Jean raspail das heerlager der heiligen pdf

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2 Jean Raspail DAS HEERLAGER DER HEILIGEN Eine Vision Eindringlich ruft der Autor zur Verteidigung der europäischen Kultur und seiner ethischen Werte auf. Dem Europa der hohlen Phrasen und tönenden Reden hält er das geistige Erbe des Abendlandes entgegen. Der Leser soll geschockt, soll wachgerüttelt werden, um endlich die Kräfte zu erkennen und zu nutzen, die seit zwei Jahrtausenden diesen Erdteil gestaltet haben. Millionen von Lesern in fünf Weltsprachen haben dieses Buch in den letzten Jahren verschlungen, hervorragende Persönlichkeiten haben sich zustimmend dazu geäußert: Die ungeschminkte Darstellung unserer Zukunft, mitreißender als jeder Abenteuerroman! Die Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt nimmt unaufhaltsam zu, der Hunger wächst, der Abstand der»armen«von den»reichen«völkern der Erde wird größer. Wann rüsten die darbenden Massen Asiens und Afrikas zum Sturm auf Europa, um sich dessen Reichtum anzueignen? Der französische Erfolgsautor läßt in romanhafter Vision diesen Alptraum Wirklichkeit werden: Hunderttausende hungernder Inder landen an einem Ostersonntag an der Küste Südfrankreichs auf der Suche nach Raum und Brot. Ihre einzigen Waffen sind das Mitleid und die übertriebene Menschlichkeit der Europäer, die in ihrem Selbstbehauptungswillen schwankend geworden sind und die Humanität über ihre eigene Erhaltung stellen.

3 Die beschriebenen französischen Verhältnisse mit von Moral triefenden Massenmedien, mit um die Gunst des Publikums buhlenden Politikern, mit weltfremden Kirchenvertretern, zersetzenden Klassenkampffanatikern passen jedoch ebensogut auf andere westeuropäische Länder. So werden in den mit beißender Ironie und entlarvendem Sarkasmus dargestellten Figuren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erkennbar, die auch bei uns den Zeitgeist vertreten. Schlaglichtartig wird die drohende Zukunft ohne den üblichen Schleier der Beschwichtigung in ihrer ganzen Härte beschrieben. HOHENRAIN-VERLAG-TÜBINGEN Die Zeit der tausend Jahre vollendet sich. Es werden die Völker von den vier Enden der Erde ausgehen, und ihre Zahl ist wie der Sand am Meer. Sie werden heraufziehen auf die Breite der Erde und das Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt umringen. Aus OFFENBARUNG 20. Kapitel

4 Jean Raspail DAS HEERLAGER DER HEILIGEN Eine Vision Roman HOHENRAIN-VERLAG Tübingen-Zürich-Paris Gesamtherstellung: Wilhelm Rock GmbH, Weinsberg Ins Deutsche übersetzt von Dr. Erich Kopp Die französische Originalausgabe»Le Camps des Saints«erschien im Verlag Robert Laffont, Paris 1. Auflage Auflage Auflage 1985

5 Weitere Übersetzungen sind erschienen: im Verlag Charles Scribner, New York, 1975, im Verlag Plaza y Janes, Barcelona, 1975, im Verlag Europa-America, Lissabon und Rio de Janeiro, 1977, im Verlag Sphere Books und Michael Joseph, London, 1977, im Verlag Ace Book, New York, CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Raspail, Jean: Das Heerlager der Heiligen: e. Vision; Roman / Jean Raspail [Aus d. Franz. übers. von Erich Kopp] Tübingen; Zürich; Paris: Hohenrain-Verlag, Einheitssacht.: Le camp des saints <dt.> ISBN by Edition Robert Laffont, Paris

6 Deutsche Ausgabe 1985 by HOHENRAIN-Verlag GmbH, Tübingen Printed in Germany Alle Rechte der Verbreitung durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger aller Art oder durch auszugsweisen Nachdruck sind vorbehalten. VORWORT DES VERFASSERS ZUR 3. FRANZÖSISCHEN AUFLAGE Der 1973 erstmalig erschienene Roman»Das Lager der Heiligen«hat damals eine Lage und eine Bedrohung geschildert, die heute erkennbar ist und niemand mehr unwahrscheinlich vorkommt. Das Buch beschreibt die friedliche Eroberung Frankreichs und anschließend des Abendlandes durch die Dritte Welt, welche der Zahl nach die Mehrheit geworden ist. Das Weltgewissen, die Regierungen, das Gleichgewicht der Zivilisationen und jeder einzelne, alle fragen sich allerdings zu spät was tun? Was tun, wenn keiner auf die Menschenwürde zugunsten des Rassestandpunkts verzichten will? Was tun, wenn gleichzeitig jedermann und jede Nation das heilige Recht hat, seine Identität im Namen seiner Zukunft und seiner Vergangenheit und seiner Besonderheiten zu bewahren? In unserer Welt haben sich völlig verschiedene Kulturen und Rassen gebildet, die sich oft nur durch eine gebotene vollkommene Trennung voneinander bis zur Höchststufe entwickeln konnten. Die dabei entstandenen Auseinandersetzungen, die es immer geben wird, sind weder aus rassischen Gegensätzen noch aus rassen-kämpferischen Motiven hervorgegangen. Sie sind einfach Teil einer fortgesetzten Kräftebewegung, die nun einmal die Weltgeschichte erfüllt. Die Schwachen gehen unter und verschwinden, die Starken vermehren sich und triumphieren über die anderen. Die europäische Entfaltung zum Beispiel, von den Kreuzzügen angefangen über

7 die Entdeckungen zu Land und zur See bis zu den Kolonialkriegen und ihren Nachwehen, hatte verschiedene Beweggründe, edle, politische und merkantile, wobei jedoch der Rassegedanke nicht mitwirkte und überhaupt keine Rolle spielte oder höchstens bei unbedeutenden Geistern. Im Kräfteverhältnis waren wir nur die Stärkeren. Das ist alles. Daß dies oft überwiegend auf Kosten anderer Rassen ging wobei manche sogar aus ihrem tödlichen Dahindämmern aufgeweckt wurden, war nur die Folge unserer Eroberungslust und hatte keine ideologischen Motive. Heute, da das Kräfteverhältnis sich umgekehrt hat, ist unser altes Europa tragischerweise auf der Erde eine Minderheit geworden. Es zieht sich hinter seine brüchigen Mauern zurück und verliert schon Schlachten auf dem eigenen Boden. Jetzt bemerkt es langsam ganz verwundert das dumpfe Getöse der riesigen Flut, die es zu ersäufen droht, und erinnert sich notgedrungen, was die alten Sonnenuhren verkündeten:»es ist später, als du denkst «Der letztere Hinweis stammt nicht aus meiner Feder. Thierry Maulnier hat dies nach der Lektüre meines Buches geschrieben. Man möge es mir nachsehen, daß ich dazu noch Professor Jeffrey Hart von der Universität Princeton anführe. Dieser Literaturchronist und berühmte amerikanische Kolumnist bemerkte:»raspail schreibt nicht über Rasse, sondern über Kultur «Im übrigen ist das Buch»Das Lager der Heiligen«ein symbolisches Buch, eine Art brutale Prophezeiung, wie sie mir gerade einfiel. Wenn ich je eine Inspiration hatte, so war es zuge-standenermaßen hier der Fall. Wo zum Teufel hätte ich sonst den Mut gefunden, es zu schreiben? Nach achtzehn Monaten Arbeit war ich ein anderer geworden, wenn ich mein Foto auf der Um-schlagseite der ersten Ausgabe von 1973 betrachte. Ein erschöpftes, zehn Jahre älteres Gesicht als heute, mit einem Blick, als ob ihn zu viele Visionen gequält hätten. Trotzdem, was von meiner wirklichen Natur in diesem Buch in Erscheinung trat, das war eigentlich ein gesunder Humor, den man auch vorfindet, eine Art Spott, die Komik über Tragischem, eine gewisse Dosis Possenhaftigkeit als Gegengift gegen die Apokalypse. Ich bin immer dafür gewesen,»das Lager der Heiligen«trotz seines Themas nicht als trauriges Buch zu betrachten, und ich bin gewissermaßen Jean Dutourd dankbar, der dies verstanden hat.»unser Abendland ist ein Clown geworden. Sein tragisches Ende könnte ebenso eine große Posse sein. Deshalb ist dieses schreckliche Buch im Grunde genommen so komödienhaft.«wenn das Buch»Das Lager der Heiligen«ein Symbol bildet, so steckt darin keine Utopie, überhaupt keine Utopie mehr. Wenn eine Prophezeiung darin enthalten ist, so erleben wir heute die Vor-boten. Kurz gesagt, im»lager der Heiligen«ist sie abgehandelt wie eine Tragödie im alten Stil. Zeit und Ort der Handlung bilden eine Einheit. Alles spielt sich innerhalb von drei Tagen an der Südküste Frankreichs ab und dort besiegelt sich das Schicksal der weißen Welt. Obwohl die Handlung schon voll im Gang war und genau nach den Erscheinungsbildern (boat people, Radikalisierung des maghrebischen Volksteils in Frankreich und anderer fremd-rassischer Gruppen, psychologische Einflußnahme der humanitären Vereine, Verdrehung des Evangeliums durch die verantwortlichen Geistlichen, falsche Gewissensengel, Weigerung, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen), wie sie

8 schon in»das Lager der Heiligen«, Ausgabe 1973, beschrieben wurde, vollzieht sich das Ende in Wirklichkeit nicht in drei Tagen, wohl aber mit Sicherheit nach zahlreichen Krisen in den ersten Jahrzehnten des dritten Jahrtausends, also in kaum einer oder zwei Generationen. Wenn man weiß, was eine Generation in unseren alten europäischen Landen bedeutet, eine müde Generation, bei müden Familien und einer müden Nation, so greift dies einem schon jetzt ans Herz, und man ist entmutigt. Es genügt der Hinblick auf die erschreckenden demografischen Vorhersagen für die nächsten dreißig Jahre, wobei die von mir erwähnten noch die günstigsten sind. Eingeschlossen inmitten von sieben Milliarden Menschen leben nur siebenhundert Millionen Weiße, davon in unserem kleinen Europa ein nicht mehr junges, sondern sehr gealtertes knappes Drittel, gegenüber einer Vorhut von fast vierhundert Millionen Maghrebinern und Muselmanen auf dem gegenüberliegenden Ufer des Mittelmeers, wovon fünfzig Prozent jünger als zwanzig Jahre alt sind und die dem Rest der Dritten Welt vorausgehen. Kann man bei einem solchen Mißverhältnis nur eine Sekunde und im Namen irgendeiner Vogelstraußblindheit an ein Überleben glauben? 7 Hier ist genau der Augenblick gekommen, um zu erklären, warum in meinem Buch»Das Lager der Heiligen«die Masse Menschen von dem weit entfernten Ganges eher gekommen ist und den Süden Frankreichs überschwemmt hat und nicht von den Ufern des Mittelmeers. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer betrifft meine Vorsicht, insbesondere meine Ablehnung, mich in die tägliche, trügerische Debatte über Rassismus und Antirassismus in Frankreich einzulassen, ebenso meine Abneigung, schon merklich wahrnehmbare rassische Spannungen zu beleuchten, weil dies die Lage noch verschlimmern könnte, zumal augenblicklich kein Anlaß besteht. Gewiß, eine beachtliche Vorhut befindet sich bereits bei uns, die lauthals ihre Absicht bekundet, hier zu bleiben, unter gleichzeitiger Weigerung, sich zu assimilieren. Man wird in zwanzig Jahren im Schoß des ehemaligen französischen Volkes mehr als dreißig Prozent sehr»motivierte«fremdrassige zählen. Das ist schon ein Zeichen, aber eben nur ein Zeichen. Man kann sich dabei aufhalten. Man kann in diesem Zusammenhang etwas plänkeln und dabei übersehen oder so tun, als ob, daß die wirkliche Gefahr nicht allein hier liegt, sondern woanders, daß sie erst kommt und durch ihren Umfang von linderer Art sein wird. Denn ich bin überzeugt, daß weltweit alles losgeht wie bei einem Billard, wo die Kugeln aufeinanderstoßen, nachdem sie nach einem Anstoß eine nach der andern in Bewegung geraten sind. Ein solcher Anstoß könnte in irgendeinem Reservoir des Elends und der Menschen-ballung wie dort am Ufer des Ganges entstehen. Das geht natürlich nicht so plötzlich vor sich, wie ich es beschrieben habe, denn»das Lager der Heiligen«ist nur ein Gleichnis. Aber am Ende der Rechnung ist das Ergebnis nicht anders, vielleicht weitschweifiger und wahrscheinlich erträglicher. Das Römische Reich ist auch nicht anders untergegangen. Bei gelindem Feuer kann man sich aber sicher auf einen großen Brand gefaßt machen. Man sagt, die Geschichte wiederhole sich nicht. Das ist eine riesige Dummheit.

9 Die Geschichte unseres Planeten besteht aus einander folgenden Leerräumen und aus Ruinen, die andere nacheinander ausgefüllt und neu gestaltet haben. 8 Das Abendland ist leer, auch wenn es sich dessen noch nicht bewußt ist. Seine Zivilisation ist außerordentlich erfinderisch, sicher die einzige, die fähig ist, die unüberwindbare Herausforderung des dritten Jahrtausends zu meistern. Aber das Abendland ist seelenlos geworden. In der Rangfolge der Nationen, Rassen und Kulturen wie beim einzelnen ist es immer die Seele, welche die ent-scheidenden Kämpfe gewinnt. Sie und nur sie allein bildet den goldenen und ehernen Grund, aus dem der Schutzschild zur Rettung starker Völker besteht. Bei uns kann ich kaum noch Seele erkennen. Wenn ich zum Beispiel mein eigenes Land Frankreich betrachte, so kommt es mir oft vor, als ob ich aus einem bösen Traum erwache, da heute viele Franzosen träge sind. Sie sind nur noch»bernharde der Eremit«, die in leeren Muscheln leben als Vertreter einer nunmehr verschwundenen Art, die sich französische Art nannte und die in nichts, etwa durch irgendein genetisches Mysterium, die Art erkennen ließe, die am Ende des Jahrhunderts sich dieses Namens bedient. Sie begnügen sich damit weiter-zuleben. Sie stellen mechanisch von Woche zu Woche ihr Überleben sicher und werden immer weicher. Unter den Bannern einer trügerischen inneren und»beruhigenden«solidarität fühlen sie sich zu nichts mehr verpflichtet und haben auch kein Bewußtsein mehr für das, was das gemeinsame Wesentliche eines Volkes bildet. Auf der praktischen und materialistischen Ebene, die in ihrem neidischen Blick allein noch einen Schimmer Interesse entzünden kann, sind sie eine Nation von Kleinbürgern, die sich mit Millionen von Bediensteten, den Einwanderern, zufriedengegeben hat und inmitten der Krise noch gibt, und dies im Namen eines ererbten jedoch immer weniger eines verdienten Reichtums. Ah, wie sie zittern werden! Die Bediensteten haben diesseits und jenseits des Meeres unzählige Familien, eine einzige ausgehungerte Familie, welche die ganze Erde bevölkert. Spartakus in weltweitem Maßstab Um nur ein Beispiel unter hundert anzuführen: Die Bevölkerung von Nigeria in Afrika zählt fast siebzig Millionen Einwohner, die zu ernähren dieses Land unfähig ist, wobei es mehr als fünfzig Prozent seiner Einnahmen aus Erdöl für den Kauf von Lebensmitteln 9 aufwendet. Bei Beginn des dritten Jahrtausends wird es hundert Millionen Nigerianer geben, der Erdölfluß wird jedoch versiegen. Aber der taube und blinde Kleinbürger bleibt ein Clown, ohne es zu wissen. Noch wunderbarerweise ungeschoren auf seinen fetten westlichen Wiesen schreitet er, auf seinen allernächsten Nachbarn schielend:»laßt die Reichen zahlen!«weiß er

10 eigentlich, weiß er endlich, daß er selbst der Reiche ist und daß dieser Schrei nach Gerechtigkeit, dieser Schrei aller Revolten, von Milliarden Stimmen ausgestoßen, gegen ihn und gegen ihn allein gerichtet ist, sobald er sich erheben wird? Dies ist das ganze Thema des Buches»Das Lager der Heiligen«. Nun, was tun? Ich bin Romanschriftsteller. Ich habe weder eine Theorie noch ein System noch eine Ideologie vorzuschlagen oder zu verteidigen. Es scheint mir jedoch, daß sich uns nur eine Alternative bietet: den schicksalergebenen Mut aufzubringen, arm zu sein, oder den entschlossenen Mut wiederzufinden, reich zu sein. In beiden Fällen wird sich die sogenannte christliche Nächstenliebe als ohnmächtig erweisen. Diese kommenden Zeiten werden grausam sein. Jean Raspail 10 VORBEMERKUNG ZUR DEUTSCHEN AUFLAGE In unseren Schulbüchern von 1917 wurde die Weltbevölkerung mit 1,630 Milliarden beziffert. Im Jahr 1930 war sie auf 2 Milliarden, 1965 auf 3,3 Milliarden angestiegen. Die Bevölkerungskonferenz in Mexico City im August 1984 gab den derzeitigen Stand mit über 4,5 Milliarden Menschen bekannt. Bevölkerungswissenschaftler errechneten, daß bis zum Jahr 2025, also in 40 Jahren, 8 Milliarden Menschen die Erde bevölkern werden, wobei zu beachten ist, daß in immer kürzeren Zeiträumen eine immer raschere Steigerung eintreten wird. Mit Bedauern wurde in Mexico City der sprunghafte Anstieg der Bevölkerung in der Dritten Welt vermerkt, so beispielsweise in Indien um jährlich 15 Millionen, in Mexico selbst um jährlich 2 Millionen, und in Kenia gäbe es geradezu kriminelle Geburtenraten. Jede erwachsene Frau bekäme dort im Durchschnitt acht Kinder. Aber wie üblich stand»der Westen«also die von der weißen Rasse bevölkerten Staaten wieder einmal mehr am Pranger. Er soll zahlen und keine Ratschläge

11 über Geburtenkontrollen erteilen, denn die Völker der Dritten Welt seien mündig und souverän. Und ebenfalls wie üblich verlief die Konferenz ohne Ergebnis. Der Papst mahnte, ja keine Eingriffe in den Geburtenablauf zu unternehmen, und der Weltkirchenrat zeigte wie schon so oft seine abstruse Einstellung zu dem Problem. Keine Erwähnung fand bei der Konferenz die Tatsache, daß die 700 Millionen zählende weiße Rasse, also diejenige, welche für die anderen aufkommen soll, mehr und mehr schrumpft. Ein besonders auffälliges Beispiel hierfür ist der rasante Geburtenschwund in der Bundesrepublik Deutschland. Eine von der Bundesregierung eingesetzte Arbeitsgruppe meldete um die Jahreswende /84, daß die westdeutsche Bevölkerung von derzeit 57 Millionen Einwohnern bis zum Jahr 2030, also in 45 Jahren, auf 38 Millionen zurückgehen wird. Der französische Bevölkerungshistoriker Pierre Chaunu hat anhand der Bevölkerungsentwicklung Münchens ausgerechnet, daß im Jahr 2278, mithin in 10 Generationen, bei gleichem Ablauf gerade noch Deutsche leben werden. Das gleiche gilt von unserem Nachbarland Schweiz. Der Chef des Statistischen Amtes des Kantons Waadt, Marc Diserens, alarmierte jüngst die 6,4 Millionen Einwohner der Schweiz mit der schockierenden Feststellung, daß, wenn die zeugungs- und gebärfähigen Landsleute weiterhin im wohlstandsträgen Verhalten verharren würden, es im Jahr 2284 nur noch wenige Schweizer und Schweizerinnen geben würde. Während so weder dem Rückgang der weißen Rasse noch dem gewaltigen Anwachsen der nichtweißen Rassen die notwendige Korrektur mit einem umfassenden Programm entgegengestellt wird, erreichen uns täglich die Horrormeldungen über den Hunger in der Dritten Welt. Fortgesetzt wird für die Welthungerhilfe geworben und geklagt, daß ein Viertel der Weltbevölkerung hungert, während auf der Nordhalbkugel der Erde Überfluß herrscht und sogar Lebensmittel vernichtet werden.»wohltätige«organisationen und Massenmedien vernebeln hier eindeutig die Tatsache, daß alle Hilfen, abgesehen von einigen wirklichen Katastrophenfällen (Dürren, Mißernten), bisher versagt und den Hunger eher noch vermehrt haben, weil solche gewohnheitsmäßigen Nöte nur durch eigene Arbeit und eigene Leistung der Betroffenen überwunden werden können, nicht aber durch milde Gaben anderer. In seinem Roman versetzt uns der Verfasser in eine kommende Zeit, etwa in die Jahre 1990 oder Die Dritte Welt, die ihre dauernde Notlage trotz längst überwundener»kolonialzeit«nicht zu meistern versteht, setzt sich eines Tages in Bewegung, um»das Paradies, wo Milch und Honig fließt«, zu gewinnen. Eine Million Hindus landen an einem Ostersonntag an der Südküste 12

12 Frankreichs. Ihre einzigen Waffen sind ihre Massen und das Mitleid, das ihr jammervoller Zustand erregt. Was soll Frankreich, was Europa, was»der Westen«tun? Aus Mitleid die farbigen»brüder«aufnehmen oder die Invasion mit Gewalt abwehren? Denn bald folgen weitere Heerscharen, welche die abendländische Jahrtausende alte Kultur auszulöschen sich anschicken. Jean Raspail versteht es meisterhaft, den Zwiespalt zwischen angeborener Menschlichkeit und dem gebotenen Widerstand gegen den drohenden Untergang des weißen Mannes offenzulegen. Von einmaliger Treffsicherheit ist die mit beißendem Spott erfolgte Abrechnung des Verfassers mit den heuchlerischen, von Humanität triefenden Institutionen vor allem mit den Massenmedien, Presse, Funk und Fernsehen,»das Tier«, wie er sie bezeichnet, das sich stets anmaßt,»die öffentliche Meinung«zu verkörpern, und dessen pausenloses Trommelfeuer das Gehirn und die Widerstandskraft des weißen Mannes aufgeweicht hat. Was dem aufmerksamen deutschen Leser auffallen muß, ist, abgesehen von einigen typisch französischen Eigenheiten, die erstaunliche Ähnlichkeit mancher Schilderung mit bundesdeutschen Verhältnissen. Es erweckt gelegentlich den Eindruck, als ob man nur die Personen und Örtlichkeiten auszutauschen brauchte. Wie immer die Kritik ausfallen mag, unverkennbar ist bei allem die Liebe Jean Raspails zum alten, ehrwürdigen Europa, um dessen Schicksal er schweren Herzens bangt. Daher ist seine bewegende Frage»Werde ich auch richtig verstanden?«zugleich das Grundanliegen dieses Buches. Dr. Erich Kopp

13 Der alte Professor überlegte vor sich hin. Er hatte in seinem Leben viel gelesen, viel nachgedacht und viel geschrieben. Aber im Augenblick hatte er in seiner Einsamkeit selbst unter den jetzigen so außergewöhnlichen Umständen keinen höheren Gedankenflug als ein Schüler der dritten Schulklasse. Das Wetter war schön. Es war heiß, aber nicht zu heiß, denn ein frischer Frühlingswind strich sanft und leise über die überdeckte Terrasse. Sein Haus war einer der letzten hügelaufwärts gelegenen Bauten. Es lag an einen Felsen angeschmiegt, wie ein Vorposten des alten braunfarbenen Dorfes, das die ganze Landschaft bis zu der unten gelegenen Touristenstadt beherrschte, ja bis zu dem ruhigen blauen Meer, an dessen Ufer sich die Prachtallee mit grünen Palmen und weißen Bungalows hinzog. Das Bild des Überflusses, das gewöhnlich zu sehen war, verchromte Yachten, muskulöse Wasserschifahrer, bezaubernde Mädchen, dicke Bäuche, die sich auf der Brücke der großen Segelschiffe zeigten, war heute wie weggefegt. Auf dem leeren Meer lag diese unsäglich verrostete Flotte, die vom andern Ende der Erde gekommen zu sein schien und nun, nur fünfzig Meter vom Ufer entfernt, auf Grund aufgelaufen war. Seit dem frühen Morgen richteten sich die Blicke des alten Professors auf diesen Vorgang. Der üble Latrinengeruch, der dem Auftreten dieser Flotte wie der Donner dem Gewitter vorausgegangen war, hatte sich jetzt verflüchtigt. Der alte Mann wandte seine Augen von dem Teleskop ab, durch welches diese unfaßbare Invasionsflotte so nahe erschien, als wäre sie schon die Hänge heraufgekommen und in sein Haus eingedrungen. Er rieb seine müden Augenlider und richtete den Blick unwillkürlich auf die Haustür. Sie war aus massivem Eichenholz, eine unzerstörbare Masse, ähnlich wie ein Festungstor. Auf dem 15 dunklen Holz war der Familienname des alten Herrn eingraviert und die Zahl 1673, das Jahr der Fertigung durch seinen Vorfahren. Diese Tür war der einzige Zugang zu einem Raum, der gleichzeitig als Wohnzimmer, Bibliothek und Büro diente. Von ihm aus gelangte man über die ebenerdig dazu gelegene Terrasse zu einer kleinen Treppe mit fünf Stufen, die in einen abwärts führenden Pfad mündete. Das Anwesen war nicht abgeschlossen und jeder Passant hatte freien Zutritt, wie es im Dorf üblich war, wenn einer Lust hatte, dem Besitzer einen Besuch abzustatten. Daher blieb auch das Haus des Professors jeden Tag von morgens früh bis in die Nacht offen. Dies stellte der alte Herr zum ersten Mal fest. Entzückt hierüber kam es über seine Lippen:»Ich frage mich, ob eine Tür offen oder geschlossen sein soll?«dann setzte er wieder seine Beobachtungen am Teleskop fort, denn er wollte die

14 letzten Strahlen der untergehenden Sonne ausnutzen, um vor Einbruch der Nacht das unwahrscheinliche Schauspiel nochmals zu betrachten. Wieviel Menschen mögen wohl dort unten an Bord der gestrandeten Wracks sein? Wenn man die fast unglaubliche Anzahl für wahr hält, die in den knappen Nachrichten im Radio seit dem frühen Morgen genannt wird, so sollen riesige Menschenhaufen in den Schiffsladeräumen und auf den Brücken zusammengepfercht liegen und diese Massen sich bis zu den Kommandobrücken und Schornsteinen ausdehnen. Und im Innern sollen Lebende auf Leichenbergen stehen, ähnlich wie man es bei Ameisen in Marschbewegung beobachten kann, deren sichtbarer Teil ein lebendiges Gewimmel bildet, darunter aber ein Ameisenweg mit Millionen von Kadavern liegt. Der alte Professor er hieß Calguès richtete das Rohr des Teleskops auf ein von der Sonne besonders gut angestrahltes Schiff und regelte die Einstellung auf klarste Sicht, wie ein Forscher, der in einer Bakterienkultur die von ihm zu beschreibende Mikrobenkolonie entdeckt. Das Schiff war ein über sechzig Jahre alter Postdampfer, dessen fünf senkrechte Schornsteine in Röhrenform auf das Alter schließen ließen. Vier von ihnen hatten in verschiedenen Höhen große Risse, die vom Alter, vom Rost, von 16 mangelnder Pflege oder von Schicksalsschlägen herrühren mochten. Jetzt lag das Schiff vor dem Strand abgesackt in einem Neigungswinkel von etlichen zehn Grad. Als der Tag zu Ende ging, zeigte sich bei ihm so wenig wie bei den andern Schiffen der Gespensterflotte ein Lichtschimmer. Feuer, Dampfkessel und Generatoren mußten wohl bei dem Schiffbruch schlagartig gelöscht worden sein. Möglicherweise war auch Betriebsstoffmangel schuld, da dieser genau für die einmalige Fahrt berechnet worden war. Es kann auch sein, daß niemand an Bord es für nötig hielt, sich um etwas zu kümmern, da nun der Exodus an den Toren des Paradieses sein Ende gefunden hatte. Der alte Herr Calguès stellte dies alles fest, ohne daß es ihn im geringsten berührte. Er war lediglich an dieser Vorhut einer anderen Welt, die an die Tore des Wohlstands pochte, sichtlich interessiert. Das Auge an die Linse gedrückt, sah er zunächst nur Arme. Er errechnete, daß der Kreis auf der Schiffsbrücke, den er überblickte, einen Durchmesser von etwa 10 Meter hatte. Dann begann er ruhig zu zählen, was aber so schwer war, wie wenn er die Bäume eines Waldes zählen wollte. Alle Arme waren erhoben und senkten sich dem nahen Ufer zu, nackte, magere, schwarze und braune Arme, die aus weißen Leinengewändern herausragten, die den Tuniken, Togen oder Saris von Pilgern glichen. Als der Professor beim Zählen dieser hageren Gandhiarme bei 200 ankam, hörte er auf, da er den Rand des Kreises erreicht hatte. Er machte nun eine kurze Überschlagsrechnung. Bei der Länge und Breite des

15 Oberdecks kam er zum Ergebnis, daß man dreißig solcher aneinanderliegenden Kreise annehmen konnte, daß außerdem zwischen den Kreisen zwei Räume in Form von Dreiecken lagen, deren Spitzen sich berührten und deren Fläche etwa ein Drittel der anliegenden Kreise ausmachte. 30 plus 10 = 40 Kreisflächen mit je 200 Armen ergaben somit Arme. Viertausend Personen allein auf dieser Schiffsbrücke! Dazu kamen bei vermutlich gleicher Dichte der Belegung die Zwischendecks und Laderäume, demzufolge der Professor die gewonnene Zahl mit 8 multi 17 plizierte. Somit waren auf einem einzigen Schiff rund dreißigtausend Menschen! Ohne die Toten zu zählen, die um die Schiffswandung herumschwammen und ihre Lumpen an der Oberfläche des Wassers hinter sich herzogen, denn die Überlebenden hatten sie schon am Morgen über Bord geworfen. Langsam senkte sich die Nacht über das Schauspiel. Ein letztes Mal huschte ein roter Schein über die gestrandete Flotte. Mehr als hundert verrostete, außer Dienst gestellte Schiffe lagen da als Zeugen eines Wunders, das sie vom anderen Ende der Welt hierhergeführt und bis dahin geschützt hatte, mit Ausnahme eines einzigen Schiffs, das auf der Höhe von Ceylon durch einen Schiffbruch verlorengegangen war. Fast umsichtig aneinandergereiht waren sie hier auf Felsen oder Sand aufgelaufen. Ihr wie mit einem letzten Schwung hochgerissener Bug war dem Ufer zugekehrt. Hundert Schiffe! Der alte Professor spürte in sich eine Mischung von Schaudern und Erregung aufkommen, wie man es manchmal verspürt, wenn die Gedanken sich in der Unendlichkeit und Ewigkeit verlieren. An diesem Ostersonntagabend belagerten Lebende und Tote friedlich die Grenze des Abendlandes. Am nächsten Morgen wird alles abgelaufen sein. Vom Ufer her stiegen zu den Hügeln, zum Dorf, ja bis zur Terrasse des Professors weiche Gesänge empor, die trotz ihrer Sanftheit mit der Kraft eines Chores von Stimmen ertönten. Einst zogen die Kreuzfahrer am Vorabend des Angriffs singend gen Jerusalem. Beim siebten Trompetenstoß waren die Mauern von Jericho kampflos eingestürzt. Und als nach dem Gesang Stille eintrat, haben die auserwählten Völker gespürt, was es heißt, in göttliche Ungnade gefallen zu sein. Jetzt hörte man gleichzeitig den Lärm von Hunderten von Lastwagen. Seit den Morgenstunden bezog die Armee am Ufer des Mittelmeers Stellung. In der eingebrochenen Nacht wölbte sich über der Terrasse ein Sternenhimmel. Es war etwas kühl im Haus, als der Professor hineinging. Dennoch beschloß er, die Tür offen zu lassen. Kann eine dreihundert Jahre alte, kunsthandwerklich gefertigte Eichentür eine

16 18 Welt schützen, die schon zuviel erlebt hat? Das Licht ging nicht. Sicher sind die Elektriker des an der Küste liegenden Elektrizitätswerks auch nach Norden geflohen. Wahrscheinlich haben sie sich mit dem übrigen Volk, das allem den Rücken gekehrt hat, aus dem Staub gemacht. Sie alle sehen nicht, sehen nichts, verstehen nichts und wollen auch nichts verstehen. Der Professor zündete die Petroleumlampe an, die er im Falle einer Panne stets bereit hatte. Dann warf er ein Streichholz in den Kamin, wo das sorgfältig vorbereitete Feuer sofort aufflammte, brummte und prasselte und Wärme und Licht verbreitete. Er stellte seinen Transistor an, der dauernd auf die Nachrichtenwelle eingestellt war. Popmusik, Jazz, Sängerinnen, einfältiges Geschwätz, Neger als Saxophonisten, Gurus, Filmstars, Berater für Gesundheit, Herz und Sex, dies alles wurde plötzlich als lästig betrachtet, als ob das bedrohte Abendland sein letztes glanzvolles Gesicht besonders bewahren wollte. Das Programm aller Stationen brachte Mozarts»Kleine Nachtmusik«. Der alte Professor dachte höchst freundlich an den Programmgestalter im Studio Paris. Ohne etwas zu wissen oder zu sehen, hatte dieser offenbar begriffen. Auf den Singsang der Stimmen, die er nicht hören konnte, hatte er offensichtlich instinktiv die richtige Antwort gefunden. Die Stimme eines Ansagers riß den Professor aus seinen Überlegungen.»Die beim Präsidenten der Republik versammelte Regierung hat den ganzen Tag im Elyseepalast beraten. Im Hinblick auf den Ernst der Lage waren die Stabschefs der drei Truppenteile ebenfalls anwesend, dazu die Spitze der Polizei und Gendarmerie, die Präfekten der Departements Var und Alpes-Maritimes, ausnahmsweise in beratender Funktion der Kardinalerzbischof von Paris sowie der apostolische Nuntius und der größte Teil der in der Hauptstadt ansässigen europäischen Botschafter. In diesem Augenblick ist die Sitzung noch nicht beendet, aber der Regierungssprecher teilte mit, daß sich der Präsident der Republik um Mitternacht in einer feierlichen Erklärung an das Land wenden wird. Nach den aus dem Süden vorliegenden Nachrichten scheint sich an Bord der Einwandererflotte noch nichts zu rühren. Ein Bericht des 19 Generalstabs der Armee bestätigt, daß zwei Divisionen gegenüber den gegenüber dem (Der Ansager zögerte. Und wie man ihn versteht! Wie soll man denn diese zahllose elende Menge bezeichnen? Feind? Horde? Invasion? Die Dritte

17 Welt auf dem Vormarsch?) gegenüber dieser außergewöhnlichen Invasion (Also! Er hat sich nicht schlecht herausgeredet!) bereitstehen und drei Divisionen trotz Transportschwierigkeiten zur Verstärkung nach Süden auf dem Marsch sind. Schließlich kündete der Stabschef, Oberst Dragasès, in einem letzten Kommuniqué vor fünf Minuten an, daß die Armee an der Küste etwa zwanzig Scheiterhaufen angezündet hat, auf welchen (Der Ansager zögerte wieder; man hört ihn seufzen. Der alte Herr glaubt sogar, die Worte»mein Gott«zu vernehmen) auf denen Tausende von Leichen verbrannt werden, die von den Schiffen ins Wasser geworfen worden waren.«das war alles. Und Mozart trat erneut an die Stelle der drei Divisionen, die unterwegs nach Süden waren, und der zwanzig Scheiterhaufen, die jetzt in der trockenen Luft voll brennen mußten. Der Professor betrat die Terrasse. Unten war der Strand vom roten Feuerschein erleuchtet. Eine Rauchwolke lag darüber. Er zog von seinem Teleskop die Schutzkappe ab und richtete es auf den höchsten Scheiterhaufen, der wie ein mehrstöckiger Turm voller Leichen brannte. Die Soldaten hatten ihn sorgfältig aufgebaut. Immer eine Schicht Holz und eine Schicht Leichen. In der Anordnung spürte man noch die Achtung vor dem Tod. Plötzlich stürzte der Turm zusammen. Er brannte zwar noch weiter, war aber nur noch eine häßliche Masse, die wie ein Schuttabladeplatz rauchte. Männer in Schutzanzügen führten Planierraupen herbei und andere Fahrzeuge, die mit Gelenkgreifern und Schaufelkasten ausgerüstet waren. Die Maschinen schichteten die Kadaver zu weichen schlammigen Massen zusammen und warfen sie auf die Scheiterhaufen. Arme, Beine, Köpfe oder auch ganze Leichen kullerten durcheinander. Dann sah der Professor den ersten Soldaten fliehen und seine Gangart erinnerte ihn an einen an der Schnur gezogenen Hampelmann. Eine kontrollierte Panik schien sich abzuzeichnen. Der junge 20 Mann hatte eine von ihm herbeigeschleifte Leiche einfach liegengelassen, hastig Helm, Gasmaske und Schutzhandschuhe weggeworfen, schließlich beide Hände an seine Schläfen gepreßt und war dann wie ein erschreckter Hase im Zickzack davongerannt und hinter dem Scheiterhaufen im Dunkel der Nacht verschwunden. In den nächsten fünf Minuten taten zehn andere Soldaten das gleiche. Der Professor verschloß sein Teleskop. Er wußte genug. Die allgemeine Abneigung gegenüber andern Rassen, die selbstbewußte Überlegenheit, das Gefühl der Freude darüber, was die Menschheit schon Gutes geschaffen hat, dies alles hat in den abgestumpften Gehirnen dieser jungen Leute noch nie existiert, oder so wenig, daß die krebsartige Wucherung, die sich im abendländischen Gewissen

18 zutiefst eingenistet hatte, rasch Oberhand gewann. In dieser Nacht kämpften nur noch beherzte Männer wirklich. Während der junge nette Mann davonlief, hatte der alte Calguès sein Teleskop nochmals kurz auf eine Art Koloß in Uniform gerichtet, der mit gespreizten Beinen vor dem Scheiterhaufen stand. Mit großen regelmäßigen Bewegungen seiner Arme schleuderte er die ihm gereichten Leichen hinein, ähnlich wie ein Trimmer die Kohlen in den Heizkessel eines Schiffes schaufelt. Vielleicht litt auch er bei diesem Schauspiel, aber äußerlich sah man ihm kein Mitleid an. Sicherlich überlegte er auch nicht lange, da ihm klar war, daß das Menschengeschlecht kein solidarisches Ganzes mehr bildete, wie es lange Zeit Päpste, Philosophen, Intellektuelle, Priester und Politiker des Abendlandes behauptet hatten. Zumindest unterstellte der alte Professor, daß jener Mann, der so entschlossene Ruhe bewahrte und den er Trimmer nannte, ebenso dachte wie er selbst. Jener Mann aber, der in vorderster Linie ein Beispiel gab, war niemand anderes als der Stabschef Oberst Dragasès. Auch die Liebe war an diesem Abend geteilt. Der Mensch hat nie das Menschengeschlecht, die Rassen, Religionen und Kulturen en bloc geliebt, sondern immer nur diejenigen, die er als seinesgleichen betrachtete, die, wenn auch im weitesten Sinn, zu seiner Sippe gehörten. Bei den übrigen mußte er sich zwingen, und man 21 hat ihn gezwungen. Und wenn ein Übel passiert war, blieb nur noch die Auflösung übrig. In diesem seltsamen Krieg, der sich jetzt ankündigte, werden die triumphieren, die sich am meisten liebten. Wieviele werden es sein, die am Morgen am Strand noch stehen und fröhlich standhalten werden, wenn diese furchtbare Armee zu Tausenden ins Wasser steigen und der Ansturm der Lebenden beginnen wird, die den Toten nachfolgen? Fröhlich! Das ist wesentlich. Bei der Prüfung des Gesichts des Trimmers glaubte der Professor einen Augenblick, jener habe die Lippen bewegt, als ob er singen würde. Mein Gott! Wenn wenigstens zwei singen würden, nur zwei! Vielleicht könnten sie dann die anderen aus ihrem Todesschlaf aufwecken. Aber vom Strand hörte man nur den weichen und drohenden Singsang aus Kehlen.»Prima, was!«sagte eine Stimme im Dunkeln. 22

19 2. Über die kleine Treppe zum Gäßchen war ein junger Mann geräuschlos auf die Terrasse gelangt. Mit nackten Füßen, langen schmutzigen Haaren, bekleidet mit einem blumengemusterten Hemd, einem Hinduschal und einer Afghanenjacke.»Ich komme von unten«sagte der junge Mann.»Fabelhaft! Fünf Jahre wartete ich schon darauf.sind Sie allein?augenblicklich ja. Mit Ausnahme von einigen, die schon an der Küste sind. Aber andere kommen nach. Zu Fuß. Alle Schweine hasten nach Norden. Kein Auto in die Gegenrichtung. Werden verrecken, wollen es aber nicht anders. Werden toben, sich beschießen, werden zu Fuß marschieren, statt im Schlafwagen zu fahren.waren Sie unten, in der Nähe der Küste?Ganz nahe. Aber nicht lange. Habe Kolbenschläge bekommen. Ein Offizier hat mich Ungeziefer geheißen. Aber ich habe Soldaten gesehen, die heulten. Das ist gut so. Morgen wird man das Land nicht mehr wiedererkennen. Es wird wie neugeboren sein.haben Sie die gesehen, die von den Schiffen gekommen sind?ja.und Sie glauben, daß Sie jenen gleichen? Sie haben doch eine weiße Haut. Sie sind sicher getauft. Sie sprechen französisch mit dem hiesigen Dialekt. Sie haben vielleicht in dieser Gegend Eltern?Was soll s? Meine Familie geht jetzt an Land. Ich gehöre zu der Million Brüder, Schwestern, Väter, Mütter und Verlobten. Mit der ersten, die sich bietet, werde ich ein Kind machen, ein dunkelhäutiges Kind. Dann bin ich ihresgleichen.sie werden gar nicht mehr leben. In dieser Masse gehen Sie unter. Sie werden nicht mal beachtet werden.«23»mehr will ich nicht. Heute morgen sind meine Eltern abgereist, mit meinen beiden Schwestern, die plötzlich Angst bekamen, vergewaltigt zu werden. Waren vor Angst entstellt. Sie werden sie doch erwischen. Alle werden erwischt werden. Sie konnten wohl abhauen, aber diese Leute sind erledigt. Wenn Sie das Bild

20 gesehen hätten. Meinen Vater, wie er die Schuhe aus seinem Laden in seinem hübschen kleinen Lieferwagen verstaut hat, und meine Mutter, die heulend aussortierte. Die billigeren Schuhe wurden liegengelassen, die teuereren mitgenommen. Und meine Schwestern, die schon auf der vorderen Sitzbank saßen. Beide drückten sich eng aneinander. Sie betrachteten mich entsetzt, als wollte ich sie als erster vergewaltigen. Ich habe mich krumm und schief gelacht, besonders als mein Vater den eisernen Rolladen heruntergelassen und den Schlüssel eingesteckt hat. Ich sagte zu ihm: Glaubst Du, daß das was nützt? Ich mache Deine Tür ohne Schlüssel auf und zwar morgen. Und Deine Schuhe im Laden? Sie werden darauf pinkeln oder sie auch fressen, denn sie gehen ja barfuß. So sind wir auseinandergegangen.und Sie? Was wollen Sie hier tun? In diesem Dorf? Bei mir?ich plündere. Ich glaube, daß außer der Armee und etlichen Kumpels im Umkreis von hundert Kilometern niemand mehr da ist. So plündere ich eben. Hunger habe ich keinen mehr. Ich habe schon zuviel gegessen. Um es richtig zu sagen. Ich brauche nicht viel, und außerdem gehört mir alles. Morgen werde ich ihnen alles anbieten. Ich bin sozusagen ein König und werde sie aus meinem Königreich beschenken. Ich meine, heute ist Ostern.Ich verstehe nicht.an Bord dieser Schiffe befinden sich eine Million Christusse, die morgen auferstehen werden. Und Sie, ganz allein mit Ihnen wird auch Schluß sein.sind Sie gläubig?keineswegs.und diese Million Christusse, ist das Ihre Idee?Nein. Aber bei der Sorte von Pfarrern finde ich sie hübsch. Sie fiel mir übrigens bei einem Pfarrer ein. Als ich hier heraufstieg, lief 24 einer wie ein Verrückter hinunter. Nicht etwa verlegen, sondern ganz seltsam. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, hob seine Arme gen Himmel, wie die andern unten, und schrie: Danke mein Gott! Dann setzte er den Weg zum Strand fort. Ich glaube, daß noch andere folgen.wer andere?andere Pfarrer von der gleichen Sorte. Aber Sie langweilen mich. Ich bin nicht

21 zum Plaudern gekommen. Sie sind nur noch ein Gespenst. Was machen Sie noch hier?ich höre Ihnen zu.interessieren Sie meine Dummheiten?Gewaltig.Sie sind verdorben. Sie denken noch nach. Es gibt nichts mehr nachzudenken. Das ist auch vorbei. Hauen sie ab!o nein!hören Sie mal! Sie und Ihr Haus gleichen einander. Man könnte sagen, Sie beide sind schon 1000 Jahre hier.seit 1673 genau«, sagte der alte Herr und lächelte zum ersten Mal.»Dreihundert Jahre gesichertes Erbe. Widerlich. Ich schaue Sie an und finde Sie tadellos. Deshalb hasse ich Sie. Und zu Ihnen werde ich morgen die Lumpigsten führen. Diese wissen nicht, wer Sie sind und was Sie darstellen. Für sie hat Ihre Welt keinerlei Bedeutung. Sie werden gar nicht versuchen, dies zu begreifen. Sie werden müde sein, Hunger haben und mit Ihrer schönen Eichentür Feuer machen. Sie werden auf Ihre Terrasse kacken und sich mit den Büchern Ihrer Bibliothek die Hände reinigen. Ihren Wein werden sie ausspucken. Mit ihren Fingern werden sie aus Ihren hübschen Zinntellern essen, die ich an Ihrer Wand sehe. Sie werden auf den Fersen hocken und zusehen, wie Ihre Sessel brennen. Aus der Goldstickerei Ihrer Decken werden sie sich Schmuck machen. Jeder Gegenstand wird den Sinn verlieren, den Sie dafür haben. Das Schöne wird nicht mehr schön sein, das Nützliche wird lächerlich und das Unnütze absurd werden. Nichts wird mehr einen echten Wert haben mit Ausnahme vielleicht eines in 25 einer Ecke vergessenen Kordelstücks, um das sie sich streiten werden, wer weiß? Alles um Sie herum wird in Stücke gehen. Es wird furchtbar sein. Machen Sie sich aus dem Staub!Noch eins: Jene werden verständnislos zerstören. Aber Sie?Ich? Weil ich dies alles hasse. Weil das Weltgewissen verlangt, daß man dies alles haßt. Hauen Sie ab! Ich pfeife auf Sie!«Der alte Herr ging ins Haus, kam aber gleich wieder zurück mit einem Gewehr in

22 der Hand.»Was machen Sie da?«fragte der junge Mann.»Ich werde Sie wohl töten. Meine Welt wird vielleicht nach morgen früh nicht mehr leben, daher habe ich die Absicht, die letzten Minuten noch voll auszunutzen. Ich werde in dieser Nacht, ohne mich vom Fleck zu rühren, ein zweites Leben führen, und ich glaube, daß es noch schöner als das erste sein wird. Da meinesgleichen abgereist ist, will ich es allein erleben.und ich?sie sind nicht meinesgleichen. Sie sind mein Gegner. Ich will diese kostbare Nacht nicht in Gesellschaft meines Gegners vergeuden. Daher werde ich Sie töten.sie können das nicht. Ich bin sicher, daß Sie noch nie jemand getötet haben.das ist wahr. Ich habe immer das friedliche Leben eines Literaturprofessors geführt, der seinen Beruf liebte. Im Krieg brauchte man mich nicht, und die offenbar unnütze Töterei bedrückt mich auch physisch. Ich wäre wahrscheinlich ein schlechter Soldat gewesen. Dennoch glaube ich, daß ich mit Actius zusammen fröhlich einen Hunnen getötet hätte. Und mit Karl Martell arabisches Fleisch zu durchlöchern hätte mich sehr begeistert, ebenso mit Gottfried von Bouillon oder mit Balduin dem Aussätzigen. Unter den Mauern von Byzanz tot an der Seite von Konstantin Dragasès, mein Gott! Wieviel Türken hätte ich noch umgebracht, bevor ich selbst dran gewesen wäre. Glücklicherweise sterben Menschen, die den Zweifel nicht kennen, nicht so leicht. Nachdem ich wiederauferstanden war, habe ich gemeinsam mit Teutonen Slawen erschlagen. Ich trug das Kreuz auf meinem weißen Mantel 26 und verließ mit dem blutigen Schwert in der Hand zusammen mit der vorbildlichen kleinen Truppe des Villiers de l Isle-Adam die Insel Rhodos. Als Matrose Johanns von Österreich habe ich mich in Lepanto gerächt. Eine schöne Schlachterei! Dann hat man mich nicht mehr verwendet. Nur ein paar Lappalien, die langsam schlecht beurteilt werden. Alles wird so häßlich. Es gibt keine Fanfaren, keine Standarten und kein Te Deum mehr. Natürlich habe ich niemand getötet. Aber alle diese Schlachten, mit denen ich mich solidarisch fühle, erlebe ich jetzt mit einem Schlag, und mit einem einzigen Schuß bin ich die Hauptperson. Da ist er!«der junge Mann brach graziös zusammen, glitt am Geländer, an das er sich angelehnt hatte, hinunter und saß schließlich mit hängenden Armen auf seinen Fersen, in einer Stellung, die für ihn üblich war. Der rote Fleck auf seiner linken

23 Brustseite wurde etwas größer, hörte aber dann rasch auf zu bluten. Er starb ganz ordentlich. Ein Sieg nach Art des Abendlandes, so endgültig wie nutzlos und lächerlich. Im Frieden mit sich selbst wandte der alte Herr Calguès dem Toten den Rücken zu und kehrte in das Haus zurück Seelisch ausgewogen spürte der Professor ein deutliches Hungergefühl in seinem Magen. Dabei kamen bei ihm einige Erinnerungen an andere Heißhungerzustände auf, besonders an diese herrlichen Hungergefühle, wie sie beim Mann nach dem Liebesakt auftreten. Von diesen einstigen Nächten hatte der Professor nur noch verschwommene Eindrücke behalten, die nicht von Belang waren. Aber an andere, zufällige Essen, sogar zu zweit, erinnerte er sich sehr genau. Graues Brot in großen feinen Scheiben, schwarzer Schinken aus den benachbarten Bergen, trockener Ziegenkäse vom Dorf, Oliven aus den Terrassenobstgärten, von der Sonne verwöhnte Aprikosen und etwas herber Wein aus steinigen Halden. Und er beschloß, an diesem Abend noch einmal der Liebe zu huldigen. Er nahm ein großes Glas für den Durst und ein weiteres zum Kosten, denn es war ja genug da. Genießerisch leckte er sich die Lippen. Dann schnitt er Schinken in dünne Scheiben, die er mit ein paar Oliven auf einen Zinnteller aufreihte, legte Käse auf ein Rebblatt und Früchte in einen großen flachen Korb. Glücklich lächelnd setzte er sich an seine Tafel. Er liebte. Wie jeder von der Gunst der Stunde bedachte Liebhaber fand er sich mit der allein, welche er liebte. An diesem Abend war es aber keine Frau noch ein sonstiges Lebewesen, sondern eine Art Eigenprojektion von unzähligen Gesichtern, mit denen er sich identifizierte. Die silberne Gabel zum Beispiel, mit den abgenutzten Zinken und den fast ausgelöschten Initialen eines mütterlichen Vorfahren. Ein merkwürdiger Gegenstand, wenn man bedenkt, daß der Westen ihn aus einem Stilbedürfnis erfunden hat, während ein Drittel der Menschheit noch das Essen mit den Fingern greift. Das Glas, dieses unnütze Kristall. Man stellt vier Stück nebeneinander hin. Warum? Müßte man nicht einfach keine Gläser mehr hinstellen, weil Sertao 28 verdurstete oder Indien im Schlamm seiner versiegten Brunnen Typhus aufkommen ließ? Die Tür. Die betrogenen Ehemänner können an die Tür klopfen, drohen, sich rächen. Bei der Liebe teilt man nicht, und über die übrigen Leute spottet man. Sie existieren einfach nicht. Marschieren die vom Glück betrogenen Ehemänner zu Tausenden heran? Vortrefflich!

24 Der Professor stellte vier Gläser nebeneinander und rückte die Lampe heran, um sie zu beleuchten. Sie funkelten wie Sterne. Etwas weiter entfernt stand eine riesige massive Bauerntruhe, ein vier Jahrhunderte altes Erbstück, wie der junge Mann gesagt hatte. In dieser Truhe lag dicht zusammengepreßt viele Wäsche. Tischtücher, Handtücher, Laken, Kopfkissenbezüge, Scheuertücher, unverwüstliche Leintücher aus einer vergangenen Zeit und noch weitere nach Lavendel duftende Haushaltsschätze. Der Professor erinnerte sich nicht, daß er von diesen Haufen jemals etwas benötigt hätte, die seine Mutter oder Großmutter ehedem eingeordnet hatten. Sie haben sich bei Sammlungen für Arme nur von gebrauchter Wäsche getrennt, die sorgfältig geflickt, aber noch brauchbar war. Die lieben Frauen mit den umsichtigen Herzen! Ist leichtfertige Nächstenliebe nicht in erster Linie eine Versündigung gegen sich selbst? Außerdem stieg die Zahl der Armen inzwischen gewaltig an. Man kannte sie nicht. Sie waren nicht von hier. Sie waren namenlos geworden, überschwemmten alles und wurden zur Plage. Sie drangen in die Familien ein, in die Häuser, in die Städte. Auf tausenderlei Arten bahnten sie sich einen Weg. Sie riefen über die Briefkästen um Hilfe. Jeden Morgen sprangen ihre schrecklichen Fotos ins Gesicht und forderten im Namen aller. Zeitungen, Rundfunk, Kirchen und politische Parteien standen in ihrem Dienst. Man sah nur noch sie. Ihre Völker brauchten auch keine Wäsche mehr, sondern nur noch Postscheckkonten. In herzzerreißenden, fast drohenden Aufrufen wurde zur Zahlung gemahnt. Es gab noch Schlimmeres. Im Fernsehen, in welchem sie sich zu regen begannen, sah man sie zu Tausenden sterben. Das anonyme Blutbad wurde ein dauerndes Schauspiel, vorgeführt von Berufsdichtern und Drahtziehern. Die Erde war mit Armen 29 geradezu überflutet. Und überall regten sich Gewissensbisse. Glück wurde als Makel empfunden, von der Freude ganz zu schweigen. Kurz, es war keine Wohltat mehr, wenn man etwas schenkte, sondern eine Verhöhnung. Der Professor hatte vor einiger Zeit seine Schränke und Truhen sowie Keller und Speiseschrank abgeschlossen. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, da am gleichen Tag der Papst den Vatikan geleert hatte. Tresore, Bibliothek, Bilder, Fresken, Tiara, Möbel und Statuen hatte er unter dem Beifall der Christen verkauft, von denen diejenigen, die vor Rührung am meisten ergriffen und wie von einer Epidemie befallen waren, sich fragten, ob sie ihn nicht nachahmen und arm werden sollten. Mit einer geradezu lächerlichen Geste angesichts der

25 Ewigkeit hatte der Papst alles in ein Faß ohne Boden geworfen. Mit dem Ergebnis hatte man noch nicht einmal den Landwirtschaftsetat eines Jahres von Pakistan ausgleichen können. Moralisch gesehen hatte er nur seinen Reichtum enthüllt. Die Dritte Welt machte ihm daher auch schnell Vorwürfe, und er verlor jede Glaubwürdigkeit. Seitdem war Seine Heiligkeit infolge selbst gewählter Mittellosigkeit in ihrem öden, schäbigen Palast umhergeirrt und schließlich in einer leeren Wohnung auf einem eisernen Bettgestell zwischen einem Küchentisch und drei Strohstühlen wie ein armer Landpfarrer gestorben. Man hatte den neuen Papst ungefähr zur gleichen Zeit gewählt, als Herr Calguès in den Ruhestand getreten war. Der eine hatte traurig den Platz auf einem Strohthron eingenommen, während der andere in sein idyllisches Dorf zog und entschlossen war, es nicht mehr zu verlassen und nunmehr alles in dem seiner würdigen Rahmen zu genießen Gott sei gedankt für den weichen Schinken, das duftende Brot und den frischen Wein! Ein Prosit auf die alte Welt und auf alle, die sich darin wohl fühlen! Während der alte Herr bedächtig aß und trank und jeden Bissen und jeden Schluck genießerisch verzehrte, ließ er die Blicke in seinem großen Zimmer umherschweifen. Dazu brauchte er viel Zeit, denn er verweilte bei jedem Gegenstand, und jede Betracht- 30 ung war für ihn ein Liebesakt. Manchmal kamen ihm die Tränen, Tränen der Freude. In diesem Haus erzählte alles vom Ansehen derer, die es bewohnt hatten, von ihrem Milieu, ihrem Wissen, ihrer Bescheidenheit und ihrem Geschmack für Tradition, wohl wissend, daß die Menschen sich weiter entfalten können, wenn sie sich gegenseitig achten. Gegenstände formen den Menschen besser als das Spiel der Ideen. Ihrethalben ist es soweit gekommen, daß der weiße Mann sich aufgab. Bei der Massenflucht nach Norden schien ihm jedoch irgendwie bewußt geworden zu sein, daß er schon verloren war und daß sich bei dem Dreck, den sie ausschied, eine Verteidigung kaum noch lohnte. Vielleicht war dies auch eine Erklärung? Um 11 Uhr abends verlas ein Sprecher des französischen Rundfunks ein weiteres Kommuniqué:»Die Regierung hat mit Befremden von der allgemeinen Flucht der Bevölkerung des Südens Kenntnis genommen. Trotz Bedauerns fühlt sie sich bei dieser neuen Lage nicht ermächtigt, davon abzuraten. Gendarmerie und Armee haben genaue Anweisungen erhalten, damit die Abwanderung ordnungsgemäß verläuft und die vom Norden her in Anmarsch befindlichen militärischen Kolonnen nicht gestört werden. In den vier Küstendepartements ist der Notstand ausgerufen worden. Herr Jean Perret, Staatssekretär und persönlicher Beauftragter des Präsidenten der Republik, hat die Verantwortung übernommen. Die Armee wird im Rahmen