Wer ist klüger mann oder frau

London - Intelligenztests gibt es seit rund hundert Jahren. Lange Jahrzehnte waren die Ergebnisse in Bezug auf den Geschlechterunterschied relativ gleichbleibend: Frauen lagen im Schnitt rund fünf Punkte hinter den Männern. Führende Wissenschaftler im Bereich der Intelligenzforschung deuteten das als Hinweis darauf, dass genetische Unterschiede die Ursache sein müssten.

Und nun das: Dieses Jahr liegen die Frauen erstmals vorn - ihr IQ ist im Durchschnitt höher als der von Männern. Das schreibt die britische "Sunday Times". Die Tendenz habe sich schon in den vergangenen Jahren angedeutet - der Unterschied zwischen den Werten der Geschlechter habe sich zuletzt immer weiter verkleinert.

Die Zeitung beruft sich in ihrem Bericht auf den neuseeländischen Wissenschaftler James Flynn, der sich bereits seit Jahrzehnten mit Intelligenztests befasst. "In den vergangenen hundert Jahren hat der IQ von Männern und Frauen zugenommen, aber bei den Frauen schneller." Das sei eine Konsequenz der Moderne, sagte Flynn der "Sunday Times". "Die Komplexität der modernen Welt erfordert eine Anpassung unserer Gehirne und lässt damit den IQ steigen." Eine mögliche Erklärung für die deutlichere Zunahme des IQ bei Frauen ist laut Flynn deren anspruchsvolle Lebensführung. Sie müssen heute multitasking-fähig sein: einerseits den Beruf meistern und in der Regel auch noch die Familie managen.

Ein weiterer Faktor für den Trend ist laut Flynn, dass Frauen sich ihres vollen geistigen Potentials erst langsam bewusst würden.

Der "Sunday Times" zufolge will Flynn seine Erkenntnisse in einem Buch veröffentlichen. Allerdings seien zuvor weitere Datenerhebungen nötig, um den Trend zu erklären. "Der Effekt der Moderne auf Frauen beginnt grade erst, sich auszuwirken."

Flynn hat bereits in den achtziger Jahren für Aufsehen gesorgt. Ihm war damals aufgefallen, dass die durchschnittliche Intelligenz in den Industrieländern innerhalb von 50 Jahren deutlich gestiegen war - im Schnitt um drei bis acht Prozent. Das Phänomen erhielt später den Namen "Flynn-Effekt". Für Deutschland errechnete er etwa einen Zuwachs an Intelligenz von 17 Punkten zwischen 1954 und 1981. Als Ursachen sah er zwei Faktoren: Zum einen die verbesserte Ernährung und zum anderen schon damals die wachsende Komplexität der modernen Welt, die ein immer abstrakteres Denken voraussetzt.

Geschlechtsstereotype sind nicht starr und unveränderbar wie bisher angenommen: Eine Studie von Christa Nater und Sabine Sczesny vom Institut für Psychologie der Universität Bern sowie Forschenden der Northwestern University (USA) zeigt, dass diese sich entsprechend der sozialen Rollen von Frauen und Männern in einer Gesellschaft verändern. «Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich die Rollen von Frauen und Männern in den USA wie in vielen westlichen Nationen gravierend gewandelt», sagt Christa Nater. «Entsprechend haben sich auch die Vorstellungen über die Eigenschaften von Frauen und Männern geändert», so die Psychologin weiter.

Meta-Analyse untersucht Daten von über sieben Jahrzehnten

Die Forschenden um Christa Nater und Sabine Sczesny analysierten sechzehn national repräsentative Meinungsumfragen, die zwischen 1946 und 2018 in den USA mit insgesamt mehr als 30‘000 erwachsenen Befragten durchgeführt wurden. Dabei untersuchten sie innerhalb dieser Meinungsumfragen drei Stereotype: Communion (charakterisiert durch Eigenschaften wie mitfühlend, sensibel, liebevoll), Agency (wie ehrgeizig, aggressiv, entscheidungsfreudig) und Kompetenz (wie intelligent, organisiert, kreativ) – und ob die Befragten der Meinung waren, dass diese Eigenschaften eher Frauen, eher Männern oder gleichermassen beiden zugeschrieben werden. Nater erklärt: «Zwar gibt es viele Studien zu Geschlechtsstereotypen, aber keine andere Studie hat deren Veränderung über viele Jahrzehnte anhand repräsentativer Stichproben untersucht.» Die Studie wurde im American Psychologist publiziert.

Kompetenz-Stereotyp veränderte sich über die Zeit hinweg

Die Forschenden kommen zum Schluss, dass sich das Kompetenz-Stereotyp im Laufe der Jahrzehnte dramatisch verändert hat. So gaben etwa in der Meinungsumfrage von 1946 nur 35% der befragten Personen an, dass Männer und Frauen gleichermassen intelligent sind. Von denjenigen, die glaubten, dass es einen Unterschied zwischen Mann und Frau gibt, erachteten die meisten der Befragten Männer als kompetenter. Im Gegensatz dazu glaubten im Jahr 2018 ganze 86% der Befragten, dass Männer und Frauen gleichermassen intelligent sind. Von den Befragten, die einen Unterschied sahen, glaubten 9% dass Frauen intelligenter sind, und nur 5% dass Männer intelligenter sind. Die Forschenden stellen zudem fest, dass sich unterschiedliche Gruppen von Befragten im Allgemeinen über diese Stereotype einig sind: Beispielsweise schrieben die Befragten der aktuellsten Meinungsumfrage von 2018 Kompetenz häufiger Frauen als Männern zu, unabhängig von ihrem eigenen Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Hochschulausbildung, Familienstand, Beschäftigungsstatus oder Geburtskohorte.

Gewisse Stereotype halten sich

Die Studienergebnisse über die kommunalen und agentischen Stereotype überraschen: Die Wahrnehmung von Frauen als kommunaler und von Männern als agentischer hat sich seit den 1940er Jahren nicht wesentlich verändert – im Gegensatz zur verbreiteten Annahme, dass sich die Geschlechterrollen angleichen würden. «Kommunale Stereotype haben sich sogar noch verstärkt, so dass Frauen über die Zeit hinweg als noch mitfühlender, liebevoller und sensibler wahrgenommen werden als Männer», so Nater. Männer gelten nach wie vor als ehrgeiziger, aggressiver und entschlossener als Frauen und dieser Glaube hat sich seit den 1940er Jahren nicht wesentlich verändert.

Ursachen für sich verändernde Stereotype

Menschen beobachten Frauen und Männer in unterschiedlichen sozialen Rollen und leiten daraus Eigenschaften ab, die die Geschlechtsstereotype ausmachen. «Geschlechtsstereotype spiegeln somit die soziale Position von Frauen und Männern in der Gesellschaft wider und ändern sich daher nur, wenn sich diese Positionen verändern», erklärt Sabine Sczesny. Die Forschenden interpretieren die Studienergebnisse folgendermassen: Die zunehmende Erwerbsbeteiligung und Bildung von Frauen geht wahrscheinlich mit der Zunahme ihrer wahrgenommenen Kompetenzen einher. Die berufliche Segregation und die Aufteilung der häuslichen Rollen liegen jedoch den Erkenntnissen des kommunalen und agentischen Stereotyps zugrunde. «Als Frauen in grosser Zahl eine bezahlte Beschäftigung angetreten haben, konzentrierten sich ihre Jobs weiterhin auf Berufe, die soziale Kompetenzen belohnen oder einen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Und Frauen verbringen im Durchschnitt ungefähr doppelt so viel Zeit mit Hausarbeit und Kinderbetreuung wie Männer», sagt Sczesny. «Im Gegensatz dazu konzentrieren sich Männer auf Führungsrollen und Berufe, die körperliche Stärke, Wettbewerb, sowie analytische, mathematische und technische Fähigkeiten erfordern», so Sczesny weiter.

Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt

«Wie die Ergebnisse der aktuellen Studie zeigen, sollten die gegenwärtigen Stereotype die Beschäftigung von Frauen fördern, da Kompetenz für praktisch alle Jobs eine Anforderung ist», merkt Sczesny an. Ausserdem würden zunehmend soziale Kompetenzen belohnt, was die grössere wahrgenommene Kommunalität von Frauen zu einem zusätzlichen Vorteil mache. Die Ergebnisse seien jedoch nicht nur positiv für Frauen, fügt Sczesny hinzu: «Die meisten Führungspositionen erfordern mehr agentische als kommunale Eigenschaften, und das geringere Ausmass an Ehrgeiz, Aggressivität und Entscheidungsfreudigkeit, das Frauen im Vergleich zu Männern zugeschrieben wird, ist ein Nachteil in Bezug auf Führung.»

Publikationsdetails:

Eagly, A. H., Nater, C., Miller, D., Kaufmann, M. & Sczesny, S. (2019), «Gender stereotypes have changed: A cross-temporal meta-analysis of U.S. public opinion polls from 1946-2018.», in: American Psychologist. https://doi.org/10.1037/amp0000494