Wer ist an der katastrophe von tschernobyl schuld

Am 26. April 1986 kam es im Atomkraftwerk von Tschernobyl zum bisher schwersten Unfall in der Geschichte der Kernenergie. Zwei Explosionen zerstörten einen der vier Reaktorblöcke und schleuderten radioaktives Material in die Atmosphäre, das weite Teile Russlands, Weißrusslands und der Ukraine verseuchte. Die radioaktive Wolke zog bis nach Mitteleuropa und zum Nordkap.

Von Martina Frietsch, Christiane Gorse und Wiebke Ziegler

Neuer Abschnitt

  • Beginn einer Versuchsreihe
  • Reaktor außer Kontrolle
  • Der Reaktor musste gelöscht werden
  • Die Liquidatoren
  • Kein ausreichender Schutz für Liquidatoren
  • Evakuierung und Einrichtung einer Sperrzone
  • Gesundheitliche Folgen
  • Die Suche nach den Ursachen
  • Unsichere Reaktortechnik

Beginn einer Versuchsreihe

Am 25. April 1986 startete die Reaktormannschaft in Block 4 des Atomreaktors von Tschernobyl eine Versuchsreihe. Es sollte überprüft werden, ob bei einem Stromausfall die Rotationsenergie der Turbine ausreichen würde, um ausreichend Strom zu produzieren, bis die Notstromaggregate laufen. Der Reaktor sollte für diese Zeit in Betrieb bleiben. Das Notkühlsystem und weitere Sicherheitssysteme wurden ausgeschaltet. Allmählich wurde die Leistung des Reaktors verringert.

Nach kurzer Zeit musste das Experiment wegen einer Stromanforderung unterbrochen werden. Es konnte erst nachts fortgesetzt werden. Das Notkühlsystem blieb – entgegen der Sicherheitsbestimmungen – in der Zwischenzeit ausgeschaltet.

Kurz nach 23 Uhr wurden die Vorbereitungen für den eigentlichen Versuch wieder aufgenommen. Das Versuchsprotokoll sah vor, den Reaktor auf etwa 25 Prozent seiner Leistung herunterzufahren. Doch die Leistung sank innerhalb kürzester Zeit auf weniger als ein Prozent der Nennleistung. In diesem Bereich lief der Reaktor nicht mehr stabil. Der Grund für diesen Leistungsabfall ist bis heute ungeklärt.

Anstatt den Reaktor abzuschalten, versuchten die Techniker, die Leistung wieder zu steigern. Dazu wurden die Regelstäbe, mit deren Hilfe die Leistung des Reaktors gesteuert wurde, aus dem Reaktorkern herausgezogen. Die Leistung stabilisierte sich daraufhin auf etwa sieben Prozent – immer noch zu wenig für den sicheren Betrieb des Reaktors.

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Die Schaltzentrale im AKW Tschernobyl

Reaktor außer Kontrolle

Der Versuch wurde trotzdem gestartet. Die Techniker schlossen die Sicherheitsventile der Turbinen und verringerten damit die Wasserzufuhr im Reaktor. Innerhalb von Sekunden stieg die Reaktorleistung rapide an. Der Schichtleiter versuchte eine Notabschaltung – ohne Erfolg. Die Leistung stieg weiter – auf das geschätzte 100-fache der Nennleistung des Reaktors.

Um den Reaktor zu bremsen, hätten die Regelstäbe wieder komplett in den Reaktorkern eingefahren werden müssen. Ein Vorgang, der 18 bis 20 Sekunden dauert. So viel Zeit blieb der Mannschaft nicht mehr. Der Druck, der sich im Reaktor durch das aufgeheizte und verdampfende Wasser aufgebaut hatte, war bereits zu hoch. Durch die extremen Temperaturen hatten sich die Stäbe verbogen und passten nicht mehr in die vorgesehenen Einschublöcher.

Es kam zu einer ersten Explosion, bei der Teile des Reaktors und des 64 Meter hohen Reaktorgebäudes zerstört wurden. Der Grafitmantel des Reaktors begann zu brennen. Radioaktives Material wurde in die Atmosphäre geschleudert. Wenige Sekunden nach der ersten Explosion kam es zu einer zweiten Detonation. Das Feuer griff auf das Dach von Block 3 über. Der Qualm trug Unmengen radioaktives Material in die Atmosphäre.

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Um 1.23 Uhr explodierte der Reaktor in Tschernobyl

Der Reaktor musste gelöscht werden

Um das Ausmaß der Katastrophe einzudämmen, musste der Reaktor gelöscht werden. Noch in der Nacht des 26. April begannen die Feuerwehrleute damit, Kühlwasser in den Reaktorkern zu pumpen. Als das fehlschlug, wurden Militärhubschrauber organisiert, mit deren Hilfe man Blei, Bor, Sand und Lehm von oben ins Feuer abwarf – insgesamt rund 5000 Tonnen Material.

Dies führte jedoch zum gegenteiligen Effekt: Durch die Abdeckung erhöhte sich die Temperatur. Es wurden noch mehr radioaktive Materialien freigesetzt. Erst als der Reaktor – zehn Tage später – mit Stickstoff gekühlt werden konnte, war der Brand unter Kontrolle.

Damit der Reaktor keine Radioaktivität mehr an die Umwelt abgeben konnte, beschloss man, ihn komplett zu ummanteln und abzudecken. Bis zum Herbst 1986 wurde daher ein sogenannter Sarkophag aus Beton um den Reaktor gebaut. Er war für eine Dauer von 20 bis 30 Jahren ausgelegt, doch bereits nach einigen Jahren zeigten sich schwerwiegende Schäden.

1997 wurde bei einer internationalen Konferenz, an der sich unter anderem die G7-Staaten, Russland, die Ukraine und die Europäische Union beteiligten, der Bau einer neuen Hülle beschlossen, die den zerstörten Reaktor für mindestens 100 Jahre sicher umgeben soll. 2015 wurde die neue Schutzhülle fertig gestellt.

Die Liquidatoren

Insgesamt waren bei den Aufräumarbeiten und der Errichtung des ersten Sarkophags schätzungsweise 600.000 bis 800.000 Männer im Einsatz, sogenannte Liquidatoren.

Liquidatoren hießen sie, weil sie die Folgen der Katastrophe liquidieren, also beseitigen sollten. Roboter, die für die Aufräumarbeiten eingesetzt werden sollten, blieben einfach stehen, weil die Elektronik angesichts der hohen Strahlenbelastung versagte.

So schickten die Verantwortlichen, noch während der Reaktor brannte, Männer aufs Dach der Reaktorblöcke. Sie sollten das herauskatapultierte Grafit und andere strahlende Brocken, die durch die Explosion nach außen geschleudert worden waren, mit Schaufeln zurück in den Krater werfen.

In welcher Lebensgefahr sich die Liquidatoren durch die unvorstellbar hohe Strahlendosis am Reaktor befanden, sagte ihnen niemand.

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800.000 Liquidatoren waren im Einsatz

Keine ausreichenden Schutzmaßnahmen für die Liquidatoren

Als Schutzmaßnahme sollten die Männer nur 45 Sekunden auf dem Dach bleiben sowie einen Bleischutz vor der Brust und auf dem Rücken tragen. Doch was sind 45 Sekunden, um mit Blei ausgestattet über eine Leiter auf ein meterhohes Dach zu klettern, um dort zu arbeiten?

Die jungen Männer wollten zupacken – von der unsichtbaren, tödlichen Strahlung merkten sie nichts. Also blieben sie länger und legten teilweise die Schutzkleidung ab, weil es zu heiß war.

Auch als unter dem Reaktor ein Tunnel gegraben wurde, um eine Betonschicht unter den Reaktorkern zu ziehen, der sich nach unten ins Grundwasser durchzufressen drohte, arbeiteten die Männer ohne weiteren Schutz.

300 Millisievert wurde als Grenzwert für die radioaktive Belastung der Liquidatoren festgesetzt. Strahlenmediziner wie der Münchner Professor Edmund Lengfelder gehen aber davon aus, dass viele Männer das Zehnfache abbekommen haben. Das ist 300.000 Mal so viel, wie in Deutschland als durchschnittliche Jahresdosis als unbedenklich gilt.

Evakuierung und Einrichtung einer Sperrzone

Obwohl den Verantwortlichen die Gefahr bewusst war, kümmerten sie sich vor allem um die Eindämmung der Katastrophe, nicht aber darum, die Bevölkerung zu informieren und über die Gefahren aufzuklären.

Es vergingen anderthalb Tage, bevor die Gegend um den Reaktor von Tschernobyl evakuiert wurde. Allein in der Stadt Prypjat lebten fast 50.000 Menschen, die überwiegend in dem Kraftwerk arbeiteten. Am 27. April 1986 wurde die Bevölkerung dann mit Bussen weggebracht.

135.000 Menschen wurden von den Behörden insgesamt umgesiedelt. Weitere 300.000 schlossen sich an, weil die Sperrzone, die dann wie mit einem Zirkel im 30-Kilometer-Radius um den Reaktor gezogen wurde, mitten durch Dörfer verlief. So zerbrachen Gemeinschaften und Wirtschaftseinheiten. Die nur wenige Kilometer vom Unglücksort entfernte Stadt Prypjat ist heute eine Geisterstadt.

Auch außerhalb des 30-Kilometer-Radius' waren viele Gebiete hoch verstrahlt. Nach 1990 wurden teilweise so hohe Strahlendosen gemessen wie im direkten Umkreis des Reaktors. In der Nähe der weißrussischen Stadt Gomel wurde deswegen noch nachträglich eine Sperrzone eingerichtet. Fünf Jahre lang hatten die Menschen dort ahnungslos gelebt.

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Seit dem 27. April 1986 eine Geisterstadt: Pripjat

Gesundheitliche Folgen

Aus der regionalen Katastrophe wurde ein globales Problem, das mächtig am Image der Kernkraft kratzte. Noch heute leiden die Menschen in den betroffenen Regionen in der Ukraine und in Weißrussland an den Folgen der radioaktiven Verseuchung.

Schwere Erkrankungen, vor allem der Schilddrüse, und eine Krebsrate, die 30-mal so hoch ist wie die vor der Katastrophe, machen das Ausmaß deutlich.

Die sogenannte Strahlenkrankheit bedeutet, dass die Körperzellen und roten Blutkörperchen zerstört werden und sich die Schleimhäute auflösen. Die Haut wird durch extreme Strahlung zerstört. Auch die Niedrigstrahlenbelastung greift den Körper an: Fehlfunktionen der Schilddrüse sind in der Ukraine und in Weißrussland noch heute ein großes Problem.

Genaue Zahlen, wie viele Menschen wirklich an den Folgen des Unglücks gestorben sind, sind schwer zu ermitteln. Die Krankenakten der Liquidatoren werden unter Verschluss gehalten und stehen behandelnden Ärzten nicht zur Verfügung.

Strahlenmediziner gehen davon aus, dass mehr als 50.000 Liquidatoren an den Folgen gestorben sind. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) erklärt dagegen fast schon zynisch, dass nur rund 30 Menschen an der direkten Strahleneinwirkung gestorben sind.

Die Suche nach den Ursachen

Auch Jahrzehnte nach dem Unglück ist nicht abschließend geklärt, was in Tschernobyl wirklich geschah. Bei der Rekonstruktion des Unglücks und der Suche nach den Ursachen waren die Wissenschaftler vor allem auf Augenzeugenberichte angewiesen.

Von den entstandenen Schäden versuchten sie Rückschlüsse auf die Ereignisse zu ziehen. Trotzdem ist noch immer unklar, was den ursprünglichen Leistungsabfall und letztendlich die beiden Explosionen auslöste.

Unsichere Reaktortechnik?

Wissenschaftler sind sich einig, dass viele unterschiedliche Faktoren zum größten anzunehmenden Unfall (GAU) führten. Vor allem die Bauart des Reaktors gilt auch heute noch als Sicherheitsrisiko.

Damit es innerhalb des Reaktorkerns zu einer kontrollierten Kettenreaktion kommen kann, benötigt man einen sogenannten Moderator, der ein Neutron abbremst, bevor es ein Uran-Atom spaltet. Sind die Neutronen ungebremst, kommt es nicht zur Kernspaltung und es wird keine Kernenergie freigesetzt.

In den meisten Kernkraftwerken wird als Moderator Wasser verwendet. Es handelt sich entweder um Siedewasser- oder Druckröhrenreaktoren. Reaktoren dieser Art stehen auch in Deutschland.

Im sogenannten RBKM-Reaktor oder Siedewasser-Druckröhrenreaktor in Tschernobyl diente Grafit als Moderator. Hier liegt der entscheidende Nachteil: Grafit ist brennbar. Zwar werden die Brennstäbe mit Wasser gekühlt, in Tschernobyl wurde die Wasserzufuhr jedoch ausgeschaltet. Die Brennstäbe erhitzten sich innerhalb weniger Sekunden auf etwa 2000 Grad. Das Grafit fing an zu brennen.

Nach der Katastrophe von Tschernobyl begannen Russland, Litauen und die Ukraine mit der Nachrüstung ihrer RBMK-Reaktoren. Einige sind bis heute am Netz.

Wer war verantwortlich für Chernobyl?

Ursache waren gravierende Mängel in der Bauweise des sowjetischen Reaktortyps RBMK und eklatante Defizite in der Sicherheitskultur. Durch grobfahrlässige Fehler der Bedienungsmannschaft geriet ein Reaktor bei Tests zur Notstromversorgung ausser Kontrolle und explodierte.

Wie kam es zum Super GAU in Tschernobyl?

Reaktor im Block 4 stand vor einem Test Dieser Test, der den Komplettausfall der externen Stromversorgung simulieren sollte, war Auslöser einer Reihe von menschlichem Versagen, die letztendlich zum Unglück führten.

Wer hat in Tschernobyl das Wasser abgelassen?

Dass das Wasser aus dem Reaktor abgelassen werden musste, wurde irgendwo oben entschieden. Der Auftrag ging dann an die Regierungskommission, dann an die Leitung des AKWs und dann an Ananenko, Bespalow und Baranow, die während der Schicht Dienst hatten.

War Deutschland von Tschernobyl betroffen?

Mit der Luft wurde radioaktives Material aus Tschernobyl über ganz Europa verteilt. Ein großer Teil gelangte wegen nordwestlicher Winde nach Skandinavien. Aber auch Deutschland war betroffen. Vor allem Bayern und der Südosten Baden-Württembergs, weil es dort Anfang Mai 1986 besonders heftig regnete.