Wer wurde wie sein mutmaßlicher Mörder beigesetzt?

Wie dumm kann ein Mörder eigentlich sein? Ist es vorstellbar, dass ein Attentäter, der sich sorgfältig auf einen Anschlag vorbereitet und der auch seine Fluchtroute genau ausgearbeitet hat, wenige Meter entfernt vom Tatort nicht nur die Tatwaffe, sondern zugleich gewissermaßen seine „Visitenkarte“ zurücklässt?

Eingewickelt in eine Decke finden Polizisten in Memphis, Tennessee, am frühen Abend des 4. April 1968 im Eingang eines Geschäfts in der South Main Street ein schweres Jagdgewehr der Marke Remington mit Zielfernrohr, auf dem sich klare Fingerabdrücke erkennen lassen. Außerdem eine Bierdose, eine Zeitung und ein Fernglas.

Kurz zuvor ist keine 100 Meter entfernt Martin Luther King erschossen worden, der schwarze Baptistenprediger und Anführer der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Längst setzt er sich nicht mehr nur für die Gleichberechtigung der Nichtweißen in der amerikanischen Gesellschaft ein, sondern auch für ein Ende des Krieges in Vietnam. Spätestens seit der Verleihung des Friedens-Nobelpreises 1964 gilt King als moralische Instanz. Seine hellhäutigen Feinden im konservativen Süden und Osten der USA sehen in ihm dagegen einen Kryptokommunisten.

Martin Luther King, der Anführer der Bürgerrechtsbewegung in den USA

Quelle: AFP/Getty Images

Anfang April 1968 ist der Bürgerrechtler nach Memphis gekommen, um einen Protestmarsch zugunsten streikender Müllmänner zu unterstützen. Am Nachmittag des 4. April hält er sich im Zimmer 306 im ersten Stock des Motels „Lorraine“ auf, einem von schwarzen Besitzern geführten Haus. Dieses Appartment hat einen offenen Zugang, der leicht von einer gegenüber gelegenen, billigen Pension aus eingesehen werden kann.

Und genau hier mietet sich am Nachmittag des 4. April ein Weißer ein, der den Namen „John Willard“ ins Gästebuch einträgt und dann gleich wieder wegfährt, um ein Fernglas zu kaufen. Am späten Nachmittag blockiert „Willard“ zum Ärger der anderen Gäste für längere Zeit das Gemeinschaftsbad des Flurs – bis genau 18.01 Uhr.

In diesem Moment schlägt eine Kugel in Martin Luther Kings Kopf, als er gerade vor der Tür seines Zimmers etwas frische Luft schnappt. Der Bürgerrechtler bricht zusammen, seine geschockten Freunde eilen zu ihm und lassen ihn so schnell wie möglich ins nächste Krankenhaus bringen. Doch um 19.05 Uhr müssen die Ärzte den Kampf um Kings Leben endgültig aufgeben.

Etwa so muss James Earl Ray aus dem Fenster einer billigen Pension auf Martin Luther King geschossen haben

Quelle: picture-alliance / dpa

Wenige Sekunden nach dem einzelnen Schuss, so erinnern sich später zwei Gäste der Pension, verlässt „Willard“ fluchtartig den Waschraum, im Arm ein langes Bündel. Ein anderer Zeuge sieht, wie ein weißer Mustang mit quietschenden Reifen anfährt und verschwindet. Um 18.30 Uhr geht die erste Beschreibung des Tatverdächtigen und seines Autos über Funk an alle Streifenwagen.

Trotzdem kann sich der Fahrer, der 40-jährige James Earl Ray, den Fahndern entziehen: Mit dem weißen Mustang, den er kurz zuvor unter falschem Namen gekauft hat, fährt er nach Atlanta, übernachtet dort, steigt in einen Greyhound-Bus nach Detroit, wo er schließlich den Zug nach Toronto nimmt. Von hier aus fliegt er über London nach Portugal, wo er seine weitere Flucht nach Afrika vorbereiten will. Auf dem Rückweg nach London jedoch wird er am 8. Juni 1968 im Flughafen Heathrow festgenommen. Nach 65 Tagen geht damit eine der spektakulärsten Menschenjagden der Kriminalgeschichte zu Ende.

Gegen Ray, der bereits lange vor seiner Festnahme anhand der Fingerabdrücke eindeutig als mutmaßlicher Täter identifiziert worden ist, sprechen erdrückende Indizien: Er ist nachweislich in der Pension gewesen, als die Schüsse fielen; er hat (unter falschem Namen) ein zur Mordmunition passendes Gewehr gekauft, auf dem sich seine Fingerabdrücke finden; er hat unmittelbar nach dem Schuss fluchtartig sein Quartier verlassen; er ist nach Europa geflüchtet, als er längst steckbrieflich gesucht wird. In seinem Prozess gesteht James Earl Ray den Mord und wird am 10. März 1969 zu 99 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Der in London verhaftete Mörder James Earl Ray wird in die USA überführt. Er trägt eine schussichere Weste

Quelle: picture alliance / Everett Colle

Der Mord an Martin Luther King scheint aufgeklärt. Als Motiv hat der Angeklagte Hass auf sein farbiges Opfer angegeben. Unklar bleibt allerdings, wer Ray mit falschen Papieren versorgt, wer ihn bei seiner Flucht unterstützt hat. Über seine mutmaßlichen Auftraggeber schweigt Ray sich aus.

Doch auch ohne diese Information liegt der Fall scheinbar klar: Der in eine arme Familie geborene Ray hat ein bescheidene Karriere als Kleinkrimineller hinter sich, die ihn mehrfach ins Gefängnis geführt hat. Im April 1967 ist er ausgebrochen und hat sich seither in ganz Nordamerika herumgetrieben, von Mexiko bis Kanada, von Florida bis Kalifornien.

Drei Tage nach dem Urteil allerdings widerruft Ray sein Geständnis und nimmt den Kampf um einen Revisionsprozess auf. Seither ist nicht mehr nur umstritten, wer ihm den Mordauftrag gegeben, sondern auch, ob es überhaupt Ray war, der Martin Luther King erschossen hat.

Im Fall Ray bilden sich fortan seltsame Koalitionen. Die Witwe glaubt nicht an die Schuld des verurteilten Mörders ihres Mannes und verlangt die erneute Untersuchung in einem Hauptverfahren. Ihr Sohn bittet sogar ausdrücklich um Gnade für den Gefangenen. Der Verurteilte selbst verfasst ein Buch, in dem er seine Unschuld beteuert, und der ehemalige King-Mitarbeiter Jesse Jackson schreibt dazu das Vorwort.

Ein Kranz am Balkongitter des ehemaligen "Lorraine"-Motels in Memphis markiert die Stelle, an der Martin Luther King am 4. April 1968 erschossen wurde

Quelle: picture alliance / zb

Zahlreiche Theorien kursieren. Laut den einfacheren ist der Bürgerrechtler einer Konspiration von Rassisten zum Opfer gefallen, die den Mörder James Earl Ray bezahlt und mit allem Nötigen für Vorbereitung und Flucht ausgestattet haben. Nach den komplizierteren wurde Martin Luther King gar nicht von James Earl Ray erschossen, sondern von einem Scharfschützen des FBI, der an einer anderen, viel näher gelegenen Stelle gelauert hat. Ray ist danach nur der vorbereitete Sündenbock, der bereits planmäßig ein knappes Jahr vor dem Attentat vom FBI aus dem Gefängnis befreit worden und danach systematisch zum Verdächtigen aufgebaut worden ist.

Im Abstand von fast 20 Jahren stellten zwei US-Autoren umfassende und seriöse Untersuchungen über den Fall Ray an. Ende der 70er-Jahre kommt James W. Clarke zu dem Ergebnis: „Es ist keine Frage, dass Rassismus zum Mord an Dr. King führte; aber er war nicht das Motiv von James Earl Ray – er erwartete, mit dieser Tat das große Geld machen zu können und so seinem Leben als Kleinkrimineller entkommen zu können.“

Laut Gerald Posners 1998 erschienenem Buch soll Ray ein Einzeltäter gewesen sein, der nur von seinen beiden ebenfalls kriminellen Brüdern unterstützt worden sei. Sein Ziel sei es gewesen, das von Rassisten aus dem Süden auf Martin Luther Kings Tod ausgesetzte Kopfgeld von 50.000 Dollar zu verdienen.

Martin Luther Kings Berliner Reden

Am 13. September 1964 hielt Martin Luther King (l.) in der West-Berliner Waldbühne vor 20.000 Menschen eine begeisternde Rede. Rechts neben King der evangelische Bischof Otto Dibel...ius und der Regierende Bürgermeister Willy Brandt.

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Der prominente Bürgerrechtler im Gespräch mit West-Berlinern.

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Martin Luther King absolvierte auch den üblichen Besuch an der Berliner Mauer. Nach seiner Rede reiste er privat in den Ostteil der Stadt. Dort trat er in der Kirche St. Marien auf... und hielt seine Rede noch einmal. Sätze wie „hier sind auf beiden Seiten der Mauer Gottes Kinder, und keine durch Menschenhand gemachte Grenze kann diese Tatsache auslöschen“ ...

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... oder „in diesem Glauben können wir aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung hauen“, bewegten die Zuhörer und alarmierten die anwesenden Stasi-Mitarbeiter.

Quelle: picture alliance / AP

James Earl Ray ist am 23. April 1998 gestorben. Er hat bis zuletzt bestritten, auf Martin Luther King geschossen zu haben. Aber bis zuletzt gibt es nicht ein einziges Indiz, dass seine Behauptung gestützt oder zumindest die Annahme seiner Täterschaft erschüttert hätte. Im Gegenteil: Mindestens einmal soll er, 1990, in einem privaten Telefongespräch im Überschwang den Mord gestanden haben. Doch von dem Gespräch existiert kein Tonband, und Ray bestritt die Aussage seiner damaligen Gesprächspartnerin.

Auch nach dem Tod des verurteilten Attentäters wird weiter um die Täterschaft gestritten. Wie so oft vermehren sich auch im Mordfall King mit den Jahren die Aussagen von angeblichen Zeugen, die alles „ganz anders“ in Erinnerung haben. Wie so oft erweist sich im Nachhinein, dass die Ermittlungen schlampig geführt worden sind. Wie so oft wird gefragt, wer denn wohl das größte Interesse am Tode des populären schwarzen Bürgerrechtlers gehabt haben könnte? Und wie so oft liefern die Antworten auf die Frage „Cui bono?“ zuverlässig eine Reihe vermeintlicher Verdächtiger.

Nur irgendwelche Beweise für all diese Gedankenkonstruktionen gibt es nicht. Die Indizien deuten vielmehr ausnahmslos auf James Earl Ray als Täter und Geldgier als Motiv hin. Trotzdem wird weiter spekuliert werden.

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