Was sagt gorbatschow zum krieg in der ukraine

Drei Monate vor seinem Tod war Michail Gorbatschow offenbar nicht mehr in der Lage, ans Handy zu gehen, so der gut informierte Journalist Alexander Gamow in der "Komsomolskaja Prawda". Er berichtete darüber, wie der frühere Staatsmann die letzten zweieinhalb Jahre fast durchgängig in einer Sonderabteilung des Moskauer Zentralkrankenhauses verbrachte. Am Telefon habe er sich ständig über seine "Appetitlosigkeit" und über vier "schwierige" überstandene Operationen beklagt: "Aber er verlor nie seine Geistesgegenwart."

"Er war wie ein ketzerischer Pharao"

Gorbatschow sei in seiner weltgeschichtlichen Rolle vergleichbar mit dem ägyptischen Pharao Echnaton, befand Wladimir Worsobin ebenfalls in der "Komsomolskaja Prawda": "Er brach in unsere muffige Welt ein wie ein verzweifelter, ketzerischer Pharao, der plötzlich eine neue Religion für seine Untertanen erfand, nämlich die Vorform des Monotheismus, den Sonnengott. Zu Lebzeiten des Pharao bauten die Ägypter voller Erstaunen Tempel für die neue Gottheit, und als er starb, zerstörten sie ihn und versuchten, das 'Experiment' zu vergessen. Aber es hat nicht geklappt. Der Monotheismus hat, wenn auch erst nach tausend Jahren gesiegt." Der "Sonnentempel" von Gorbatschow, in dem Perestroika, Glasnost, Demokratie und Weltoffenheit gepriesen worden seien, werde "schnell in Vergessenheit" geraten: "Von allen Seiten."

"Er ist verärgert"

Beliebt war Michail Gorbatschow bei den jetzigen Machthabern im Kreml nicht, und auch im russischen Parlament hatte er nur noch ganz wenige Bewunderer. Noch im Juli hatte der frühere Chefredakteur des Radiosenders "Echo Moskau", Alexej Wenediktow, in einem Interview geäußert, Gorbatschow sei "verärgert" über den Angriff auf die Ukraine, der vom russischen Präsidenten Wladimir Putin entfesselt worden sei: "Er hat nicht öffentlich gesprochen. Ich kann Ihnen aber versichern, er ist verärgert. Natürlich versteht er alles."

Gorbatschow sei überzeugt gewesen, dass Putin "sein gesamtes Erbe, sein Lebenswerk zerstört" habe. Allerdings hatte Gorbatschow selbst 2018 Putins "harte Hand" ausdrücklich gelobt: "Ich glaube, er steht an der richtigen Stelle. Dieser Ort ist durch Anstrengungen vieler bis zum Äußersten verunreinigt, aber es war notwendig, ihn zu stabilisieren, damit er nicht auseinanderfällt."

Putin: "Großartige humanitäre Aktivitäten"

Putin schrieb in seine Beileidstelegramm ziemlich reserviert: "Michail Gorbatschow war ein Politiker und Staatsmann, der einen großen Einfluss auf den Lauf der Weltgeschichte hatte. Er führte unser Land in einer Zeit komplexer, dramatischer Veränderungen, umfassender außenpolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen. Er verstand zutiefst, dass Reformen notwendig waren, er bemühte sich, seine eigenen Lösungen für dringende Probleme anzubieten." Er wolle besonders die "die großartigen humanitären, wohltätigen und erzieherischen Aktivitäten" hervorheben, die Gorbatschow in den letzten Jahren durchgeführt habe.

TASS: "Sympathien wichen Enttäuschung"

Im Nachruf der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS heißt es, viele Russen hielten Gorbatschow für die "Wurzel allen Übels". Sie störten sich an seinen "politischen Fehleinschätzungen bis hin zu persönlichen Schwächen". Auch seine "Vorliebe für endloses Geschwätz mit Rechtschreibfehlern" und "lustigen Wortspielen" seien unrühmlich in Erinnerung, sogar sein Verhältnis zur Ehefrau Raissa habe ihm öffentlich Probleme bereitet, weil er "die eigensinnige Lady zu sehr verwöhnt" habe: "Im Allgemeinen wichen in der Sowjetunion, einschließlich Russland, die anfängliche Sympathie für ihn und die optimistischen Erwartungen, die mit seiner Machtübernahme verbunden waren, allmählich einer Enttäuschung."

Aufschlussreich sind die Zitate, die TASS anlässlich von Gorbatschows Tod aus dessen Leben zusammenfasste. Das allererste unter ihnen lautet: "Die Prinzipien der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verteidigen, jede Möglichkeit der Machtübernahme ausschließen, abenteuerliche Aktionen – das sollte immer die Sorge der Gesellschaft und des Staates sein. Ich glaube, dass der demokratische Weg der Entwicklung Russlands der einzig richtige ist, dass sich unser Land nur auf diesem Weg weiterentwickeln und alle Probleme lösen kann." Gorbatschow hatte die Worte zum 30. Jahrestag des Umsturzversuchs russischer Militärs und Ideologen im August 2021 gesprochen.

"Es gab eine Fehlkalkulation"

Selbst der einstige Protokollchef von Gorbatschow, Wladimir Schewtschenko, konnte sich nicht zu einem vorbehaltlos positiven Nachruf durchringen: "Die Ära von Gorbatschow ist die Ära der Perestroika, die Ära der Hoffnungen, die Ära unseres Eintritts in die raketenfreie Welt, in der einzigartige Verträge unterzeichnet wurden. Es gab allerdings eine Fehlkalkulation: Wir kannten unser Land nicht gut genug, wir kannten unsere Nomenklatura nicht gut genug. Immer heißt es, dass wir die Union zerstört haben, aber wir haben nichts zerstört, unsere Union ist kollabiert. Unsere Gemeinschaft zerbrach, das war unsere und seine Tragödie."

Der russische Parlamentsabgeordnete Oleg Morosow ist laut Nachrichtenagentur RIA Nowosti ziemlich sicher, dass Michail Gorbatschow in seinen letzten Lebenstagen "Buße" getan und seine Taten auf Erden "bereut" hat: "Dann hat er diese Welt mit Freude im Herzen verlassen. Ich möchte das glauben, weil ich diese Person kannte, mit ihm gesprochen habe." Es sei ein "mystischer Zufall", so Morosow von der Putin-Partei "Einiges Russland", dass Gorbatschow während des Ukraine-Krieges gestorben sei, denn schließlich sei der Mann mitverantwortlich gewesen für die "moderne und ungerechte" Weltordnung, die die russischen Soldaten nun niederringen müssten.

"Kann das Pathos nicht teilen"

Dagegen wollte Alexander Khinshtein, der Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Informationspolitik und ebenfalls einer der propagandistischen Scharfmacher des Kreml, dem im Alter von 91 Jahren verschiedenen Gorbatschow per Telegram-Eintrag keine hämischen Worte nachrufen: "Ich kann das Pathos von Menschen nicht teilen, die einen noch nicht erkalteten Körper verleumden. Das ist weder menschlich noch fromm: Egal, wie man den Verstorbenen einschätzt. Ich habe mein eigenes Verständnis von Gorbatschows Persönlichkeit und seiner Rolle in der Geschichte. Aber heute, am Tag des Todes von Michail Sergejewitsch, halte ich mich lieber mit Urteilen zurück." Entweder "gut oder gar nicht" über Gorbatschow zu sprechen, empfahl auch der Parlamentsabgeordnete Oleg Nilow.

"Größter positiver Beitrag zur Geschichte"

Weniger pietätvoll war der erste stellvertretende Vorsitzende der Fraktion der Kommunistischen Partei in der Staatsduma, Nikolai Kolomeitsew. Er nannte den Verstorbenen einen "Verräter, der die UdSSR zerstört" habe: "Ein Präzedenzfall für Verrat von ganz oben. Das ist ein Synonym für Verrat." Politikwissenschaftler Sergei Markow meinte: "Er war ein großer Politiker. Der berühmteste Politiker des späten 20. Jahrhunderts. Und gleichzeitig gilt er als der Politiker, der den größten positiven Beitrag zur Geschichte der Menschheit im 20. Jahrhundert geleistet hat, seit er abgesetzt wurde: Die weltweite Bedrohung durch einen Atomkrieg zu verringern."

Senator Alexander Baschkin schien hin- und hergerissen in seiner Einschätzung: "Eine bemerkenswerte Person seiner Ära. Viele Menschen sprechen über seine Fehler und über den Verfall, über die Gewinne und Verluste unseres Landes. Aber Sie müssen es immer noch schaffen, ein so schwieriges Leben zu bewältigen und doch so optimistisch zu bleiben. Deshalb halte ich ihn immer noch für einen prominenten und klugen Politiker."

"Er ist eine historische Figur"

Der ehemalige Menschenrechts-Funktionär Michail Fedotow würdigte Gorbatschow mit den Worten: "Die Tatsache, dass er Russland zu einer allgemeinen zivilisatorischen Entwicklung zurückgebracht hat, ist eine großartige Sache, dann wurde er durch Jelzin und die nachfolgenden Staatsoberhäupter ersetzt, aber es war Gorbatschow, der den wichtigsten Schritt gemacht hat, und wir müssen in Erinnerung behalten, dass er eine historische Figur ist, ein Mann, der die Menschheit vom Abgrund eines Atomkriegs weggerissen hat und dank dem die Teilung der Welt in Blöcke – in die Blöcke des Warschauer Pakts und der NATO aufgehört hat."

"Erbärmlich für ein großes Land"

Leonid Slutsky, der Ausschussvorsitzende für Internationale Angelegenheit in der Duma, urteilte weniger gnädig: "Gorbatschow war natürlich der klügste Politiker seiner Zeit. Aber für alle, die in der Sowjetunion geboren wurden, bleibt er eine komplexe und umstrittene historische Figur. Es ist um Gottes Erbarmen bedauerlich. Und ebenso erbärmlich für ein großes Land, dessen Zusammenbruch gerade in der Ära der 'Perestroika' und des 'neuen Denkens' seinen Anfang nahm und denen in die Hände spielten, die versuchten, die UdSSR von der politischen Weltkarte zu tilgen."

Alexej Kudrin, der Chef der russischen Behörde für Rechnungsprüfung und einer der wenigen Kriegs-Skeptiker in Putin unmittelbarer Umgebung, schrieb dagegen deutlich emotionaler: "Michail Gorbatschow, der Autor des 'neuen Denkens' und der Perestroika, die dem Land und der ganzen Welt einen neuen Atem geben sollten, ist tot. Eine historische Persönlichkeit von großem Ausmaß. Eine leuchtende Erinnerung."

"Für immer in Dankbarkeit"

Die russische Politikwissenschaftlerin Jekaterina Shulman sagte: "Er war ein Mann, der den Menschen Hoffnung gab – damit sie unter den grauen, staubigen sowjetischen Felsbrocken hervorkommen und auf Ihre eigene Weise und menschlich leben konnten. Der Mann, der meiner Generation ein paar Jubiläumsjahre beschert hat – mit der Beseitigung aller Verbote. Ein Mann, der, da bin ich mir sicher, die Welt vor einem Atomkrieg bewahrt und uns allen mindestens 35 Jahre Leben beschert hat, und nicht die schlimmsten 35 Jahre. Ein Mann, der sich nicht an die Macht klammerte und an eine Welt glaubte, in der man ohne Feindschaft, Aggression und gegenseitiges Misstrauen leben kann, der liebte und geliebt wurde. Für immer in Dankbarkeit."

1996 hatte Gorbatschow, der 1990 den Friedensnobelpreis erhielt, als Kandidat an den damaligen russischen Präsidentschaftswahlen teilgenommen, er bekam lediglich 0,51 % der Stimmen und wurde damit Siebter von insgesamt zehn Bewerbern.

Michael Gorbatschow war nach Angaben von TASS am späten Abend des 30. August im Moskauer Zentral-Krankenhaus nach "langer und schwerer Krankheit" verstorben.

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Trauer um Michail Gorbatschow

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Wie starb Gorbatschow?

30. August 2022Michail Sergejewitsch Gorbatschow / Sterbedatumnull

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