 8. Februar hinaus zu ent­ werfen wagte. Der Krisenstab der NATO tagte. Außenminis­ ter und Staatssekretäre der EU-Staaten waren anwesend, Militärs nationaler Streitkräfte und einige Offiziere der US-Army. Nach dem Wil­ len des Generals der US Air Force in Europa hätte Major Bellmann an dieser Krisensitzung teilnehmen sollen. Doch in der deutschen Hauptstadt regierte das Chaos: Plünderungen, Morde, Vergewaltigungen, Straßenschlachten. Die in Berlin stationierten Truppen der US Air Force wurden als Sicherheitskräfte eingesetzt. Dabei verfügte die Luftwaffenbasis nicht ein­ mal mehr über die Hälfte ihrer ursprünglichen Mannschaftsstärke. Major Bellmann war un­

entbehrlich in Berlin. Er hatte Commander Matthew Drax als seinen Vertreter nach Brüs­ sel geschickt. An der Stirnseite des Konferenzsaals prangte wie ein Menetekel das Symbol der drohenden Katastrophe: eine stilisierte Erdkugel, gespal­ ten von einem feurigen Keil. Auf einer Groß­ bildleinwand über der hufeisenförmigen Tischgruppe der Sitzungsteilnehmer sah man zwei Männer in Sesseln sitzen: Der Präsident der Vereinigten Staaten und sein Verteidi­ gungsminister nahmen via Satellitenschaltung an der Krisensitzung teil. Auf einem schmalen Streifen unter der Leinwand die verbleibende Zeit bis zum Undenkbaren: 29 Tage, 2 Stun­ den, 9 Minuten, 34 Sekunden … »Zentralasien«, sagte Smythe. Es war kurz nach halb drei Uhr nachmittags. »Wir haben es wieder und wieder von verschiedenen Compu­ tern durchrechnen lassen – es bleibt dabei: In Zentralasien wird er einschlagen. Am achten Februar um sechzehn Uhr zweiundvierzig MEZ.« »Die Fluchtwelle aus dem Osten überflutet Mitteleuropa«, sagte ein französischer Oberst­ leutnant. Er war für die Koordination der Eva­ kuierungsmaßnahmen verantwortlich. »Mil­ lionen von Menschen bewegen sich in endlosen

Autokolonnen nach Westen. Wir haben vor drei Tagen die Luftbrücken in Warschau, Mos­ kau und Prag ausgebaut. Es wird uns kaum Entlastung bringen. Und die Vereinigten Staa­ ten nehmen keine Flüchtlinge mehr auf …« »Die Zustände in unseren Großstädten zwin­ gen uns zu diesem Schritt«, sagte der amerika­ nische Verteidigungsminister von der Lein­ wand herab. »Unsere Sicherheitskräfte haben vielerorts die Kontrolle über die Menschen­ massen verloren. Kriegsähnliche Zustände herrschen in Frisco, L.A., Chicago und New York City. Und die Metropolen, deren Flugplät­ ze wir noch unter Kontrolle haben, platzen be­ reits aus allen Nähten.« Niemand wollte darüber diskutieren. »Auf den kanadischen Flughäfen landen seit Jahres­ beginn täglich annähernd zwei Komma zwei Millionen Flüchtlinge aus Europa«, berichtete der französische Oberstleutnant. Im Kopf überschlug Matt, dass täglich an die sechstau­ send Jets über den Atlantik fliegen mussten, um so viele Menschen zu evakuieren. Voraus­ gesetzt, jedes Flugzeug fasste drei- bis vierhun­ dert Menschen. »Die Infrastruktur der Kanadi­ er verkraftet das allenfalls noch zwei Wochen lang. Und viel länger werden auch unsere Ke­ rosinvorräte nicht ausreichen.«

»Unsere Regierung verhandelt zur Stunde mit den Australiern«, schaltete sich der britische Außenminister ein. »Sie würden zweihundert Millionen Menschen aufnehmen. Die Luft­ brücke von den osteuropäischen Flughäfen aus könnte aber frühestens in drei Tagen, also am Freitag organisiert sein …« Berichterstattung und Diskussionen gingen hin und her; der eine gab dies zu bedenken, der andere machte jenen Vorschlag. Die Ratlo­ sigkeit hinter all der Hektik und Betriebsam­ keit war mit Händen zu greifen. In den ersten Wochen kaschierten wir unsere Angst durch business as usual, dachte Matt, jetzt kaschieren wir unsere Ohnmacht durch Katastrophenmanagement … Er presste die Finger gegen seine Schläfen. Seit Tagen plag­ ten ihn heftigste Kopfschmerzen. Kaum einer, den nicht irgendein körperliches Symptom quälte. »Ich fürchte leider«, mischte Jacob Smythe sich irgendwann ein, »wir verfrachten neun­ undneunzig Komma neun Prozent der Flücht­ linge lediglich an einen anderen Ort zum Ster­ ben.« Schlagartig verstummten die Sitzungsteilnehmer. Alle Blicke richteten sich auf den Astrophysiker. Vorwurfsvolle Blicke zum großen Teil.

»So sehe ich das nun mal, Ladies und Gentle­ men.« Ein sarkastischer Zug lag auf seinem knochigen Gesicht. Seine unnatürlich großen Augen musterten die Männer und Frauen her­ ausfordernd. »Glauben Sie mir …«, er sah auf die Fußzeile der Leinwand, wo Minuten und Sekunden gna­ denlos verrannen, »… in ziemlich genau neun­ undzwanzig Tagen und einer Stunde hat sich das Chaos erledigt, egal an welchen Ort der Welt wir es transportieren.« Er rümpfte seine kurze stumpfe Nase. Sein Gesicht erinnerte ein wenig an das einer Robbe. Nur unsympathi­ scher, dachte Matt. Seit er den Mann im Sep­ tember zum ersten Mal auf der Mattscheibe ge­ sehen hatte, empfand er Widerwillen gegen ihn. »In neunundzwanzig Tagen und einer knap­ pen Stunde wird etwas ganz anderes entschei­ dend sein!« Smythe sprach schnell, bellte jedes Wort hinaus. »Entscheidend wird die Frage sein: Was haben wir getan, um den zehn- oder zwanzigtausend – mit ein bisschen Glück von mir aus hundert- oder zweihunderttausend Überlebenden einen Neuanfang zu ermögli­ chen?« »Was schlagen Sie vor, Doktor Smythe?«, fragte der amerikanische Präsident von der

Leinwand herab. Smythe war nicht nur zum Leiter der Astronomie Division der Air Force aufgestiegen, sondern auch zum engsten Präsi­ dentenberater in Sachen »Christopher-Floyd«. Und um nichts anderes ging es mehr. Seit Wo­ chen nicht. »Aus der Umgebung der amerikanischen Ar­ meeführung weiß ich, dass sich in den Silos der Internationalen Raumstation acht ab­ schussbereite MX-3-Raketen mit jeweils sechs atomaren Sprengköpfen befinden. Ich befür­ worte einen Beschuss des Kometen mit diesen Waffen. Nicht weil ich darin eine Möglichkeit sehe, ihn vom Kurs abzubringen – dazu ist es meiner Meinung nach zu spät und dafür war auch die Vorwarnzeit zu knapp. Sondern weil eine gewisse Chance besteht, ihn zu zertrüm­ mern. Mein persönliches Szenario sieht so aus: Ein paar Trümmer werden die Erdatmosphäre nur tangieren, viele kleine Trümmer werden verglühen, und noch mehr Trümmerstücke werden an den verschiedensten Stellen der Erde einschlagen. Wenn uns die Zerstörung des Kometen gelingen sollte, halte ich zwei Fol­ gen für gesichert.« Er lehnte sich weit über den Tisch, reckte den Daumen seiner Linken hoch und sah sich unter den Führungsköpfen der westlichen Welt um wie ihr Vorsitzender.

»Erstens: Unser Planet wird nicht zerbrechen.« Sein Zeigefinger schnellte aus seiner Faust. »Zweitens: Statt nur wenigen Zehntausend würden vielleicht wenige Hun­ derttausend überleben.« Es gab keine lange Diskussion. Der Vorschlag wurde angenommen. »Ich bin noch nicht fertig, Ladies und Gentle­ men!«, erhob Smythe erneut seine Stimme. »Im Interesse des Überlebens unserer Gattung fordere ich alle Regierungen auf, Menschen mit einem akademischen Grad und einem In­ telligenzquotienten von mindestens einhun­ dertvierzig gezielt und selektiv in bestehende Atombunker und gerade im Bau befindliche Schutzräume zu evakuieren. Mit Proviant für mindestens acht Jahre, mit Energie-Vorräten in Form von Trilithium-Kristallen und mit Computern und Datenträgern, auf denen das kulturelle und wissenschaftliche Erbe der Menschheit -« »Ungeheuerlich!«, rief jemand. »Ausgeschlossen, völlig ausgeschlossen!«, kam es von der anderen Seite des Raumes. Matt fixierte die zynische Miene des Astro­ physikers. Was er forderte, konnte man genau so gut unnatürliche Auslese nennen. Und so­

fort tauchte Burt Cassidys Gesicht vor seinem inneren Auge auf. Tat man nicht genau das – offensichtlich top secret – bereits in New York City …? »Was Sie vorschlagen, Doktor Smythe, lässt sich nicht mit den humanistischen Prämissen eines demokratischen Staatssystems vereinba­ ren.« Der Präsident sprach ernst und eindring­ lich. »Wir sind an einem Punkt angelangt, Mister President, an dem Humanität und Demokratie ihre Bedeutung verlieren«, entgegnete Smythe. »Unsere Situation ist so extrem, dass es nur noch um das Überleben der menschlichen Gat­ tung gehen kann. Und dies muss notfalls mit diktatorischen Mitteln durchgesetzt werden.« Wieder aufgeregte Protestrufe. Andere schwiegen betroffen. Smythes These verschlug nicht nur Matt den Atem. Und gleichzeitig fragte er sich, ob der Mann nicht Recht hatte. Der US-Verteidigungsminister beendete die erregte Debatte. »Eine solche Aktion wäre niemals geheim zu halten. Die große Mehrheit der Bevölkerung würde eine Evakuierung der Elite niemals tole­ rieren. Die Zeit bis zum Einschlag von ›Chri­

stopher-Floyd‹ würde eine Zeit weltweiten Bürgerkriegs sein.« Smythe zog einen Schokoriegel aus seiner Hemdtasche, riss das Papier auf und biss hin­ ein. Wenn ihn die Ablehnung seines Vorschla­ ges kränkte, war er ein guter Schauspieler. Man merkte ihm nichts an. Am Abend, in der Militärmaschine, die ihn zurück nach Berlin brachte, kreisten die Ge­ danken in Matts schmerzendem Schädel um den Präsidenten – auch er schien noch immer ein guter Schauspieler zu sein. Und einige an­ dere, die sich an diesem Tag im NATO-Haupt­ quartier getroffen hatten, ebenfalls. Vielleicht sogar alle. Matt konnte sich nicht vorstellen, dass man in New York City drei große Bunker baute und mit Hochleistungs-Rechnern und technischem Spezialgerät voll stopfte, ohne dass die Regierung in Washington davon wuss­ te. Sie treiben ein Doppelspiel. Die Erkenntnis überfiel ihn wie ein Fieberschauer. Sie tun längst, was Smythe vorgeschlagen hat … New York City, Bronx, 16. Januar 2012 Kerzenlicht warf zitternde Schatten auf die Stirnwand des Kellergewölbes. Der rote Dra­ chenkopf auf der dort befestigten Fahne schien

sich zu bewegen. Dicht an dicht standen die Männer um den großen Tisch in der Mitte des Raumes – Afros, Latinos, Asiaten, ein paar Osteuropäer. Die Führer von Citizen Power und des Wu-Tang Clans. Einige hielten lange Altarkerzen in den Händen. Von irgendwo her drang Orgelmusik und Ge­ sang in den Kellerraum. Washington Roots und Diego Calypso beugten sich über die Stadtplanskizze auf dem Tisch. Zwischen ihnen, mit steinerner Miene, Waton­ ga. Er rauchte einen Joint. Mit der Linken deu­ tete er auf den Plan. »Hier. Die Columbia Uni­ versity – sie liegt Harlem am nächsten. Und deswegen greift ein kluger Krieger gerade sie nicht an.« »Watonga hat Recht.« Roots nahm eine Handvoll der Spielzeugpanzer auf, die über den Plan verstreut waren. »Hier konzentrieren sie ihre Kampfkraft.« Er setzte die Panzer auf die Universität. »Sie wissen, dass wir angreifen werden. Und natürlich rechnen sie damit, dass wir den Bun­ ker in der Nähe von Harlem angreifen.« »Also greifen wir ihn nicht an«, führte einer der Männer den Gedanken zuende. »Doch!« Washington Roots richtete sich auf. »Wir werden sogar die Hauptmacht unserer

Kämpfer gegen die Truppen an der Columbia University marschieren lassen!« »Ein Scheinangriff.« Watongas rollender Bass aus dem Halbdunkel. »Korrekt.« An den Köpfen seiner Männer vorbei blickte Roots zur Kellertür. Sarah stand dort, nicht mehr als ein Schatten. Doch ihr ge­ wölbter Bauch war deutlich zu erkennen. Er spürte ihren Blick. Sie sprachen nicht viel in letzter Zeit. Es gab nicht viel zu sagen. Aber es gab eine Menge zu tun. Sie hob die Hand und winkte müde. Sarah war erschöpft. Genau wie er selbst. Seit seinem Auftritt bei Timothy LaHaye wechselten sie fast wöchentlich ihren Unterschlupf und das Hauptquartier. Seit drei Tagen hausten sie im Keller unter einer alten Kirche einer katholi­ schen Gemeinde der nördlichen Bronx. In der Oberschicht New York Citys, in Polizei- und Regierungskreisen war Washington Roots der meistgehasste und meistgesuchte Mann. »Das wird hohe Verluste geben.« Diego mach­ te eine skeptische Miene. »Ja«, sagte Roots, »sehr hohe Verluste.« Er deutete auf den Plan. »Sie treten einen Rückzug an, fluchtartig und in scheinbarem Chaos, dringen in den Central

Park vor und greifen das Metropolitan Muse­ um von der Rückseite an. Von der Fifth Avenue her werden unsere Männer unter den Panzer­ besatzungen das Feuer auf das Museum eröff­ nen. Das wird für alle unsere Anhänger in der Nationalgarde, unter den Cops und bei der Army das Signal sein, in den Kampf einzugrei­ fen …« Er wandte sich an einen der Männer um den Tisch. »Was ist mit den Piloten?« Der Mann, ein Schwarzer wie Roots, nickte stumm. »Gut. Alle Maschinen, die unsere Leute auf dem John F. Kennedy International Airport kapern können, werden so lange über der Stadt kreisen, bis die Kämpfe ausgebrochen sind. Dann springen die Piloten ab – die Ma­ schinen werden im Regierungsviertel und auf dem Broadway einschlagen, wenn alles nach Plan läuft. Dann, und erst dann greifen wir die Grand Central Station an!« Sein schwarzer Finger stach auf die Stelle des Plans, auf dem das Grand Central Terminal eingezeichnet war. Auch dort standen Spielzeugpanzer und – soldaten. »Wir kämpfen auf verschiedenen Schlachtfel­ dern.« Diegos Stimme klang bedrückt und er­ schöpft. Er kränkelte seit Tagen. Viele waren krank geworden, husteten ständig, hatten

Durchfall, Fieber oder irgendwelche Schmer­ zen. Roots hatte ein strenges Alkoholverbot er­ lassen. Haschisch und Marihuana waren ge­ stattet. »Auf verschieden gefährlichen Schlachtfeldern. Die meisten Verluste wird es an der Columbia University geben. Auch unse­ re Panzerbesatzungen sind in einer üblen Lage – vielleicht geht unsere Rechnung nicht auf, vielleicht bleibt ein Großteil der Regierungs­ truppen seiner Fahne treu. Die Kämpfer an der Grand Central Station haben das Überra­ schungsmoment auf ihrer Seite. Und diejeni­ gen, die Frauen und Kinder zur Grand Central Station eskortieren, werden wohl kaum auf Regierungstruppen stoßen – wie entscheiden wir, wer an welcher Front kämpfen wird?« »Das Schicksal entscheidet es«, sagte Roots knapp. »Wir werden losen. Auch ich werde ein Los ziehen.« »Das wirst du nicht«, brummte Watonga. »Du bist der Führer, du wirst gebraucht – geh mit den Frauen und Kindern.« »Ich werde losen.« Eine Stunde später öffnete Roots leise die Tür zu einem kleineren Kellerraum. Auch dort brannte eine Kerze auf einem Tisch. An den Wänden stapelten sich die Kisten mit Baby­

nahrung und Lebensmitteln. Amoz und Yassin lagen in Decken gerollt auf Matratzen und schliefen. Yassin seufzte im Schlaf. Sie war stark erkältet. Amoz nässte seit Weihnachten wieder das Bett. Er ließ sich nicht viel anmer­ ken, aber das Nomadenleben machte ihm schwer zu schaffen. Und den nahenden 8. Februar konnte seine kleine Seele kaum verkraften. »Das ist Wahnsinn, was ihr da vorhabt«, flüs­ terte Sarah. Sie häkelte Babykleidung. »Ja. Aber warst du es nicht, die von mir ver­ langt hat, ich solle mir etwas einfallen lassen?« »Ja.« Sarah wandte ihre Augen nicht von den Häkelnadeln und von dem Babyjäckchen, das unter ihren Händen entstand. »Ich sage auch nicht, dass du es lassen sollst. Ich sage nur, dass es Wahnsinn ist …« Manhattan, 23, Januar 2012 An diesem Abend trug Timothy LaHaye einen weiten Umhang mit dem Motiv des Sternen­ banners. Auf seinem blauen Seidenhemd dar­ unter war das Porträt George Washingtons aufgedruckt, und auf seiner breiten schwarzen Krawatte, vor Sternenhimmel und über Mond­ kratern schwebte die Silhouette von Apollo 11. »Der Komet kommt – noch Wünsche? – so das

Thema unserer beliebten Talkshow heute Abend, Ladies und Gentlemen!« Er wandte sich an den Mann links neben sich, einem quadratschädligen Muskelpaket, einen Kopf größer als LaHaye selbst und nur mit Muscleshirt und speckiger Jeans bekleidet. Ne­ ben seinem Sessel döste ein schwarze Dogge. »Noch irgendwelche Wünsche, Emanuel?« »Nun, es ist so …« Der Mann sprach mit ho­ her Fistelstimme, wiegte dabei seinen Kahl­ kopf hin und her und rieb die Hände, als sei er schrecklich verlegen. »Ich hab fast alle, wirk­ lich, siebenunddreißig Alben voll, drei Meter Regalwand, aber eine fehlt mir … eine FünfCent-Marke aus den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg mit einem Porträt von Theodor Roo­ sevelt … Ich meine … wenn mir die jemand be­ schaffen könnte, er dürfte auch für die restli­ chen Tage auf meiner Harley …« »Na wenn das kein hehrer Wunsch ist!«, krähte LaHaye. »Briefmarkensammler aller Länder, horchet auf! Eine Fünf-Cent-Marke mit Roosevelts Visage für Emanuel aus Valley Head, West Virginia! Und dafür einmal im Leben eine Harley Da­ vidson reiten! Rufen Sie an …!« Applaus aus dem Studio-Publikum. Der Moderator wandte

sich an den Mann zu seiner Rechten. »Noch ir­ gendwelche Wünsche, Olaf?« Der junge Bursche hatte seine langen rotblon­ den Haare zu dicken Zöpfen geflochten, trug einen fetten Drudenfuß an einer Silberkette, und ein schwarzes Stirnband verdeckte seinen Haaransatz. »Eine Maschine nach Schweden am liebsten …« Im allgemeinen Chaos der letzten Wochen war es ihm gelungen, aus der Untersuchungs­ haft im Criminal Courts Building zu fliehen, wo er auf seinen Prozess wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung wartete, »… um meine Kampfgenossen in der Schlacht um das Messezentrum von Malmö zu unter­ stützen.« Er reckte die geballte Faust. »Ewig lebe Lokis Armee der Gerechten …!« »Keine politischen Parolen!« LaHaye hob ab­ wehrend beide Hände. »Deinen Wunsch, Olaf, unsere Zuschauer sind ganz heiß, deinen Wunsch zu erfahren!« Der Bursche schnitt erst eine zerknirschte, dann eine bettelnde Miene. »Ich hält gern ein Automatik-Gewehr. Damit würd ich dann an der Seite der Nationalgardisten und Marines gegen die verdammten Nigger und Latinos kämpfen und ihnen den Arsch -«

»Danke, Olaf!«, krähte LaHaye. Einzelne Pfif­ fe mischten sich in den eher verhaltenen Ap­ plaus. »Kann dem Manne geholfen werden?« Er winkte in die Kamera. »Hey, Mister Gene­ ral, es muss ja nicht gleich eine Panzerfaust sein.« Als Nächste sprach er die Frau neben dem Schweden an: »Noch irgendwelche Wünsche, Emily?« »Also …« Die schon in die Jahre gekommene dralle Lady mit dem roten Haarturm und dem eleganten Anzug seufzte tief. »Es betrifft mei­ nen Mann.« Sie hob den Kopf und blickte furchtbar ernst in die Kamera. »Es betrifft dich, Henry.« »Er sitzt zu Hause vor dem Fernseher?« Sie nickte. »Hi, Henry!« LaHaye winkte in die Kamera. »Spitz die Oh­ ren!« »Ich möchte einmal … wenigstens einmal …« Sie verstummte; ihr teigiges Gesicht lief rot an. »Ich trau’s mich nicht zu sagen …« »Sags mir ins Ohr, Emily, komm wag es.« La­ Haye raffte das Sternenbanner hoch, sprang auf und kniete zwischen den stämmigen Schenkeln Emilys nieder. Sie beugte ihren Haarturm zu ihm herab und tuschelte.

»Wie bescheiden!« Auf den Knien rutschte der Moderator herum und winkte die Kamera heran. »Ich darfs nicht laut sagen …« Er form­ te beide Hände zu einem Trichter vor seinem Mund. »Es ist kein Problem, Henry – sie will einmal im Leben von hinten gevögelt werden!«, flüsterte er. Das Studio-Publikum tobte vor Begeisterung. Auf der anderen Seite des Saales, hinter dem Mischpult der Tontechniker stand Kim Yong, die Regisseurin des MoonTalks. Durch die Trennscheibe hindurch beobachtete sie La­ Hayes aufgekratzte Faxen. Ein bitterer Ge­ schmack kroch auf ihre Zunge. Abgemagert und grauhäutig sah sie aus. Sie hielt sich nur noch mit Kokain und Amphet­ aminen auf den Beinen. Ausgebrannt fühlte sie sich, leer und angewidert. Nichts von dem, was LaHaye dort vorn auf dem Podium trieb, er­ reichte sie noch. »Die vorletzte Sendung das nächste Mal, La­ dies und Gentlemen, eine historische Ausgabe von Timmys MoonTalk«, verkündete LaHaye am Schluss der Show. »Thema: Warten auf den Kometen – oder mach ich’s lieber selbst?« Berlin-Köpenick, »Zwiebelfisch«, 26. Januar 2012

Vielleicht tranken sie zu viel, vielleicht zu we­ nig. Jedenfalls wollte sich keine Feierstim­ mung einstellen. Jenny war nicht bei ihrem Mann in Ontario, Hank ritt nicht auf seinem Gaul durch die Rockys, Irvin hatte sich keine Kugel gegeben und Matt glaubte endlich an das Ende. Alle saßen sie an der Theke ihrer Stammkneipe. Der Major hatte ihnen einen freien Abend verordnet, Matt und seinen Ge­ burtstagsgästen. Diesmal war auch der Astro­ physiker David McKenzie dabei. Er hatte sich in den letzten Wochen gut ins Team eingefügt. Sie feierten den Zweiunddreißigsten ihres Commanders. Und erzählten Geschichten aus ihrer Jugend und Kindheit. Die dunkle Zu­ kunft verlieh der Vergangenheit einen fast my­ thischen Glanz. »In meina Kneipe zieht man nich sone Schnu­ ten!« Axel, der Wirt des Zwiebelfischs, knallte Gläser und eine Whiskyflasche auf den Tresen. »Die jeht auf Axels Rechnung!« Er öffnete die Flasche. »Ik meene – immahin biste zweiund­ dreißig jeworden. Is doch mehr als einunddrei­ ßig!« Whiskypfützen bildeten sich neben den Gläsern, während er einschenkte. »Und jetz wird ausnahmsweise mal jetanzt bei Axel!« Er drehte sich zu seiner Musikanlage um und

schob eine Scheibe ins DVD-Fach. Kurz darauf erklangen Reggae-Rhythmen. »Runter von die Hocker! Tische zur Seite, los jehts, verdammte Scheiße, verdammte …« Matt und sein Team waren die einzigen Ange­ hörigen der US Air Force an diesem Abend. Sonst lauter Fremde, Männer und Frauen, die Matt nie zuvor im Zwiebelfisch gesehen hatte. Alle tanzten sie. Irgendwann übertönte Axels Stimme den Reg­ gae. »Telefon, Commodore!« Matt lehnte sich über die Theke und nahm den Hörer entgegen. Es war Burt. Er gratulierte ihm zum Geburts­ tag. »Hier ist noch jemand, der dich sprechen will.« »O Gott, Matt – ich wünsch dir ganz viel Gu­ tes!« Liz’ Stimme. Matt war sprachlos. »Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll … warum hast du nicht zu­ gegriffen? O Gott, Matt …« Sie ging also in den Bunker. Matt lächelte. Ein schöneres Geburtstagsgeschenk hätte man ihm nicht machen können. Aber das behielt er für sich. »Denk an deinen Scheidungsgrund – ich bin Soldat. Ich werd gebraucht. Und wenn die Army mich ruft …«

»O Matt – hör bloß auf. Was wirst du tun, wenn es so weit ist?« »Es gibt auch hier in Berlin den einen oder anderen Bunker.« Er wusste nur von den Regierungsbunkern unter dem Reichstag, aber er wollte sie beruhi­ gen. »Erst einmal muss ich fliegen. Falls der Beschuss des Kometen gelingt, muss irgendje­ mand da oben sein und die Trümmerstücke zählen und ihre voraussichtlichen Einschlags­ orte berechnen …« Sie schwiegen eine Zeit­ lang. »Schade«, seufzte Matt. »Ich hatte mir immer gewünscht, eines Tages gemeinsam mit dir zu sterben …« Er hörte ihr leises Weinen. »Leb wohl, Liz. Und viel Glück.« Matt legte auf und drängte sich wieder unter die Tanzenden. Als wäre es das allerletzte Mal, so ekstatisch tanzte er in dieser Nacht. Bis in die Morgendämmerung hinein. Die Kleider klebten ihm schweißnass am Körper, als er sich mit den anderen in ein Taxi zwängte … Manhattan, 30. Januar 2012 Kalt war es. Zwei Grad unter Null. Irgendje­ mand hatte ein Feuer auf dem Bürgersteig vor der Hoteltreppe entzündet. Italienische Flücht­ linge schleppten Stühle aus dem Hotelrestau­

rant herbei, zertrümmerten sie und warfen sie in die Flammen. Niemand hinderte sie daran. Das Management des Hotels hatte sich in alle Winde zerstreut. Das Personal kümmerte sich um nichts. An die zweihundert Leute hatten sich im Lau­ fe des Abends an der Treppe und auf dem Vor­ platz des Plaza Hotel versammelt. Die meisten von ihnen waren Europäer aus dem Flücht­ lingslager im Central Park. Aber auch ein paar Nationalgardisten und Marines gesellten sich nach und nach dazu. Herbert zupfte die Saiten einer Gitarre und gab einen Bob-Dylan-Song zum Besten: The answer is blowing in the wind … Einige der Leute, die auf Zeitungen, Pappkartons oder Federdecken auf der Treppe saßen oder um das Feuer herum standen, san­ gen mit. Und jedes Mal, wenn Herbert den Re­ frain anstimmte, fiel der ganze Chor mit ein, ein Kunterbunt europäischer Akzente. Vivian und Mark Christopher sangen leise mit. Sie hielten sich eng umschlungen und küssten sich ständig. Was für ein Honeymoon! dachte Herbert. Archer Floyd war nicht nach Singen zumute. Er stand Herbert gegenüber auf der anderen Seite des Feuers und starrte teilnahmslos in die Flammen. Der Mann wurde

von Tag zu Tag stiller. Herbert mochte ihn. Er tat ihm Leid. Neben ihm trällerte Schoko den Sopran, und als der letzte Refrain verklang, klatschten die vielen Leute in die Hände und forderten ein weiteres Lied. »Sieh dir Archie an«, flüsterte Herbert Scho­ ko ins Ohr. »Er verwandelt sich langsam in einen kalten Stein. Geh, bring ihn auf unser Zimmer und tröste ihn ein wenig.« Schoko nickte, Herbert schlug ein paar flotte Akkorde auf seiner Gitarre und stimmte »Obladi, obla­ da« von den Beatles an. Er sang und beobach­ tete gleichzeitig, wie Christopher und Vivian sich küssten und wie Floyd sich von dem schwarzen Mädchen über den Vorplatz ins Ho­ tel hinein ziehen ließ. »Obladi, oblada«, gröl­ ten Flüchtlinge, Soldaten, und Hotelpersonal, »life goes oooo-on …« Auf der anderen Seite des Atlantiks, in einer überfüllten Pariser Metrostation, betrachtete zur gleichen Zeit ein Clochard in speckigem Lammfellmantel und mit wallendem dunkel­ grauen Haar das grinsende Gesicht Jim Trashs auf dem Zifferblatt von Julias Uhr. Und ein paar Stockwerke über dem Vorplatz hielten sich Sue und Saxon unter einer Bettde­ cke fest, und Saxon sagte zu Sue: »Neun Tage

noch, dann werden wir dem Herrn entgegen gehen.« Und nicht viel weiter entfernt, näm­ lich gerade mal sechshundertfünfzig Meter Luftlinie weiter südlich in der Radio City Music Hall, zog einer der Selbstmord-Kandidaten in Timmys MoonTalk eine Pistole aus der Hand­ tasche, steckte sie sich in den Mund und drück­ te ab. Eine Frau – sie hatte die Show schon tausend­ mal im Studio erlebt. Sie hieß Kim Yong und war die Regisseurin des MoonTalks. Oben, in Herberts Hotelsuite, zog Schoko sich aus. Archer Floyd stand an der Tür, noch im­ mer im Mantel, und betrachtete den herrlichen schwarzen Körper, der sich langsam vor sei­ nen Augen enthüllte. Er lächelte wehmütig, dachte an Sue, dachte an Esther und sagte: »Du bist lieb, Schoko.« Er ging zu ihr nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. »Du bist wirk­ lich in Ordnung. Nimm’s bitte nicht persön­ lich.« Damit ließ er sie stehen, verließ die Suite und ging in sein eigenes Zimmer. Dort wählte er seine Nummer in Edinburgh. Eine halbe Stunde fast brauchte es, bis er endlich die Stimme seiner Frau hörte. »Wie geht es dir, Archie?«, wollte sie wissen.

»Die paar Tage werd ich schon noch durch­ halten.« Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Wie geht es dir, Esther?« »Freundinnen und Freunde sind bei mir. Das ganze Haus ist voll. Ich glaub, wir trinken zu viel. Und ich glaub, ich vermiss dich.« »Vielleicht war es keine Liebe mehr in den letzten Jahren, Esther. Aber ich wollte dir noch sagen, dass ich froh bin, dich getroffen zu haben. Ich kenne keine Frau, die ich so bewun­ dere wie dich.« »Es tut mir so Leid, dass ich keine Kinder be­ kommen konnte …« Jetzt lachte er laut. »Das tut dir Leid? Dann hast du wirklich zu viel getrunken! Gott sei Dank konntest du keine Kinder bekommen!« Er hörte sie weinen. »Ich weiß nicht, ob ich noch einmal eine Verbindung bekomme. Ich sag dir Lebwohl, Esther.« »Leb wohl«, schluchzte sie, »leb wohl, Archie …« New York City, Brooklyn Heights, 4. Februar 2012 »Und er wird uns ganz bestimmt nichts anha­ ben können?« Patricia schlang ihre Arme um

Burts Nacken und wollte ihn nicht mehr von ihrem Bett aufstehen lassen. »Nein, Herzchen. In dem Bunker werden wir ganz sicher sein.« »Ist das wirklich wahr, Dad?« Im Türrahmen lehnte Liz und betrachtete die Familienidylle. »Versprochen.« Lea trat hinter Burt an Patricias Bett. Mit ei­ nem Glas Wasser und einer Tablette. »Deine Medizin, Kleines.« Sie legte dem Mädchen die Tablette auf die Zunge und ließ sie das Schlaf­ mittel mit dem Wasser herunter spülen. Seit zwei Monaten schon gaben sie Patricia und Dennis die Tabletten. Damit sie schlafen konn­ ten. Burt küsste seine Tochter und ging ins Neben­ zimmer, wo Dennis im Bett lag und an die De­ cke starrte. »Hast du deine Medizin genom­ men?« Der Junge nickte stumm. Burt setzte sich zu ihm aufs Bett, betrachtete seine erns­ ten Gesichtszüge und streichelte ihm übers weiche dunkle Haar. Wie ich, dachte er, so sah ich auch aus in seinem Alter … »Träum was Schönes, mein Sohn.« Er küsste ihn zärtlich auf die Schläfe.

»Es werden doch nicht alle Leute von New York City Platz haben in den Bunkern …« Seine blauen Augen blickten Burt fragend an. »Die meisten schon«, log Burt. »Aber nicht alle.« »Vielleicht. Mach dir keine Gedanken. Du wirst Platz haben, mein Sohn. Du wirst groß werden und selbst einmal Kinder haben.« »Aber wo sollen sie spielen, wenn die ganze Welt verbrannt ist? Oder wenn Eis über allen Parks und Fußballplätzen liegt?« »Einen Platz zum Spielen findet man überall. Und ganz so schlimm wird es nicht werden. Glaub mir das. Und jetzt schlaf.« Burt stand auf, löschte das Licht und schloss die Tür. Sein Mund war trocken und er fühlte sich leer. Später half ihnen Liz den kleinen Transporter zu beladen, den die Army ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Er fasste nicht einmal ein Viertel dessen, was sie in der Garage gehortet hatten. Hastig schleppten sie Kiste um Kiste aus der Garage und stapelten sie im Laderaum des Wa­ gens. Auf der Cranberry Street patrouillierten Nationalgardisten. »Weißt du noch, letzten Sommer?«, fragte Lea plötzlich. »Wir lagen am Strand von Santa

Monica und haben uns vorgestellt, was Dennis und Patricia einmal studieren werden.« »Ja.« Er drückte ihr eine Tasche mit Kleidern in die Hand. Natürlich erinnerte er sich an ih­ ren letzten Kalifornien-Urlaub. Auch daran, dass er Lea damals vorgeschlagen hatte, ein drittes Kind in die Welt zu setzen. Sie hatte ihn ausgelacht. »Kein Mensch kannte den Namen ›Christopher-Floyd‹ im letzten Sommer.« Sie packte die Tasche auf einen Karton und ließ sich auf das Trittbrett zum Laderaum sin­ ken. »Alles ist jetzt anders«, seufzte sie, »der­ maßen anders, dass mein Verstand hinter der Wirklichkeit herhinkt.« Liz trug ihren Koffer aus der Garage und stell­ te ihn in den Laderaum. »Wie hätte man sich auf so eine Entwicklung vorbereiten sollen?«, fragte sie leise. »Die Mayas wären auf so etwas vorbereitet gewesen«, sagte Lea. »Sie rechneten immer mit einer Katastrophe. Ich habe dir ja von ihren Kalendern erzählt.« »Was hat es ihnen genützt?« Burt setzte sich neben Lea und legte den Arm um sie. »Die Spa­ nier haben sie entdeckt und ausgerottet.« Er betrachtete die vom Außenlicht erleuchtete Fassade seines Hauses. »Grausame Seefahrer oder ein Komet, vorbereitet oder nicht: Es

kommt aufs Gleiche raus. Wenigstens unser Leben werden wir nicht verlieren. Dreieinhalb Tage noch, dann wird uns die Army zum neuen Bunker unter dem Grand Central Terminal es­ kortieren …« Manhattan, 7./8. Februar 2012 Mit einbrechender Dunkelheit rückten Diego Calypsos Truppen aus. Ihn hatte das Los ge­ troffen, den Angriff auf die Columbia Universi­ ty anzuführen. Fast achtzehntausend mehr oder weniger gut bewaffnete Männer und Frauen sammelten sich in den Straßen Har­ lems. Über die 5th Avenue, den Malcolm X Boulevard und die Frederick Douglas Avenue strömten sie nach Süden zur 116. Straße und rückten auf den Morningside Park vor, den nur ein Häuserblock vom Universitätsgelände trennte. Von dort aus schwärmten Zwölftau­ send Kämpfer in vierhundert und fünfhundert Mann starken Verbänden nach Norden und Süden aus, um die Columbia University groß­ räumig zu umzingeln. Zwei Stunden vor Mit­ ternacht griffen sie den Gebäudekomplex von allen Seiten an … Washington Roots und zehn Afroamerikaner, die jahrelang bei der Army gedient hatten, führten etwa zwölfhundert Männer und Frau­

en nach Süden. Sie alle hatte das Los dazu be­ stimmt, die Regierungstruppen rund um das Grand Central Terminal anzugreifen. Sie teil­ ten sich in zwei Gruppen. Drei schwarze und zwei puertoricanische Reserveoffiziere der Navy und der US Air Force brachten etwa drei­ hundert Mann durch den U-Bahnschacht der Linien 4, 5 und 6 unter der Upper East hin­ durch nach Süden zur Grand Central Station. Fünf weitere ehemalige Offiziere und Roots führten neunhundert Kämpfer oberirdisch über die 1st und 2nd Avenue zwischen Central Park und East River nach Midtown. Watonga und mit ihm achthundert Männer brachen erst nach Mitternacht auf, um die Fa­ milien von Citizen Power und dem Wu-Tang Clan zu dem neuen Bunker in Manhattan zu lotsen. Ein Tross von über zwölftausend Frau­ en und Kindern folgte ihnen. Washington Roots stand mit allen Truppen­ teilen der Aufständischen in Funkkontakt. Als Diegos Kämpfer angriffen, bewegten er und seine Leute sich auf der 1st Avenue etwa in Höhe des New York Hospitals. Die Menge sei­ ner Kämpfer hatte sich inzwischen fast verdop­ pelt, denn aus vielen Häuserblocks schlossen sich ihm Männer und Frauen jeden Alters an.

Sie hörten Grananteneinschläge und Schüsse aus dem Westen der Stadt. Als ihre Vorhut die Kreuzung der 57th Street, 3rd Avenue erreich­ te, dröhnten Düsentriebwerke dreier Jumbo­ jets am Nachthimmel. Es war kurz nach Mit­ ternacht. Sie konnten die Positionslichter der Maschinen sehen. Von Osten her flogen sie über den East River und drehten nach Süden ab. »Vorwärts!«, brüllte Roots. Im Laufschritt stürmten sie bis zur Lexington Avenue und stießen dann nach Süden vor. Bis zum Grand Central Terminal waren es nur noch wenige hundert Meter. Der Schusslärm aus der Rich­ tung des Central Parks nahm zu. Deutlich war der Geschützdonner von M 2 Panzern zu hö­ ren. Doch niemand konnte unterscheiden, ob es die eigenen Leute waren, die feuerten, oder die Regierungstruppen. Über Funk erfuhr Roots, dass Diegos Leute den Angriff auf das Metropolitan Museum er­ öffnet hatten. Und er erfuhr, dass Diego min­ destens neuntausend Männer und Frauen an der Universität verloren hatte. Eine gewaltige Explosion erschütterte die Stadt. Der Nachthimmel im Süden glühte auf. Und gleich darauf kurz hintereinander zwei weitere Explosionen. Taghell war es für Sekun­

denbruchteile über den Konturen der Skyline. Die Jumbos waren abgestürzt, die Hauptver­ kehrswege der Regierungstruppen unterbro­ chen und hoffentlich Tausende von Marines und Nationalgardisten für Stunden mit Löschund Rettungsarbeiten beschäftigt. Roots wuss­ te, dass dieser perfide Teil seines Plans zahllo­ se Unschuldige das Leben kosten würde. Aber wer war schon unschuldig? Und wen würde spätestens der kommende Tag nicht das Leben kosten? Kurz darauf gellten Sirenen durch die nächtli­ che Stadt. Auch Sirenen von Einsatzfahrzeu­ gen, aber vor allem Luftschutzsirenen. Eine Funkmeldung der Truppe, die den Sub­ way-Schacht benutzt hatte, erreichte Roots: Die dreihundert Kämpfer hatten den Schacht an der Haltestelle 53th Street verlassen und würden in Kürze die Regierungstruppen um die Grand Central Station angreifen. Und dann schlugen die ersten Panzergranaten weit hin­ ter Roots mitten in seine Leute ein. Ein ungleicher Kampf: zwei Dutzend Panzer und etwa dreihundertachtzig kampferfahrene und gut ausgebildete Marines gegen Roots zu­ sammengewürfelten Haufen. Stundenlang tob­ te die Schlacht. Zahlenmäßige Überlegenheit und Entschlossenheit machten die stärkere

Kampfkraft der Regierungstruppen wett. Ein Panzer nach dem anderen ging in Flammen auf. Zwischendurch kamen Hiobsbotschaften aus dem Central Park und von Watonga herein: Diegos Truppen waren bis auf dreitausend Mann gefallen oder zersprengt. Die Verteidiger des Metropolitan Museums leisteten erbitter­ ten Widerstand. Und von Watonga war zu hö­ ren, dass die Regierungstruppen den Tross von Frauen und Kindern aufgespürt hatten. Sie scheuten sich nicht, in die Menge hineinzu­ schießen. Vermutlich um die Aufständischen zu demoralisieren. Besonders diese Nachricht stachelte die Wut von Roots’ Kämpfern an. Verbissen und ohne Rücksicht auf eigene Verluste griffen sie Pan­ zer und Infanterieverbände rund um das Grand Central Terminal an. Gegen Morgen kam dann die Nachricht von Diegos Tod. Mit einem Stoßtrupp war es ihm gelungen, ins Metropolitan Museum einzu­ dringen. Dort war er ins Feuer der Posten vor den Bunkereingängen geraten. Dennoch ge­ lang es seinen Leuten, den Verteidigungsring der Regierungstruppen aufzubrechen und das Museum zu erobern. Kurz darauf rollten die verbliebenen zwei Panzer am Grand Central

Terminal nach Norden. Mit den Resten seiner Kämpfer – kaum noch vierhundert Mann – überrannte Roots die Marines und stürmte den Bunker. Die Wintersonne ging über einer brennenden Stadt auf – zum letzten Mal in einem strahlend blauen Himmel – als die Schlacht entschieden war: Die Regierungstruppen konzentrierten ihre Einheiten um das Gelände der Columbia University. Citizen Power und die Kämpfer des Wu-Tang Clans besetzten die Bunker unter dem Metropolitan Museum und dem Grand Central Terminal. Der Preis war kaum zu bemessen. Nicht ein­ mal fünfzehnhundert Aufständische überleb­ ten den Angriff auf die Universität und das Mu­ seum. Roots verlor über achthundert Mann und Watongas Truppe führte nur noch viertau­ sendreihundert Frauen und Kinder zur Grand Central Station. Roots ließ sie je zur Hälfte auf beide Bunker verteilen. Er hätte am liebsten geschrien, als er Sarah, Amoz und Yassin unter den Überlebenden entdeckte. Doch er be­ herrschte sich. Viele Männer um ihn herum weinten. Er schickte seine Familie in den völlig überfüllten Bunker. Sarah musste getragen werden. Die Wehen hatten eingesetzt.

Roots postierte mit Panzerfäusten und Ma­ schinengewehren bewaffnete Kämpfer an den Eingängen der riesigen Bahnhofshalle. Am frühen Vormittag meldeten sie ihm Fahr­ zeuge der Regierungstruppen am Eingang Park Avenue. Roots verließ den Bunker und ging nach oben. Ein großer Fahrzeugkonvoi stand auf dem Vorplatz des Bahnhofs. Und zahllose Men­ schen, Weiße in erster Linie. Zahlreiche Kin­ der waren darunter. Ein Mann löste sich aus der Menge. Roots er­ kannte ihn sofort: Burt Cassidy. »Lass uns rein, Roots!«, rief er. »Wir sind hier mit unseren Familien! Lass uns rein!« Er löste sich aus der Menge. »Um Him­ mels willen, Roots! Lass uns in den Bunker!« »Sorry, Cassidy!«, rief Roots ihm aus dem Eingangsbereich der Halle zu. »Wir haben kei­ nen Platz mehr!« »Du bist ein Teufel!«, brüllte Burt Cassidy. »Ein gottverdammter Satan bist du!« »Schon möglich!« Roots sah auf die Uhr: Vier­ tel nach neun. Um 10:42 Uhr Ortszeit würde die Welt untergehen. »Sieh zu, dass du dich zur Columbia University durchschlägst. Dort verkriecht sich deinesgleichen. Du hast noch knapp anderthalb Stunden Zeit …!«

Mitteleuropa, 8. Februar 2012 Die Sonne stand über ihnen im Westen. Tief unter Matt eine dichte Wolkendecke. Im Sü­ den, an ihrem Rand, eine blaue Sichel, be­ grenzt von einer stiefelartigen Landmasse: das Mittelmeer und Süditalien. Links, in Sichtweite und etwa vierzig Fuß über seinem Jet, war die Maschine Captain Ir­ vin Chesters. Ihr kobaltblauer Rumpf glitzerte im Sonnenlicht. Auch Chester flog heute eine zweisitzige F-17 Alpha 2. Hinter ihm saß auf dem Sitz des Kopiloten Lieutenant Hank Wil­ liams. Rechts, auf gleicher Höhe und ein Stück hinter Matt war Lieutenant Jennifer Jensens Jet. Dave McKenzie flog bei ihr mit. Die Staffel flog eine langgezogene Schleife – bis sich ein hell leuchtendes keulenartiges Ge­ bilde in Matts Blickfeld schob. Es zog einen langen glitzernden Schweif hinter sich her, der sich deutlich von der Sonne wegbog und in alle Richtungen zerfaserte. Der Komet. Knapp hundertdreiundvierzigttausend Kilometer ent­ fernt. Und mit jeder Minute schrumpfte die Distanz um fast fünftausend Kilometer. Der digitale Balken des Höhenmessers stand bei achtundsechzigtausend Fuß, das Machme­ ter bei 5.2, der Radarschirm des Headup-Dis­

plays zeigte eine Computergrafik der Interna­ tionalen Raumstation. Darunter Datum und Uhrzeit: 8. Februar 2012, 16:09:54. »Noch sechs Sekunden bis zum Abschuss!« Jacob Smythes Stimme schrillte im Helmkopf­ hörer. Er saß hinter Matt. »Noch fünf, vier, drei, zwei …« Matt starrte auf den Radarschirm. Acht grün­ lich schimmernde Pünktchen lösten sich von der Raumstation. Der Bordcomputer rechnete sie in acht schmale Silhouetten um – MX-3-Ra­ keten. Mit fast zwanzigfacher Schallgeschwin­ digkeit stachen sie auf acht eng beieinander liegenden Geraden durch den luftleeren Raum. »Eagle 1 an Kontrollstation, kommen«, sagte Matt. »Kontrollstation hört. Over.« Die vertraute Stimme Major Bellmanns. »Acht MX-3-Raketen auf vorgesehenem Kurs. Over.« »Verstanden. Over.« Eine rot leuchtende Linie zog sich über das Head-up-Display die errechnete Kometen­ bahn. Ein roter Punkt blinkte auf ihr – der be­ rechnete Schnittpunkt, in dem Kometenbahn und MX-3-Kurse sich in zehn Minuten kreuzen würden. Der Punkt lag knapp fünfundneunzig­ tausend Kilometer über der Erdoberfläche.

Quälend langsam verstrichen Sekunden und Minuten. Minuten bangen Wartens. Mit bloßem Auge konnte Matt jetzt erkennen, wie die leuchtende Feuerkeule sich von Minute zu Minute vergrößerte. Ihr gleißender Schweif verdeckte schon fast zehn Prozent des Sichtfeldes und überlagerte die Helligkeit der Sterne. »Noch drei Minuten«, krächzte Smythes Stim­ me im Helmfunk. »Noch drei Minuten, dann wissen wir Be­ scheid … Die verdammte Strahlung … Hey, McKenzie, sie verstärkt sich, was sagen Sie dazu? Wieso stößt der Brocken plötzlich dop­ pelt so viele Neutronen aus?« »Das wissen die Götter, Professor.« Heiser klang Daves Stimme im Helmfunk. »Er strahlt wie hundert Atommeiler … noch zwei Minuten und zweiundzwanzig Sekunden …« »Sehen Sie sich das Schauspiel an, Comman­ der; erlebt man nicht alle Tage, was? Fast scha­ de, ihn kaputtzuschießen … Na ja, er oder wir … Als das letzte Mal so ein Riesenstern am Himmel zu sehen war, gabs den Homo sapiens noch nicht … Wahnsinn … Noch zwei Minuten bis zur Stunde der Wahrheit …« Welche Wesen werden in den Himmel sehen, wenn das nächste Mal ein Großer Auslöscher

in die Erdatmosphäre eindringt?, fragte sich Matt. Sicher keine Menschen mehr … »Unglaublich, einfach unglaublich … Dass ich so was mal zu sehen bekomme … wer hätte das gedacht …« Das Gerede im Helmfunk ging Matt auf die Nerven. Fast begeistert klang die hohe Stimme des Astrophysikers. Durch die rote Linie und die Raketensilhouetten auf dem Head-up-Dis­ play hindurch betrachtete Matt die heranra­ sende Feuerkeule. Nein, kalt ließ sie auch ihn nicht. Er hasste sie. Noch eine Minute und dreizehn Sekunden. Kein Ton im Helmfunk während der letzten sechzig Sekunden. Selbst Smythe schwieg. Die Raketen tauchten in die Koma des Kometen ein, um genau 16:29 Uhr und 36 Sekunden. Matt hielt den Atem an. »Gammastrahlung!« McKenzies Stimme. »Getroffen!«, schrie Smythe. Matt spähte in die Feuerkeule. Sie glühte auf, und er wartete, dass sie in einem gewaltigen bengalischen Feu­ er in Millionen von Lichtpunkten zersprang. »Nichts!«, schrie Smythe. »Als hätte er sie verschluckt! Achtundvierzig Sprengköpfe und kein Resultat – was bist du für ein unheimli­ cher Brocken? Das gibts doch nicht …«

»Eagle 1 an Bodenstation, kommen«, funkte Matt. »Bodenstation hört. Over.« »Objekt getroffen, aber keine Wirkung. Over.« Sekundenlanges Schweigen. Dann Major Bell­ manns Stimme, heiser und bedrückt: »Ver­ standen, Eagle 1. Viel Glück Ihnen und Ihrer Crew, Commander. Ende.« »Danke, Major. Ihnen auch. Over and out.« Wie betäubt starrte Matt auf den Kometen. Ende … es ist vorbei … 16:34 Uhr. Der Komet war noch vierundzwan­ zigtausend Kilometer entfernt. Die Spitze sei­ ner Glutkeule verfärbte sich orange. … viel Glück, Commander … der Kloß in seinem Hals schwoll an und drückte ihm die Tränen aus den Augen … »Wahnsinn!« Smythes Stimme im Helmfunk überschlug sich. »Das ist das absolut Größte, was ich je gese­ hen habe!« Wie berauscht schrie er seine Ein­ drücke heraus. Matt machte sich klar, dass ihn Welten von diesem Menschen trennten. »Dann schauen Sie genau hin«, knurrte er. »Es wird wahrscheinlich auch das absolut Letzte sein, was Sie in Ihrem Leben zu sehen kriegen!«

Eine rötliche Glutkuppel blähte sich vor der Kometenspitze auf. Zurück zur Basis, dachte Matt, warum? Sind wir hier oben nicht sicherer? »Schauen Sie doch!«, ereiferte sich der Pro­ fessor. »Haben Sie je so etwas Wunderschönes gesehen?« Matt konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Smythe gerade an der Schwelle zum Wahnsinn entlang balancierte. Ihm platzte der Kragen. »Verdammt, dieses wunderschöne Teufels­ ding wird in wenigen Minuten unsere gute alte Erde rammen!«, brüllte er zurück. »Und wahr­ scheinlich wird dann niemand mehr übrig sein, der irgendwas noch als ›wunderschön‹ bezeichnen kann!« Seine Handschuhe füllten sich mit Schweiß; bohrender Schmerz zuckte durch seinen Schädel. »Eagle 1 an Staffel, Kurs null neun sieben. Sinkgeschwindigkeit sechzig Fuß pro Sekunde. Unser Job ist erledigt. Wir fliegen zurück zur Basis …« »Kommt gar nicht in Frage, Commander!«, begehrte Smythe lautstark auf. »Sie beschleu­ nigen und steigen! Ich bin noch lange nicht fer­ tig mit meinen Messungen! Und vergessen Sie nicht, dass ich die wissenschaftliche Leitung der Mission innehabe!«

Der Mann hat tatsächlich den Verstand ver­ loren, dachte Matt. »Verflucht, Smythe!«, don­ nerte er. »In wenigen Minuten wird dieser Scheißbrocken in die Erdatmosphäre eintau­ chen! Weniger als sechstausend Meilen von unserer derzeitigen Position entfernt! Wissen Sie, was das bedeutet?« »Dass ich ihn dann ganz präzise beobachten kann!« Smythe war außer sich. »So etwas sieht man nur einmal in siebzig Millionen Jahren! Einmal in siebzig Millionen Jahren – geht das in Ihr Soldatenhirn, Drax?« »Aber die Strahlung, Sir!«, mischte Dave McKenzie sich ein. »Meine Messungen zeigen hohe Werte an. Woraus auch immer der Kern besteht – er strahlt wie eine Röntgenlampe!« Smythe stritt mit seinem Stellvertreter her­ um, und die Wut auf den Verrückten drängte Matts Verzweiflung für Augenblicke in den Hintergrund. »Wir fliegen zurück!«, brüllte er. »Ich lasse Sie vor ein Militärgericht stellen, Drax!«, tobte Smythe auf dem Sitz des Kopilo­ ten. »Tun Sie das – wenn Sie noch eins finden …« Die Maschinen kippten nach rechts ab, flogen eine lange Hundertachtzig-Grad-Schleife und

nahmen Kurs auf Berlin. Es war zu spät, und Matt wusste es … »Seht euch das an!« tönte Big Boys rauer Bass in Matts Kopfhörern. »O Gott …!«, stöhnte Jenny Jensen. Matt sah nach oben. Das blasse Orange an der Spitze der Kometenkoma hatte sich in glühen­ des Rot verwandelt. »Christopher-Floyd« trat in die Erdatmosphäre ein … In New York City stand Herbert Fuchs auf dem Dach des Plaza Hotel. Es schneite. Neben ihm standen Marc Christopher und Vivian. Sie hiel­ ten sich eng umschlungen und blickten in den Himmel. »Nur noch zwei oder drei Minuten«, sagte Archer Floyd. Er hockte vor Herbert auf dem geteerten Boden, und Herbert sah, wie er eine kleine Stechampulle und eine Spritze aus seiner Manteltasche kramte. Herbert nickte und zog an seinem Joint. Schoko lag unten im Zimmer in ihrem Bett; gleich nach dem Früh­ stück hatte sie eine Flasche Whisky aufge­ macht. Vermutlich war die Flasche inzwischen leer und Schoko betäubt. Das dichte Schnee­ treiben verhüllte die zahlreichen Rauchwol­ ken, die über New York City standen. Auch von den Bränden in Downtown war nur noch ein schwacher Feuerschein zu sehen. Die Zeltlager

unten im Central Park konnte Herbert schon nicht mehr erkennen, so dicht fiel der Schnee. Doch er hörte tausendstimmigen Gesang von dort unten. Er musste kichern. »Eine Beerdigung … eine globale Beerdigung! Sogar ein Leichentuch wird uns gegönnt!« Er lachte laut. Vor ihm kippte Archer Floyd seitlich um. Her­ bert bückte sich nach ihm. Eine Spritze steckte in seiner Ellenbeuge, kalter Schweiß bedeckte sein Gesicht. Er war bewusstlos. Herbert knie­ te sich neben ihn in den Schnee. »Gott im Him­ mel!«, lachte er. »Wie wichtig wir uns genom­ men haben …!« Er lachte in den Himmel hinein. Ein roter Schimmer schien über dem Schneetreiben zu glühen. In Paris stieg zur selben Zeit ein Mann in ei­ nem speckigen Lammfellmantel und mit wal­ lendem dunkelgrauen Haar in das Schaufens­ ter eines kleinen Spirituosenladens. Der Durst hatte ihn aus der Metrostation an der Biblio­ theke Nationale getrieben. Die Tür des Ge­ schäftes hatte offen gestanden. Er ließ sich zwi­ schen Flaschen und Fässchen nieder und suchte sich einen teuren Grappa aus. Bevor er die Flasche an die Lippen setzte, blickte er auf seine Armbanduhr. Jim Trash grinste ihm entgegen. Es war neunzehn Minu­

ten vor fünf. Am Schaufenster hetzten Men­ schenmassen vorbei. Nicht weit vom Plaza Hotel entfernt, auf dem Dach des General Electric Buildings, sah ein Mann die orangene Verfärbung des Himmels über dem Schneetreiben. »Der Herr kommt!«, schrie er. »Lasst uns ihm entgegen gehen!«, und neunundachtzig Männer und Frauen fass­ ten sich an den Händen und stürzten sich den Schneeflocken hinterher in die Straßen­ schlucht, unter ihnen Sue Bertram und Jeremy Saxon. Etwas weiter nördlich sagte Lea Cassidy zu ih­ rem Mann: »Wir schaffen es nicht bis zur Uni­ versität …« Sie befanden sich auf der Amster­ dam Avenue in Höhe der 112. Straße, also gar nicht mehr weit von der Columbia University entfernt. Patricia weinte laut. »Ich will es aber schaffen«, jammerte sie, »ich will noch nicht sterben! Ich bin doch noch so klein!« Burt nahm sie auf den Arm. »Du wirst noch nicht sterben …« Er konnte nur noch flüstern. Auf der anderen Straßenseite erkannte er die gotische Westfront der Cathedral of St. John the Divine hinter dem Schneetreiben. Liz und Lea hetzten schon über die Straße, Dennis in ihrer Mitte. Ein mattes Glühen erfüllte die

Luft. Burt drückte sein Töchterchen an sich und lief den Frauen hinterher. Das Portal stand offen, das Gemurmel beten­ der Menschen war zu hören. Vor einer der Portal-Säulen blieb er stehen – das Akanthus­ blatt auf dem Säulenschaft zog seinen Blick an. Statt aus der üblichen Ornamentik korinthi­ scher Säulen bestand es aus der zusammen­ stürzenden Skyline Manhattans! So oft hatte er die unvollendete Kathedrale zu Konzerten be­ sucht und nie war ihm aufgefallen, dass hier ein Architekt die Apokalypse dargestellt hatte! Verborgen auf dem Akanthusblatt einer Säu­ le! Ein Maya …, schoss es ihm durch den Kopf, einer der vorbereitet war … Liz packte ihn an der Jacke und zog ihn durch das Portal in die Kathedrale hinein. In Cambridge, im Smithsonian erhoben sich Louis Garfield, Christine Perlman und die we­ nigen anderen, die noch die Stellung hielten, von ihren Plätzen. Der Komet füllte die Lein­ wand an der Stirnseite des achteckigen Raum­ es vollständig aus. Er glühte tiefrot und zog eine schwarze Wolke aus Ruß hinter sich her. »Es ist so weit«, sagte Garfield. Und nicht weit von der Stelle, wo der Schnee vor dem General Electric Building auf die zer­ schmetterten Leichen von neunundachtzig

Männern und Frauen fiel, die dem Herrn ent­ gegen gehen wollten, hockte Timothy LaHaye zwischen fünf leeren Sesseln auf seinem Mode­ ratorensessel. Er trug einen weißen Anzug mit einem roten Binder, dazu rote Lackstiefel. Ka­ meras und Beleuchtungsanlage hatte er selbst eingeschaltet. »Ich begrüße Sie zur definitiv letzten Ausgabe von Timmys ewig unvergesslich bleibender Talkshow!«, krähte er ins leere Studio hinein. »Eine Sonderausgabe des MoonTalks!« Er stand auf und verbeugte sich. »Ich danke Ih­ nen, Ladies und Gentlemen, ich danke Ihnen! Heute ausnahmsweise am Mittwochabend und mit nur einem einzigen Gast!« Er riss beide Arme hoch, kicherte und krähte. »Einen donnernden Applaus für unseren Gast aus dem All – ›Christopher-Floyd‹!« Und etwa fünfzig Meter tief unter dem Grand Central Terminal hielt Washington Roots Sa­ rahs heißes feuchtes Gesicht zwischen den Händen und küsste sie zärtlich auf die Augen. Sie weinte, und er weinte auch, und hinter ih­ nen weinte ein Säugling. »Ein Junge«, sagte eine Afroamerikanerin. Die Hebamme hatte das Kind entbunden. Zwanzig Tage zu früh. »Wie soll er heißen?«

Roots blickte zu dem grauhaarigen Mann, der am Kopfende von Sarahs Pritsche saß und ihr den Schweiß von der Stirn wischte. Watonga deutete schweigend gegen die De­ cke. »Er heißt ›Christopher-Floyd‹«, sagte Roots … Wie eine abstürzende Sonne fauchte der Ko­ met durch die Stratosphäre. Immer noch hoch über der Jet-Staffel, stürzte er der Erde entge­ gen – eine unermessliche, rotglühende Faust, deren Inneres weiß loderte. Geblendet wandte Matt das Gesicht ab. Das ist nicht wahr, das ist ein Traum … Sein Bewusstsein vermochte die Wirklichkeit nicht zu erfassen. Doch die orange glühende Wolkendecke un­ ter ihm war Wirklichkeit. Plötzlich riss sie auf und eine unsichtbare Hand fegte die Wolken in alle Himmelsrichtungen davon. Und dann, als würde die Nacht jetzt schon über diesen Teil der Welt herfallen, breitete sich ein dunkler Schatten über Mitteleuropa aus. Stimmen im Helmfunk rissen ihn aus der Er­ starrung. Jemand fluchte, jemand stöhnte, je­ mand betete und jemand schrie: »Ich möchte wissen, wo er aufschlägt!« Smythes Stimme.

Matt brüllte Befehle ins Helm-Mikro, drückte die Steuersäule nach vorn, gab vollen Schub – und dann schlug eine unsichtbare Faust nach der Dreierstaffel. Die Maschine vibrierte und dröhnte, Geschrei und Knistern war in den Kopfhörern, ein kobaltblauer Flugzeugrumpf trudelte vor Matt durch die in orangenes Licht getauchte Stratosphäre. Der Komet schnitt ihre Flugbahn – Matt sah die brennende Faust der Erdoberfläche entgegen stürzen, sah ihn eine gewaltige Blase rotglühender Luftmassen vor sich herschieben, sah ihn Feuerfontänen hinter sich her ziehen und einen riesigen Schwarm auseinander spritzender Gesteins­ brocken. Matts Finger glitten über die Armaturen, fass­ ten Schalter, drückten Knöpfe. Immer wieder entglitt ihm der Steuerknüppel. Er wollte schreien, aber kein Ton drang aus seiner Keh­ le. Himmel und Erde rotierten, die Feuersäule des Kometen rotierte, das aufblitzende Blau ei­ nes anderen Jets unter dem Cockpit, darüber die plötzlich grün leuchtende Sichel des Mittel­ meers, Alpengipfel in rote Flammen getaucht. »Christopher-Floyd« verschwand hinter dem östlichen Horizont und für einen Moment huschte der orangene Schatten von der Erd­ oberfläche. Sekundenlang erschien alles in den

ursprünglichen Farben. Nur der Himmel woll­ te sich nicht mehr aufhellen. Und dann explodierte der Horizont. Smythe kreischte wie ein Besessener, stakka­ toartig und schrill. Matts Brustkorb wollte platzen, als ein heißer Blitz durch seinen Schädel schoss. Alles sah er plötzlich doppelt: das Staurohr des Jets, die In­ strumente, seine eigene Hand am Steuerknüp­ pel, die ringförmige Wand aus Feuer und Staub, die vom östlichen Horizont her nach Westen, Süden und Norden raste und die Dampfsäule, die hinter dem Horizont in den Himmel schoss. Dann fiel für Augenblicke fins­ terste Nacht auf sein Bewusstsein … Länger als zwei, drei Sekunden konnte er nicht bewusstlos gewesen sein. Denn als er die Au­ gen wieder öffnete, trudelte seine Maschine noch immer um ihre Längsachse. Blendendes Weiß traf seine Netzhäute wie Nadelstiche. Die automatische Tönung des Helms schien nicht zu funktionieren. »Was ist das?«, hörte er Smythe krächzen. Matt zwang sich die Augen offen zu halten: Stahlgrauer Himmel, ein milchiger Sonnen­ fleck, Schneegipfel und Gletscherhänge rotier­ ten um das Cockpit.

»Wir stürzen ab, Drax!«, kreischte Smythe. »Tun Sie was, um Gottes willen, tun Sie was …!« Benommen blinzelte Matt auf die Armaturen. 0,65 Mach zeigte die Geschwindigkeitsanzeige an und der Leuchtbalken des Höhenmessers rutschte eben unter die Zweitausend-Fuß-Mar­ ke. Beides war völlig ausgeschlossen – vor Sekun­ den noch war der Jet zehnmal so schnell und mehr als dreißigmal so hoch geflogen. Doch so oft Matt die Augen zusammenkniff – es blieb dabei: 0,65 Mach und inzwischen nur noch achtzehnhundert Fuß! »Wir verlieren an Höhe!« Wieder Smythes Stimme. »Tun Sie doch was, Drax!« Plötzlich schien er Angst um sein bisschen Leben zu ha­ ben. Matt riss die Steuersäule zu sich heran. Seine Finger flogen über die Instrumente. Er schalte­ te das Schlingerausgleichsgetriebe und das Hilfssystem zur Flugstabilisierung ein. Sein Blick hing am Headup-Display. Fast blind be­ dienten seine Hände die Instrumente. Endlich gelang es ihm, den Jet zu stabilisie­ ren. Jetzt blieb der graue dunstige Himmel, wo er hingehörte: oben. Und die Schneelandschaft fiel ihnen entgegen.

Noch immer verloren sie rapide an Höhe. Zwölfhundert Fuß, warnte der Höhenmesser. »Ich steig aus!«, brüllte Smythe. Matt bekam es kaum mit. Er versuchte die Triebwerke hochzufahren, doch sie reagierten nicht. Ein Knall und eisiger Wind – die Rettungsra­ kete schob den Kopilotensitz aus dem Rumpf der F-17. Matt drehte sich um und sah die Kup­ pel von Smythes Fallschirm zurückbleiben. Er griff nach dem Abzugshebel des eigenen Schleudersitzes. Nichts tat sich, nichts. Er brüllte seine Verzweiflung hinaus. Eiswind feg­ te ihm durch Mund und Nase bis ins Hirn. Schneegipfel, Eisklippen und Gletschermassen schossen an ihm vorbei. Jede Hirnzelle, jeder Nervenstrang, jede Faser seines Körpers kon­ zentrierte sich darauf, aus dem Absturz doch noch eine Notlandung zu machen. Der leuchtende Balken des Höhenmessers sackte haltlos nach unten. Bizarre Eisklippen stürzten dem Jet entgegen, dazwischen weite Schneefelder. Matt versuchte eines davon an­ zusteuern. Er riss seinen Blick von der gnadenlos heran­ rasenden Landschaft los. Seine Augen fixierten die Instrumente. Bei 0,42 Mach und neunzig Fuß Höhe fuhr Matt die Landeklappen herab und klinkte den Bremsfallschirm aus. Der

mörderische Ruck raubte ihm fast die Besin­ nung. Wie von einer Titanenhand wurde er nach vorn in die Gurte gepresst. Der Jet sackte nach unten. Bohrte sich in das Schneefeld und pflügte es um. Eine weiße Wol­ ke stäubte um Matt herum auf. Schnee drang ihm in Augen, Nase und Mund. Er keuchte, hustete. Die linke Tragfläche fegte knirschend an einer Eisklippe entlang. Dann ein metalle­ ner Schlag. Ein neuer Ruck ging durch den Jet. Die Konturen einer Tragfläche wirbelten pfei­ fend durch die Schneewolke. Matt spürte, dass sich der Jet um seine Vertikalachse drehte. Etwas traf ihn hart an Brust und Kopf. Als die Maschine mit dem Staurohr voran über ein Schneebrett kippte und sich in eine Eisspalte bohrte, war Commander Matthew Drax schon nicht mehr bei Bewusstsein. Aber er lebte. Nein, es war nicht das Ende. Es war der An­ fang …

8. Der Angriff der Taratzen kam ohne Vorwar­ nung. Plötzlich waren sie da, setzten fauchend und kreischend in großen Sprüngen den fla­ chen Schneehang hinauf, der Menschenhorde entgegen. Die Abwehr musste sich in Sekunden formieren. »Kinder, säugende Frauen und Schwangere bleiben zurück!«, brüllte Sorban. »Die Alten und Kranken nach vorn, mit Speeren und Äx­ ten! Dann die Schwertkämpfer! Dann die Halb­ wüchsigen mit Pfeil und Bogen!« Die Horde gehorchte. Aruula rannte hinter Radaan und einem anderen Krieger den Hang abwärts, zwischen ihnen und den heranstür­ menden Taratzen eine Vorhut von sieben Speerträgern. Todesmutig stellten sie sich den siebzehn Bestien in den Weg. Drei von ihnen wurden einfach überrannt und in den Schnee getrampelt. Den anderen gelang es zwei Taratzen aufzuhalten. Die grauschwarzen Bestien peitschten mit den Schwänzen nach ihnen und packten die Spit­ zen der Speere mit ihren langen dürren Klau­ en.

Aruula, Radaan und drei weitere Krieger eil­ ten den vier bedrängten Kämpfern der Vorhut zur Hilfe. Der Körper einer Frau zuckte im Schnee. Der Schwanz einer Taratze hatte sich um ihren Hals geschlungen. Aruula durch­ trennte ihn mit einem einzigen Schlag. Die Bestie schrie kreischend, sprang hoch, drehte sich in der Luft und setzte einen Schritt vor Aruula im Schnee auf. Sie riss ihre ge­ krümmte Schnauze auf und bleckte lange spit­ ze Zähne. Doch plötzlich wurde ihr Körper steif; sie warf den Schädel in den Nacken und sackte zusammen. Aruula sah die Spitze von Radaans Schwert aus ihrem Brustkorb ragen. Der Sohn des Häuptlings stand hinter der Ta­ ratze. »Du schuldest mir was!« Aruula traute ihren Augen nicht, aber selbst jetzt brachte der junge Heißsporn ein Grinsen zustande. Im nächsten Augenblick fiel es ihm wieder aus dem Gesicht. Er starrte an Aruula vorbei, und die Haut um seine Augen wurde bleich. »Vorsicht!«, brüllte er. Aruula ließ sich fallen und hielt gleichzeitig ihre Schwertspitze senkrecht nach oben. Ein grauschwarzer borstiger Körper prallte auf sie und drückte sie tief in den Schnee. Das Gewicht der Taratze presste die Luft aus Aruulas Lungen.

Sie rang nach Atem. Drahtige Haare füllten ihren Mund. Die Bestie über ihr zuckte ein paar Mal und erschlaffte dann. Sie war in die Klinge gesprungen. Aruula fühlte warme kleb­ rige Flüssigkeit über ihre Hände strömen. Sie arbeitete sich keuchend unter dem leblo­ sen Körper hervor, zog ihr Schwert aus dem Bauch der Taratze und schüttelte den Schnee aus dem Fellmantel und ihrem langen Haar. Menschliches Gebrüll und das Fauchen der Taratzen erfüllten den Hang. Aruula sah sich um. Baloor stand auf einem eisbedeckten Fels­ vorsprung, breitete die Arme zum Himmel aus, schleuderte Wudan seine verzweifelten Gebete entgegen und beschwor Orguudoo. Unter ihm rang der Häuptling allein mit einer Taratze, die einen Kopf größer als er selbst war. Sein Schwert steckte außerhalb seiner Reichweite im Schnee und das riesige Scheusal würgte ihn mit seiner eigenen Amulettkette. Mit einem Schrei rannte Aruula durch den Schnee auf den Häuptling und die Bestie zu. Sie schwang das Schwert über ihrem Kopf. Die Taratze sah sich nach ihr um, bleckte die Zäh­ ne. Ein höhnisches Grinsen verzerrte ihre pel­ zige Grimasse.

Der Häuptling röchelte. Seine Augen traten weit aus den Höhlen und sein Gesicht hatte die Farbe verfaulten Fischs angenommen. Aruula wollte sich auf die Taratze stürzen, als diese ihren Schwanz peitschen ließ. Er wickel­ te sich um Aruulas Beine und riss sie in den Schnee. Die Bestie stieß fauchende Trium­ phlaute aus. Im Liegen holte Aruula aus und schlug zu. Die Klinge traf den Oberschenkel der Taratze. Re­ flexartig zog sie den Schwanz ein und zog so Aruula näher heran. Die packte ihr Schwert wie einen Spieß und rammte es dem Schwarz­ pelz in die Flanke. Die Taratze ließ von Sorban ab und warf sich seitlich in den Schnee. Auf einmal erfüllte ein leises Summen die Luft. Es schwoll rasch an und wurde zu einem orkanartigen Pfeifen. Als würde ein Sturm durch die Eisklippen fegen. Als würden die Götter sprechen! Der Kampflärm verstummte. Alle blickten sie in den trüben Himmel, Menschen und Tarat­ zen. Selbst die Verwundeten. Keiner bewegte sich, keiner gab mehr einen Laut von sich. Das Pfeifen verwandelte sich mehr und mehr in dröhnendes Brüllen. Es klang jetzt wie das Donnern großer Fluten.

Plötzlich fiel ein Schatten auf den Berghang vor der Höhle. Und ein seltsamer Vogel schob sich über den zerklüfteten Berggipfel. Sehr hoch flog er. Höher, als man einen Pfeil schießen konnte. Und er zog einen feurigen Schweif hinter sich her. Er bewegte seine Flü­ gel nicht, hatte weder Federn noch Flughäute – ganz starr war er und flog trotzdem. Sein dröh­ nendes Gebrüll war so laut, dass es weh tat. Aruula und die meisten anderen pressten ihre Hände gegen die Ohren. Die Taratzen begannen zu fiepen und zu krei­ schen. Einige wälzten sich im Schnee hangab­ wärts. Andere folgten ihnen taumelnd oder mit großen Sprüngen. Ihre Ohren waren weit emp­ findlicher als die der Menschen. Panik brach unter den Bestien aus und gipfelte in wilder Flucht. Auch die von Aruula verletzte Taratze robbte wimmernd den Hang hinab. Aruula kümmerte sich nicht um sie. Fasziniert und erschrocken zugleich hing ihr Blick an dem blauen Vogel. Er sank dem Eisgebirge entgegen. Plötzlich blähte sich eine weiße Halbkugel hinter ihm auf. Dann verschwand er hinter einem Glet­ scherkamm. Aruula blickte sich um. Alle Taratzen waren geflohen. Nur vier Kadaver blieben zurück.

Aber auch einige Mitglieder der Horde sah sie im blutgetränkten Schnee liegen. »Wudan!«, brüllte Baloor plötzlich. »Wudan hat mich erhört! Das war sein Abgesandter!« Er sprang von dem vereisten Felsen in den Schnee. »Wudan hat uns gerettet!« Bewegung kam in die Horde. Sie folgten Ba­ loors Beispiel, ließen sich auf die Knie sinken und priesen den Höchsten der Götter. Fast eine Stunde waren sie damit beschäftigt, ihre Toten im Schnee zu begraben. Fünf Män­ ner, drei Frauen und einen halbwüchsigen Knaben hatten sie verloren. Sie taten es schweigend und unter dem Gemurmel ihres Göttersprechers. Baloor betete und beschwor die Geister der Getöteten. Aruula sah, dass fast alle immer wieder ver­ stohlen zum Himmel blickten. Jeder Mann der Horde, jede Frau, jedes Kind schien nur noch an eines zu denken: an den Göttervogel mit der donnernden Stimme und dem Feuerschweif. Auch Aruula sah ihn ständig vor ihrem inneren Auge. Als sie sich daran machten, die toten Taratzen zu enthäuten und zu schlachten, gab es nur noch ein Gesprächsthema: der blaue Feuervo­ gel. Baloors Autorität überzeugte jedes einzel­

ne Hordenmitglied. Am Abend zweifelte nie­ mand mehr daran, dass der Feuervogel ein Un­ sterblicher aus Wudans Götterheer gewesen war. »Wudan hat uns seit Monden begleitet«, ver­ kündete der Göttersprecher. »Er allein hat uns bis hierher gebracht! Heute hat er verhindert, dass deine Sippe ausgerottet wurde, Sorban! Und er wird uns auch ins gelobte Südland be­ gleiten!« »Gelobt sei Wudan!«, kam es vielstimmig aus der Dunkelheit. »Warum ist er weitergezogen?«, meldete sich Zurpa zu Wort. »Warum hat er sich nicht bei uns niedergelas­ sen?« »Wir ertrügen seinen Anblick nicht«, antwor­ tete der Göttersprecher. »Seid glücklich, dass er euch gewürdigt hat, ihn vorbeiziehen zu se­ hen.« Andächtige Stille trat ein. Aruula lauschte in die Dunkelheit. Sie spürte Ehrfurcht und Schrecken. Noch nie hatte jemand gehört, dass sich ein Gott einem Menschen gezeigt hätte. »Es sah aus, als würde der Göttervogel landen wollen«, sagte sie. »Vielleicht will er uns persönlich begleiten«, mutmaßte Sorban.

»Ich meine – sodass er mitten unter uns ist und wir ihn sehen.« »Und mit ihm reden können«, bekräftigte Ra­ daan eifrig. »Narren!«, wehrte Baloor ab. »Ihr wisst nicht, was ihr redet!« »Vielleicht hast du Recht«, warf Zurpa ein. »Aber wenn Wudan einen seiner Götter ge­ schickt hat, um uns sicher ins Südland zu gelei­ ten – gewiss hat der Gott dann eine Gestalt an­ genommen, die wir ertragen können.« »Welcher der Götter mag es wohl sein?« Ra­ daans Stimme bebte vor Ehrfurcht. »Ich weiß es nicht.« Baloor schwieg eine Zeit­ lang, als würde er nachdenken. »Vielleicht Sig­ waan. Man sagt, er reite auf einem großen Vo­ gel, wenn er die Erde besucht. Ja, Sigwaan wird es sein.« »Vielleicht hat Zurpa Recht«, sagte Sorban. »Wenn Sigwaan bei uns wäre, würden die ver­ fluchten Taratzen nicht mehr wagen, uns anzu­ greifen.« »Es ist gefährlich, Sorban, sehr gefährlich.« Die Stimme des Göttersprechers nahm einen beschwörenden Klang an. »Nie hat ein Mensch gewagt, einem Gott gegenüber zu treten.«

»Wir wagen es«, beschloss der Häuptling. »Morgen werden wir uns auf den Weg machen und den Gott und seinen Feuervogel suchen.« Im Gänsemarsch stapften sie über Schneefel­ der, eisgesäumte Kämme und steile Hänge. Sie hatten keinen Frekkeuscher bei sich. Die Reitund Lasttiere besaßen eine starke Ausdüns­ tung; die Taratzen konnten ihre Witterung über große Entfernungen hinweg aufnehmen. Sorban wollte einen Angriff der Taratzen auf seinen Suchtrupp unter allen Umständen ver­ meiden. Dafür hatte er ihnen Schneeschuhe überlassen. Sie waren aus Grünholz geflochten und wurden unter die Stiefelsohlen gebunden. So versank man nicht im Schnee. Eine fremde Horde, die an den nördlichen Hängen des Eis­ gebirges lebte, hatte ihnen diesen Trick ge­ zeigt. Baloor ging an der Spitze des Suchtrupps. Ihm folgten der Sohn des Häuptlings und Aru­ ula. Beide hatten sich die Fellscheiden mit den großen Schwertern auf den Rücken gebunden. Von den drei Kriegern hinter ihnen waren zwei mit Bögen und einer mit einem Speer be­ waffnet. Alle waren sie in Felle gehüllt. Alle au­ ßer Baloor, der wie immer sein braunes, abge­ nutztes Lederzeug trug.

Der verwaschene Fleck der Sonne stand im Zenit, als sie eine Hochebene erreichten. Von hier aus konnten sie nach Süden in zahlreiche enge Täler und auf einige Hänge und Glet­ scherausläufer blicken. Der blaue Feuervogel war nirgends zu erkennen. »Wir suchen die seitlichen Abhänge der Hochebene ab«, ordnete Baloor an. Er schickte Aruula und Radaan nach Westen und nahm einen der Bogenschützen mit sich zum östli­ chen Abhang der Hochebene. Die restlichen zwei Krieger wies er an, noch höher aufzustei­ gen. »Vielleicht entdeckt ihr Sigwaan von dort oben aus«, sagte er. Sie trennten sich. Aruula marschierte hinter Radaan her. Am westlichen Rand der Ebene spähten sie hinunter auf ein leicht abfallendes Schneefeld. Eine breite Spur durchzog es. So gerade, als wäre sie mit einem Speer gezogen worden. Am Ende der Spur klaffte eine große kreisrunde Mulde. Auf beiden Seiten der Fur­ che hatte sich ein Schneewall aufgeworfen. »Dort ist der Göttervogel gelandet.« Aruula deutete auf das Schneefeld hinunter. Radaan wiegte zweifelnd den Kopf. »Und warum sehen wir ihn dann nicht?«

»Er ist vom Schneefeld gesprungen«, sagte Aruula. »Irgendwo dahinter sitzt er und wartet auf uns.« Radaans Augen glänzten. »Klettern wir hin­ unter und sehen nach.« Er konnte es kaum er­ warten, dem Gott Auge in Auge gegenüberzu­ stehen. Sie suchten einen Einstieg in den Steilhang, der von der Hochebene hinunter zum Schnee­ feld führte. Über einen kaminartigen Spalt kletterten sie hinab. Die Spur war so tief, dass Aruula darin stehen konnte, ohne die Oberfläche des Schneefeldes zu sehen. Eine spiegelglatte Eisfläche zog sich über ihren Grund. Am Rand häufte sich teil­ weise schmutziger Schnee. Staunend schritten sie durch den Hohlweg aus Schnee und Eis. »Da!« Aruula deutete auf einen blauen Keil. Am Rande der Spur ragte er aus dem Schnee. »Das gehört zu dem Göttervogel.« Radaan klet­ terte die Schneeaufwerfung hinauf. Er packte den Keil – aber der ließ sich nicht bewegen. Er grub ihn aus dem Schnee, und je tiefer er grub, desto länger und breiter schien das rätselhafte Ding zu werden. »Es sieht aus wie der Flügel des Göttervogels!«, rief Aruula zu ihm hinauf.

Radaan, der über Bärenkräfte verfügte, um­ klammerte die Spitze des Flügels mit beiden Armen und riss so lange daran herum, bis er ihn endlich aus dem Schnee ziehen und in die breite Furche hinunter biegen konnte. Kra­ chend knallte das Wrackteil aufs Eis. Aruula ging in die Hocke und betastete es. Hart wie Eisen fühlte es sich an. Es war etwas länger als Aruula und verjüngte sich an einem Ende. Das blaue Ding erinnerte sie an die Schneide einer Streitaxt. Nur dass es viel grö­ ßer und sehr dünn war. Radaan sprang vom Schneefeld hinunter in den Hohlweg. Nachdenklich betrachtete er das fremdartige blaue Ding. »Wenn es ein Teil des Göttervogels ist, dann scheint der Vogel sich verletzt zu haben«, sagte er schließlich. »Dann ist vielleicht auch Sigwaan verletzt …!« Der Gedanke erschreckte Aruula. Sie rannten los und erreichten das andere Ende des Schneefeldes. Dort brach die breite Schneefurche einfach ab. Bäuchlings robbten sie an den Abgrund heran und spähten den Steilhang hinab. Der war von unzähligen Eisspalten und Höh­ len zerklüftet. Eisbedeckte Steinvorsprünge und Felsnadeln ragten aus ihm heraus. Dann stockte Aruula der Atem.

Einen halben Speerwurf weit unter ihnen steckte der Göttervogel mit dem Schnabel vor­ an in einer schmalen Eisspalte. Schnee lag auf seinem glatten blauen Gefieder; Schnee auch vorn in der Sattelvertiefung. Etwas Rundes be­ wegte sich dort, eine kopfgroße Kugel. Sie schimmerte bläulich. Das Haupt des Got­ tes! Und dann sah Aruula die beiden Gestalten im Schneefeld vor der Eisspalte, in welcher der Göttervogel steckte. Sie hielt den Atem an und fasste Radaans Arm. »Taratzen!« Sie duckten sich in den Schnee und spähten zu den beiden Bestien hinunter. Hochaufge­ richtet stapften sie auf den Hinterläufen durch den tiefen Schnee. Ihre schwarzen Pelze waren gesträubt und ihre nackten langen Schwänze peitschten auf und ab und wirbelten den Schnee hinter ihnen auf. Ihre Ohren drehten sich in alle Richtungen. An den schmalen Schnauzen zitterten die drahtigen Haare. Spit­ ze gelbe Zähne ragten aus schwarzen lederarti­ gen Lefzen. Schritt für Schritt näherten sie sich dem Göttervogel. Sie wollten den Gott, ohne Zweifel – sie wollten den Gott! Aus schmalen Augen beobachtete Aruula die verhassten Bestien. Seit sie vor vier Monden den Großen Fluss überquert hatten, verfolgten

die Schwarzpelze sie. »Möge Orguudoos Fins­ ternis die verfluchten Schwarzpelze verschlin­ gen«, zischte sie und griff über ihre Schulter nach dem Schwert. Radaan hielt ihren Arm fest. »Was hast du vor?« »Das, wozu Sorban uns ausgesandt hat – den Gott ins Lager bringen.« »Wir sind nur zu zweit«, flüsterte Radaan. »Sie werden uns zerfleischen. Warten wir auf Baloor und die anderen Späher. Bestimmt sind sie nicht mehr weit.« »Wenn wir die Schwarzpelze nicht angreifen, werden sie Sigwaan aus seinem Vogel ziehen und in ihre Höhlen bringen.« Sie zog ihr Schwert aus der Fellscheide auf dem Rücken. »Das darf nicht geschehen!« Entschlossen sprang sie auf und stieg in eine der Eisspalten hinab. Was blieb Radaan übrig? Er zog ebenfalls sein Schwert, lief ein Stück nach rechts und sprang in den Hang. Rücklings rutschte er auf das Schneefeld hinunter. Aruula sah ihn mit ge­ zücktem Schwert auf das Schneefeld laufen, noch bevor sie selbst den Fuß des Hanges er­ reichte hatte. Sein Kampfschrei hallte von den Schneehängen wider. Die Taratzen spähten

ihm entgegen. Dann duckten sie sich zum Sprung. Endlich erreichte sie selbst das Schneefeld. Ihre Fellstiefel pflügten durch den hohen Schnee. Sie brüllte so laut sie konnte – und tat­ sächlich, die Bestien zögerten einen Atemzug lang. Bis eine in großen Sätzen auf Radaan los­ stürmte – und die zweite auf sie. Aruula schrie ununterbrochen. Alle Wut brüllte sie heraus und ihre Entschlossenheit, um jeden Preis zu siegen. Der Schwarzpelz jag­ te auf sie zu, machte einen gewaltigen Satz und sprang vier Schritte vor ihr in den Schnee. Eine nasse weiße Wolke hüllte Aruula ein. Sie schwang das Schwert vor ihrem Körper, um sich die Bestie vom Leib zu halten. Die täuschte einen Angriff an, zuckte zurück und schnellte blitzartig in die Flanke der Kriegerin. Aruula bog sich zur Seite und stieß gleichzeitig zu. Ein harter Widerstand fuhr durch ihre Handgelenke. Die Klinge hatte das Schulter­ blatt der Bestie getroffen. Die Taratze fauchte, rollte sich durch den Schnee und richtete sich sofort wieder auf den Hinterläufen auf. Aruula hörte einen Schmerzensschrei – einen menschlichen Schrei! Das Schwert wie einen Spieß vor dem Körper gezückt, blickte sie an der Taratze vorbei.

Einen Speerwurf hinter ihrem Gegner wirbelte Radaans Körper durch die Luft und prallte in den Steilhang. Sein Schwert schlug auf den Leib des Göttervogels und verursachte ein me­ tallenes Klirren. Statt dem Verletzten nachzusetzen, ließ sich die zweite Taratzen auf ihre Vorderläufe nie­ der. Sie spähte zu ihrem Gefährten und zu Aru­ ula herüber, fauchte und sprang heran. Einen Atemzug später standen sie ihr beide mit ge­ spreizten Klauen gegenüber. Aruula dachte an die Greisin mit dem gütigen klaren Blick – an »Wudans Auge«. Ihre Stim­ me war plötzlich in Aruulas Kopf: Fürchte dich nicht!Ein mächtiger Elnak Wudans geht an deiner Seite … Tausende wird dein Schwert fressen … Aus den Augenwinkeln blickte sie zum Götter­ vogel im Hang. Das Haupt des Gottes bewegte sich. Es war, als würde er sie beobachten, als würde er sie bitten, nicht aufzugeben. Sie brüllte die Bestien an, stach nach der einen, schlug nach der anderen und täuschte Hiebe an, doch die Schwarzpelze ließen sich nicht beirren. Sie fielen auf ihre Vorderläufe und näherten sich langsam. Ihre Schwänze peitschten drohend durch den Schnee.

Weiße Wolken hüllten ihre knotigen Schenkel ein; der Schnee knirschte unter ihren Klauen. Plötzlich schnellte der linke Angreifer vor – ein brüllender Schatten flog auf Aruula zu. Schneller als sie denken konnte reagierte ihr Körper – sie duckte sich, riss das Schwert hoch und zog es der Taratze quer über die Brust. Die Bestie schlug schwer zu Boden; der Schnee um sie herum färbte sich rot. Doch schon setzte die zweite Taratze nach. Die Klauen des Schwarzpelzes fuhren in ihren Fellmantel und rissen ihn ihr vom Leib. Aruula drehte sich um sich selbst, überließ der Bestie den Mantel und streckte im Herumwirbeln die Klinge des Schwertes weit von sich. Der Stahl beschrieb einen flirrenden Halb­ kreis, in den sich auf halber Strecke ein rotes Sprühen mischte. Aruula spürte den Ruck kaum, mit dem die Schneide auf Widerstand traf. Der Kopf der Taratze fiel in den Schnee, Se­ kunden bevor der erschlaffte Körper folgte. Die schwarzen Knopfaugen darin waren in Verblüffung und Schrecken erstarrt. Aruula wirbelte herum, suchte nach dem zweiten Gegner – und entspannte sich. Auch dieser Angreifer war tot. Seine Innereien dampften im Schnee.

Sie steckte ihr Schwert in die Rückenscheide, schleppte sich zu ihrem Fellmantel und zog ihn über. Dann wankte sie durch den Schnee zu dem Göttervogel. Der Leib des Vogels fühlte sich hart und kalt an. Genau wie der große Kugelkopf des Gottes. Statt eines Gesichtes hatte er eine dunkle, aber durchsichtige Hülle. Und darunter blickten Aruula Augen entgegen, Augen wie die eines Menschen. Die harte Kugel war kein Kopf – sie war eine Art Helm. Aruula griff nach dem fremdartigen Helm und zog ihn dem Gott vom Kopf. Er hatte ein menschliches Gesicht. Blonde Haare klebten schweißnass auf dem Kopf. Die Hand des Got­ tes zitterte, als sie sich hob und in ihr Haar fasste. Behutsam tastete sie ihre Wangen, ihre Nase, ihren Mund ab. Aruula Herz klopfte. Ein Schauer nach dem anderen rieselte über ihren Rücken. Zum ers­ ten Mal in ihrem Leben blickte sie einem Gott ins Gesicht. »Sigwaan?«, fragte sie scheu. Der Gott antwortete nicht. Aruula klopfte mit der Faust gegen ihre Brust. »Aruula«, sagte sie. Sie deutete auf ihn. »Sig­ waan?« Jetzt öffnete sich der Mund des Gottes. »Matt … Matt Drax«, murmelte er kraftlos.

»Maddrax …«, wiederholte Aruula. Es war nicht Sigwaan – es war der Gott Maddrax. Aru­ ula hatte noch nie zuvor von ihm gehört, aber das musste nichts heißen. Wudans Götterheer war groß. Sie wusste nicht, was ein Pilot war. Sie hatten nie von der US Air Force gehört. Genau so we­ nig wie sie wusste, dass sie einem Menschen aus der Vergangenheit gegenüber stand. Aus einer Zeit, die endlos lange zurück lag mit ih­ ren Städten, Autobahnen, Armbanduhren und Düsenjägern. Aber sie ahnte dunkel, dass ihr Leben nach der Begegnung mit Maddrax nie mehr so sein würde wie zuvor …

Epilog Alles Rauschen, Wispern und Raunen, alle Bilderströme, Empfindungen und Gedanken bäumten sich auf zu einem einzigen stummen Schrei. Die Lebens-Auren in seiner Umgebung vibrierten, und auch sein eigener Geist pul­ sierte wild wie ein kochender Glutsee. Ein letztes Mal strömte es klar und kraftvoll aus dem Zentrum des Wandlers, ein letztes Mal berührte der Sol jede einzelne LebensAura. (Ein Spalt im Zeitgefüge hat sich aufgetan), sendete der Sol. (Etwas ist durch die Fuge ge­ stürzt.) (Wohin?) Staunen von allen Seiten. (Wir wissen es nicht, doch es ist bedeutungs­ los. Und nun seid stark. Ihr kennt unsere Be­ stimmung. Sol’daa’muran leuchte und wärme euch …) Die Berührung des Sols endete, seine Gedan­ ken verschwammen mit dem wilden Pulsieren unzähliger Auren. Est’sil’bowaan spürte, wie die Lebenskraft in den Randbezirken nachließ – ganze symbiotische Einheiten wurden zer­ rissen.

Dann perlte es wie Seufzen durch seinen Geist – und dann Stille. Ein einziges konzen­ triertes Lauschen um ihn herum. (Das Ziel), kam es von irgendwo her. Die Lan – ihre Lebens-Aura glühte so weit entfernt von ihm, dass er ihre Gedankenströme nur ganz schwach ertasten konnte. (Sind wir am Ziel, Est’sil’bowaan?) (Ja, Liob’lan’taraasis, wir sind am Ziel. Ge­ duld brauchen wir jetzt. Viele Gestirnumkreisungen lang Geduld. Ein großes Werk will getan werden …)

Was bedeuten orangene Pfeile?

Der orange Pfeil ist ein „Umlenkungspfeil“. Laut dem Bundesamt für Straßenwesen (BASt) wird das Verkehrsschild in der Straßenverkehrsordnung (StVO) den sogenannten „Richtzeichen“ zugeordnet und trägt die Nummer „467.1“.

Was bedeuten die orangenen Pfeile auf der Autobahn?

Es handelt sich bei diesem Verkehrszeichen um einen sogenannten Umlenkungspfeil. Dieser soll Ihnen eine alternative Strecke zeigen, welche in aller Regel ein weniger hohes Verkehrsaufkommen als Ihre aktuelle Route hat.

Was bedeutet oranges Schild?

Logischerweise – wie die meisten durchgestrichenen Verkehrsschilder – bedeutet es „Umlenkungspfeil Ende“ (467.2.). Dieses Schild ist auf Autobahnen also am Ende der alternativen Strecke zu finden. Nicht nur der orange Pfeil sorgt bei Autofahrern für Fragezeichen.

Was gilt bei diesem Verkehrszeichen oranger Pfeil?

Wir haben des Rätsels Lösung: Bei dem großen orangen Pfeil, der auf schwarzumrandeten weißen Schildern prangt, handelt es sich um einen sogenannten „Umlenkungspfeil“. Das Verkehrszeichen, das – wie beispielsweise auch der „Rote Punkt“ – den Verkehrsfluss leiten soll, ist so ausschließlich auf Autobahnen zu finden.