Das Leben ist wie ein Stück Papier ganzer Film

Ein Netflix-Melodram über die Ärmsten von Istanbul zeigt die räudige Schönheit der Stadt - und ihre Ungleichheiten.

Im Istanbuler Stadtteil Tarlabaşı zerbröseln die Fassaden, Ratten wuseln herum. In den maroden Bürgerhäusern lebten vor dem Völkermord und der Vertreibung Armenier, Juden und Griechen. Schon lange aber haben sich hier die Müll- und Papiersammler eingerichtet, flankiert von den Leimschnüfflern mit den irren Augen, die durch die Gassen torkeln, und den Transsexuellen, die nachts am Straßenrand stehen. Irgendwie gehören in Tarlabaşı alle zusammen: Freunde, Nachbarn, Bekannte, Konkurrenten, Feinde. Eine einzige Familie.

Hier ist Mehmet zu Hause, hier machen er und seine Gefährten ihr Geschäft. Sie sind die wenig glamourösen Helden in dem neuen Netflix-Film "Kâğıttan Hayatlar / Das Leben ist wie ein Stück Papier". Sie ziehen mit ihren Sackkarren durch die Straßen der besseren Viertel, wühlen im Müll, suchen nach Papier, Pappe, Flaschen, brauchbaren Kleidern, Essbarem: "Wir versuchen, uns ein Leben aufzubauen auf dem, was die anderen wegwerfen", sagt Gonzi, Mehmets bester Freund, und zündet sich mit großer Geste einen im Müll gefundenen Zigarrenstumpen an. Als Mehmet fragt, was er mit der abgelutschten, heruntergerauchten Havanna wolle, nimmt Gonzi einen tiefen Zug und sagt: "Ob halb geraucht oder nicht - eine Zigarre bleibt eine Zigarre."

Der von dem aufsteigenden Star Çağatay Ulusoy souverän gespielte Mehmet ist der tragische Held das Films. Mehmet ist schwer nierenkrank, er uriniert Blut, er pumpt sich mit Tabletten voll, aber er bekommt keine neue Niere. Er versteckt Abend für Abend das sauer verdiente Geld unter dem Dielenboden, vielleicht reicht es doch für eine Operation, vielleicht für die Hochzeit oder - im Traum - für das Cabriolet aus dem Song, den sie alle hören und lieben: "Einmal im offenen Auto fahren, einmal im 5-Sterne-Hotel wohnen, einmal mit dem Flugzeug fliegen."

Mehmets Leben ist, wie es ist - bis er Ali trifft. Ein Sechsjähriger, den seine Mutter buchstäblich in den Müll geworfen hat: Mehmet findet den Jungen unter den zerdrückten Pappdeckeln in einer seiner Sackkarren. Ali ist verängstigt, hat blutunterlaufene Striemen auf dem Rücken, hat im Leben noch nie Ketchup probiert, keinen Kuchen gegessen. Seine Mutter wollte ihn vor seinem prügelnden Stiefvater schützen, hatte ihn deshalb im Müll versteckt.

Was sich in "Kâğıttan Hayatlar" nach der Begegnung zwischen Mehmet und Ali im gewohnten Netflix-Tempo abspult, ist die ebenso rührselige wie anrührende Geschichte eines Mannes, der sich an seine eigene Kindheit erinnert und einem Sechsjährigen deshalb ein Leben schenken will. "Kinder werden von ihren Eltern immer geschlagen", sagt einer der Müllsammler. "Uns ging es auch nicht anders." In Tarlabaşı aber gehören alle zu den Geschlagenen, nicht nur die Kinder.

Mehmet ist ganz unten, aber er will ein Mann von Ehre und Anstand sein

Mehmet bringt Ali das Karrenziehen bei, sie machen Rennen und wildern in den Revieren anderer Müllsammler im Nachbarstadtteil Cihangir. Da wohnen die besseren Leute, die all das wegwerfen, wovon Mehmet, Gonzi und Onkel Tahsin leben, und wo Ali offenbar herstammt. Mehmet will dem Jungen helfen, seine Mutter zu finden, will ihn und die Frau vor dem prügelnden Vater schützen. Er will der Mann von Ehre und Anstand sein, der zum türkischen Männerbild so zwingend gehört wie die ewig liebende, alles erdrückende Mutterfigur, eine halbe Heilige und der personifizierte Fixpunkt vieler männlicher Leben in diesem Land.

Der Film von Regisseur Can Ulkay mag für einige strenge türkische Kritiker zu schlicht und klischeehaft sein und für deutsche Zuschauer einigermaßen theatralisch wirken: Es wird ohne Ende geschrien, geschlagen, geweint, gelacht und das in irre schnellem Wechsel. Er hat aber auch viel Lob bekommen.

Trotz ziemlich schwülstiger Stellen ist "Das Leben ist wie ein Stück Papier" aber mehr als ein Drama für nassgeheulte Taschentücher. Er zeigt die räudige Schönheit Istanbuls, er zeigt den täglich gelebten Spagat zwischen den ganz großen Gefühlen, die Türken so sehr lieben, und dem harten Leben all derer, die in der 16-Millionen-Stadt nichts haben und nie etwas haben werden. Auch wenn die Bilder manchmal überzeichnet stylish sind, bleiben sie doch nahe dran am echten Istanbul.

Wie das Ganze ausgeht? Am Ende verliert der von diesem Leben viel zu früh abgebrühte Mehmet den Überblick, verschwimmen Realität und Traumwelt, löst sich die Geschichte von Papiersammler Mehmet und seinem sechsjährigen Freund Ali ebenso holprig wie schlüssig auf: mit Härte und einem letzten großen Gefühl.

Kagittan Hayatlar, Türkei 2021 - Regie: Can Ulkay. Buch: Ercan Mehmet Erdem. Kamera: Serkan Güler. Mit Çagatay Ulusoy, Emir Ali Dogrul, Ersin Arici. 96 Minuten, auf Netflix.

Kritik: „Das Leben ist wie ein Stück Papier“ Auf der Schattenseite

Neu im Stream: Der türkische Film „Das Leben ist wie ein Stück Papier“ erzählt von einer Gruppe Menschen, die in Istanbul ums Überleben kämpfen. Und von einer ungewöhnlichen Freundschaft.

Das Leben ist wie ein Stück Papier ganzer Film

Eine kleine Pause am Bosporus-Ufer: Ali (Emir Ali Doğrul) und sein großer Freund Mehmet (Çağatay Ulusoy).

Netflix

Bremen. Istanbul ist seit einigen Jahren aufgerückt in die Riege der angesagten Städte, in die es das polyglotte Partyvolk zieht. Die Metropole am Bosporus ist schon längst nicht mehr nur spannend für Kulturtouristen, sondern auch für Künstler, Neureiche, Jet-Set. Jedenfalls bis vor der Pandemie.

Mit ein bisschen Glamour beginnt auch der türkische Spielfilm „Das Leben ist ein Stück Papier“ (Kâğıttan Hayatlar), die ersten Szenen zeigen einen Cabriofahrer, der vor einem hippen Club losfährt, aber schon bald in eine der engen, dunklen Gassen biegt. Und sich über einen der Wertstoffsammler ärgert, der ihm den Weg versperrt.

Mehmet (stark: Çağatay Ulusoy) kann von Sportwagen mit offenem Verdeck oder Cocktails in schicken Bars nur träumen. Er gehört zu denjenigen, die in den ärmlichen Vierteln der Stadt leben, die geschätzt 16 oder vielleicht auch schon 18 Millionen Einwohner hat. Von Mehmet und den anderen im Stadtteil Tarlabaşı, die sich mehr schlecht als recht durchschlagen, erzählt Regisseur Can Ulkay in seinem Film, der beim Streaming-Dienst Netflix zu sehen ist. In Deutschland hat er es bereits unter die derzeit meist gesehenen neuen Produktionen geschafft.

Mehmet betreibt ein Restmülllager. Mit einer bunten Truppe ähnlich entwurzelter Jungs und junger Männer, viele davon obdachlos, durchstreift er jeden Tag die Stadt auf der Suche nach Altpapier, Pappe, Altkleidern, Flaschen. Sie sind füreinander das, was die meisten nie hatten: Familie. Und Mehmets bester Freund Gonzales, genannt Gonzi (Ersin Arıcı) ist wie ein fürsorglicher Bruder. Den braucht Mehmet auch, weil er schwer nierenkrank ist, aber zwar auf andere, aber nicht unbedingt auf sich achtet. Eines Tages entdeckt Mehmet den kleinen Ali (Emir Ali Doğrul) in einer der großen Papiersammel-Sackkarren. Der Junge wurde offenbar misshandelt und von seiner Mutter ausgesetzt. Alis Schicksal rührt Mehmet, es erinnert ihn an seine eigene desolate Kindheit. Er beginnt, sich aufopfernd um den Sechsjährigen zu kümmern. Doch irgendetwas ist merkwürdig an dem Jungen und seiner Geschichte.

Regisseur Can Ulkay gelingt es, die Schäbigkeit und die Hoffnungslosigkeit dieser Szenerie am Rande der Gesellschaft einzufangen, den Menschen dabei aber nie ihre Würde abzusprechen. Er beschönigt nichts - es gibt überfüllte Abbruchhäuser mit bröckelnden Fassaden, Straßenkinder, die Klebstoff schnüffeln und eine unendliche Leere im Blick haben. Es gibt Revierstreitigkeiten mit anderen Wertstoffsammlern, die in blutigen Konflikten münden. Doch es gibt auch gemeinsame Feste und Gonzis kleine Eulenspiegeleien. Mehmets zunehmende Vernarrtheit in Ali allerdings wird zunehmend zur Obsession. Und schließlich verschränken sich Realität und Traum ineinander.

Die Geschichte und ihre Volte kurz vor Schluss kranken leider an einigen Stellen an Ulkays Hang zum Pathos. Streitigkeiten arten schnell in Geschrei aus, die Musik ist eine eher gewöhnungsbedürftige Soße. Sehenswert ist diese anrührende Geschichte trotzdem. Weil sie von der großen Sehnsucht erzählt, sich im Leben irgendeinen festen Platz zu erkämpfen. Und etwas Geborgenheit.

Weitere Informationen

Das Leben ist wie ein Stück Papier - Kâğıttan Hayatlar. 97 Minuten. Anbieter: Netflix.

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