Wer die wahrheit verschweigt ist ein lügner

SZ.de: Selbst Kleinkinder sagen bereits den Satz: "Ich war's nicht!" Liegt die Lüge in unserer Natur?

Jack Nasher: Sie ist wichtig für die Entwicklung der Persönlichkeit. Mit dem Lügen bemerkt ein Kind, dass es ein Individuum ist, dass es also eine Welt gibt, in die nicht einmal die Eltern Einblick haben. Zunächst lügt es, um Strafe zu vermeiden - etwa, wenn es gefragt wird: "Hast du das kaputtgemacht?" Mit ungefähr zweieinhalb Jahren verstehen es Kinder, sich durch Lügen einen Vorteil zu erschleichen. Zum Beispiel, indem sie bewusst in die falsche Richtung zeigen, wenn ein anderes Kind nach einem Spielzeug fragt, das es nicht hergeben will.

Auch in der Politik gab es aufsehenerregende Lügen, wie etwa Clintons Erklärung zur Lewinsky-Affäre. Hätten Sie die Lüge erkannt?

Es ist nicht sofort zu sehen, nicht, während Clinton redet. Aber danach. Das ist wie bei einem schlechten Schauspieler, der während der Szene humpelt und dann plötzlich völlig normal von der Bühne spaziert. In dem Video ist es deutlich zu erkennen: Am Ende der Aussage fällt sein Gesicht zusammen. In dem Moment zeigt er eine typische Emotion, nämlich Trauer - ein Hinweis auf Schuldgefühle.

Schuldgefühle lassen sich am Gesichtsausdruck erkennen?

Ja, weil Schuld aussieht wie Trauer: Die Mundwinkel sind nach unten gerichtet, der Blick geht ins Leere.

Woran erkenne ich noch, ob jemand lügt?

Abgesehen von der Schuld: an der Angst. Beide Emotionen tauchen auf, ohne dass es einen offensichtlichen Grund dafür gibt. Sie sehen Angst relativ leicht im Gesicht eines Menschen: Die Augen sind aufgerissen, die Mundwinkel nach hinten gezogen - als ob ein Bus ins Gesicht fährt. Außerdem wird die Stimme höher. Das muss man sich gar nicht im Detail merken - wir erkennen instinktiv, ob ein anderer Menschen Angst fühlt oder nicht.

Wie reagiere ich, wenn ich das Gefühl habe, dass mein Gegenüber mich belügt. Gleich damit konfrontieren?

Generell sollte man es sich nicht gleich anmerken lassen, wenn man das Gefühl hat, belogen zu werden. Sondern erst einmal versuchen, im Gespräch die Wahrheit herauszufinden. Wenn genügend Lügenmerkmale erfüllt sind: Konfrontation ja - Unterstellungen wie "Du lügst doch!" muss man jedoch vermeiden. "Du hast gesagt" ist auf jeden Fall besser als "Du hast gelogen". Statt vorwurfsvoll zu fragen "Wer hat das gestohlen?" lieber offen fragen, zum Beispiel "Wer hat das genommen?"

Ist es ratsam, jemanden einzuschüchtern?

Erst, wenn nichts anderes mehr hilft. Solange man sich nicht sicher ist, sollte man nicht einmal zeigen, dass man jemanden verdächtigt.

Wie bringen Sie Ihr Gegenüber dazu, die Wahrheit preiszugeben?

Durch einen Bluff - zum Beispiel, indem ich vorgebe, über relevante Informationen oder Optionen zu verfügen. Nicht nur Kinder geben eher etwas zu, wenn sie glauben, die Eltern wissen bereits Bescheid. Auch für ein Bewerbungsgespräch eignet sich diese Methode gut. Will ich etwa wissen, ob der Bewerber bei seiner Firma rausgeflogen ist, deute ich an, dass ich demnächst mit seinem ehemaligen Personalchef zum Essen verabredet bin. Umgekehrt funktioniert es ebenso - man wird ja in solchen Gesprächen häufig angeflunkert, was die Aufstiegsmöglichkeiten oder Gratifikationen in einem Unternehmen angeht. In dem Fall kann der Bewerber den Eindruck erwecken, er habe Kontakt habe zu anderen Mitarbeitern. Sehr gut funktioniert die Methode auch bei Verdacht auf Diebstahl: Man behauptet bei der Befragung, dass sich die Sache ohnehin bald aufklären wird, weil es eine versteckte Kamera gibt, die noch ausgewertet wird.

Kann es nicht nach hinten losgehen, mit vorgespiegelten Tatsachen zu pokern?

Wenn man gar nichts hat, kann es natürlich peinlich werden, aber wenn man etwas nur vage andeutet, kann man es später immer noch relativieren. Eleganter geht es allerdings mit der Reflexfrage. Diese Methode macht nervös. Weil sie eine versteckte Anschuldigung enthält, die nur der Angesprochene als solche erkennt.

Kollegen reden miteinander, Unterhaltung auf der ArbeitGaudiLab/Shutterstock

Wir Menschen glänzen nicht gerade mit Ehrlichkeit. „Schön, dich zu sehen“, „Mir geht es gut“, „Ich hab gerade Zeit“ — kleine Alltagslügen gehen uns leicht von der Zunge, ohne dass wir groß darüber nachdenken.

Laut einer Studie der University of Massachusetts sind 60 Prozent aller Menschen nicht in der Lage, ein zehnminütiges Gespräch zu führen, ohne eine Lüge zu erzählen. Auch wenn die Studie nur unter 121 US-amerikanischen Studenten durchgeführt wurde und damit nicht gerade repräsentativ ist — nur die wenigsten unter uns werden von sich behaupten können, noch niemals gelogen zu haben.

„Wir verbiegen die Wahrheit, um uns das Leben leichter zu machen“, sagte die US-amerikanische Arbeitsplatzexpertin und Autorin Lynn Taylor gegenüber Business Insider. Im Büro zu lügen, sei wie eine ansteckende Krankheit. Aber was, wenn wir unsere Kollegen und Chefs nicht anlügen, sondern ihnen Informationen vorenthalten, weil wir wissen, dass sie einen Streit lostreten könnten? Verbiegen wir dann auch die Wahrheit — und lügen damit doch auf eine gewisse Art? Oder tun wir sogar etwas Gutes?

„Wenn ich es verschweige, bleibt es friedlich“

Nehmen wir folgendes Beispiel: Zwei Kollegen stimmen ihren Terminplan für den kommenden Tag ab. Kollege A sagt Kollege B nicht, dass er um 16:30 Uhr noch einen Termin beim Kunden XY hat. Er weiß genau, dass sein Kollege B neidisch wäre, weil dieser schon lange auf einen Termin mit besagtem Kunden hofft — also verschweigt Kollege A es lieber. Dass dem Kunden seine Anfrage besser gefallen hat als die von Kollege B, würde ihn schließlich nur verletzen.

Als Kollege B dann um 16:00 Uhr fragt, wo Kollege A hingeht, erfährt er von dem Termin und ist sehr wütend, dass er davon in der Tagesbesprechung nichts erfahren hat.

Für Kollege B ist der Fall klar. Er erwartet Transparenz — für ihn ist Kollege A ein Lügner und hat mit seiner Handlung das Vertrauen zwischen den beiden gebrochen. Kollege A ist da anderer Meinung. Er hat schließlich nur deshalb nichts gesagt, weil er Kollege B nicht verletzen und einem Konflikt aus dem Weg gehen wollte – getreu dem Motto: „Wenn ich es verschweige, bleibt es friedlich.“

Laut Mediatorin und Konfliktmanagerin Stephanie Huber lässt sich die Frage, ob Verschweigen gleich Lügen ist, nicht mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten. „Es ist eine subjektive Wahrnehmung der einzelnen Personen“, sagt sie. Und gehen die Wahrnehmungen auseinander, entstehen Missverständnisse, die wiederum zu Konflikten führen.

„Alles, was nicht ausgesprochen wird, führt zu beiderseitigen Verletzungen“

War Kollege A zu feige, um Kollege B im Vorfeld von dem Termin zu erzählen? Oder ist Kollege B schlichtweg zu sensibel? „All die Fragen und Antworten unterliegen der subjektiven Bewertung jedes Einzelnen. Sie können unterschiedliche Menschen befragen und Sie werden unterschiedliche Antworten erhalten“, erklärt die Konfliktmanagerin. 

Deswegen rät sie von Anfang an zu Offenheit und Transparenz — egal ob ihr in der Lage von Kollege A oder Kollege B seid. „Alles, was nicht ausgesprochen wird, führt zu beiderseitigen Verletzungen.“ Wenn der Schaden angerichtet ist, ist das Vertrauen dahin und die Arbeitsatmosphäre vergiftet. Huber vergleicht es mit der Vernehmung eines Zeugen vor Gericht: „Sie dürfen nichts verschweigen, aber auch nichts hinzufügen, wenn es um die Wahrheit geht.“

Sprecht den Konflikt an, wenn ihr der Gekränkte seid

Offenheit und Transparenz sollte nicht nur Kollege A in der Situation zeigen. Auch Kollege B, der durch das Verhalten seines Bürogenossen gekränkt ist, sollte laut Huber das Problem ansprechen. Kollege A könne schließlich nicht wissen, was er empfindet. „Er muss es konkret ansprechen und sagen: Ich halte diese Form der Kommunikation für eine Lüge und auf der Ebene wird unsere Beziehung nicht funktionieren.“

Bevor das klärende Gespräch stattfindet, sollte aber erstmal der Kernkonflikt herausgearbeitet werden. Worum geht es wirklich? Warum möchte Kollege B nicht, dass Kollege A zum Kunden geht? Hat Kollege A vielleicht dem Kollegen B den Kunden ausgespannt und die Provision einkassiert? „Erst wenn dieses Problem gelöst ist, wird der Konflikt nicht wieder vorkommen.“

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Im klärenden Gespräch empfiehlt Huber der gekränkten Person zudem, die eigenen Gedanken nicht als Anklage zu formulieren und zum „Ich“ anstelle von „Du“ zu greifen. Ein „Ich fühle mich verletzt“ wirke schließlich ganz anders als ein „Du hast gelogen“. Im besten Fall gehen beide Kollegen zusammen in die Mittagspause oder treffen sich nach Feierabend im Biergarten. Lenkt der Gesprächspartner trotzdem nicht ein, könne man laut Huber mit Konsequenzen warnen und drohen, es auf einer anderen Ebene zu klären — zum Beispiel vor dem Chef.

Klar ist jedenfalls: Dinge zu verschweigen, ist generell keine gute Idee. Weder den Kundentermin, noch, dass man ein Problem damit hat, dass der Kollege den Termin verschwiegen hat. „Das ist wie offene Schuhbändel — lange Zeit geht’s gut, aber irgendwann stolpert man drüber.“ 

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