Präsident der ukraine hat einmalige chance

Der symbolträchtige Besuch von EU-Ratspräsident Donald Tusk am 7. Juli nach Stanista Luhanska, einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte auf der Kontaktlinie in der Region Ost-Donbass in der Ukraine, wäre vor wenigen Monaten noch undenkbar gewesen. Seit mehr als einer Woche sind die Waffen in der Gegend verstummt und es herrscht ein Waffenstillstand, der es der Bevölkerung auf beiden Seiten der Kontaktlinie ermöglicht, auf bessere Lebensbedingungen zu hoffen. Dies ist immer noch ein fragiler Zustand. Aber es erinnert die Welt daran, dass der inoffiziell von Russland initiierte Krieg vor allem eine menschliche Tragödie ist, die bislang mehr als 13.000 Menschenleben gefordert, zwei Millionen ukrainische Bürger vertrieben und mehr als drei Millionen Einwohner des Donbass – Ukrainer und Russen gleichermaßen – de facto als Geiseln im eigenen Land hält.

Der neu gewählte Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyi, hat dies verstanden und es zu Recht zu seiner obersten Priorität erklärt, das Leiden von Millionen ukrainischer Bürgerinnen und Bürgern zu lindern. Mit 73 Prozent der Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen hat er nun ein starkes Mandat zu handeln und sagte uns kürzlich in einem Gespräch, dass „der Wiederaufbau nicht warten kann, bis der Krieg vorbei ist.“

Beginnen will der Präsident in den Teilen der betroffenen Region, die unter der Kontrolle von Kiew steht. Um die Wunden zu heilen, müssten sich die Menschen auf beiden Seiten der 500 Kilometer langen Kontaktlinie (zwischen den ukrainischen Regierungstruppen und den russisch-geführten Kämpfern) im Rest der Ukraine willkommen fühlen. Sie verdienen die Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben nach fünf Jahren des Überlebenskampfes.

Eine Erleichterung der Bewegungsfreiheit Zehntausender von Anwohnern, die keine andere Wahl haben, als regelmäßig die Kontaktlinie zu überqueren, würde maßgeblich dazu beitragen; ganz zu schweigen von der Reparatur von Straßen und Brücken und der Wiederherstellung grundlegender Verwaltungsdienste. Diese Schritte müssen auch durch eine grundlegend veränderte Kommunikationsstrategie untermauert werden, um das Informationsmonopol Russlands gegenüber den Menschen im direkten Umfeld der Front zu durchbrechen.

Angesichts der Komplexität und des Umfangs dieser Probleme sowie des tiefen Misstrauens auf beiden Seiten der Kontaktlinie kann Präsident Selenskyi nur mit Hilfe der uneingeschränkten Unterstützung der internationalen Gemeinschaft Erfolg haben. Gerade vor dem Hintergrund innenpolitischer Kritik bedürfen die Bemühungen des ukrainischen Präsidenten, einen stabilen und dauerhaften Waffenstillstand an der Front zu fördern, der sowohl von der ukrainischen Armee als auch von den russisch-geführten Kräften abhängt, internationaler Unterstützung.

Präsident der ukraine hat einmalige chance

Der künftige ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj (AP)

Tobias Armbrüster: Viele offene Fragen also, viele Obs und Wenns und wenig Konkretes über den neuen Mann in Kiew. Am Telefon ist jetzt der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk. Schönen guten Morgen!

Andrij Melnyk: Schönen guten Morgen, Herr Armbrüster, nach Köln!

Armbrüster: Herr Botschafter, vielleicht können Sie uns weiterhelfen heute Morgen: Wofür steht dieser neue Präsident der Ukraine?

Melnyk: Also der neu gewählte Präsident Selenskyj hat einen beispiellosen Vertrauensvorschuss der Menschen erhalten und trotzt allen Vorurteilen und Klischees, hatte eine historische Chance und daher auch volle Unterstützung seitens der Opposition verdient. Ihm gebührt auch der Beistand unserer westlichen Partner - das haben wir gerade gehört an den Reaktionen der Politiker aus Berlin -, und die Ukrainer haben diesen Test für Demokratie mit Würde wieder glänzend bestanden.

Nun gilt es, diese junge und aufstrebende demokratische Ukraine mit allen Mitteln zu unterstützen, auch mit mutigen Entscheidungen. Und die beste Antwort aus Deutschland wäre, endlich die EU-Mitgliedschaft für die Ukraine in Aussicht zu stellen.

Ich kann nicht verstehen, wie so viele sich hier in Berlin so schwertun mit dieser Entscheidung, die Deutschen würden diesen Schritt begrüßen. Das hat vor Kurzem eine Umfrage des russischsprachigen Senders OstWest in Berlin ergeben, die Ukraine solle die Beitrittsperspektive für die EU und für die NATO bekommen. Und in diesem Sinne: Das ist die beste Antwort auf Wolodymyr Selenskyj.

"Die Menschen haben sich für einen prowestlichen Kurs entschieden"

Armbrüster: Herr Botschafter, vielleicht steht da auch eine gewisse Unwissenheit ganz am Anfang, dass die Deutschen da vielleicht gerne einen weiteren Schritt auf Selenskyj zugehen würden, aber dass viele einfach noch nicht wissen, wofür dieser Mann eigentlich steht.

Vielleicht können Sie uns das noch einmal kurz erklären: Was wird sich denn ändern unter Selenskyj, oder in welche Richtung wird er die Ukraine in den kommenden Jahren steuern?

Melnyk: Wenn man die Wahlprogramme von Selenskyj und Poroschenko vergleicht, da finden Sie nicht so viele Unterschiede. Das heißt, die Menschen haben sich für einen prowestlichen Kurs entschieden, so weit stelle ich klar, und nun muss man sehen, inwieweit Selenskyj tatsächlich ein gutes Team bildet aus erfahrenen Politikern, aber vielleicht auch aus vielen jungen, kreativen Menschen, und wie Selenskyj jetzt diesen Kurs tatsächlich umsetzen wird.

Was wir gesehen haben in den letzten Tagen seit der Wiederwahl, deutete darauf hin, dass Selenskyj viel moderater auftreten wird als im Wahlkampf angedeutet, also die Debatten waren sehr hitzig - Sie haben das auch mitverfolgt, zum Beispiel dieses Rededuell im Olympiastadion von Kiew.

Also für mich war das eine wahre Sternstunde der Demokratie im ursprünglichen Sinne, denn man hat gesehen, wie leidenschaftlich Politik auch heutzutage mit all der Verdrossenheit gemacht werden kann. Ich fühlte mich zum Beispiel erinnert an das antike Griechenland, an die Agora, an die Wurzeln der unmittelbaren Demokratie Athens, wo im Zentrum das Zusammenkommen, das Miteinanderreden und die Kunst der Überzeugung stand. Die Ukrainer haben ja ganz neue Maßstäbe in diesem Sinne gesetzt.

Präsident der ukraine hat einmalige chance

Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Deutschland (imago stock&people)

"Hauptsache ist, dass die Menschen wieder begeistert werden von der Politik"

Armbrüster: Das klingt jetzt nach viel Show und wenig Substanz. Kann man das so zusammenfassen, zeichnet das den neuen Präsidenten aus?

Melnyk: Ja, Hauptsache ist, dass die Menschen wieder begeistert werden, also von der Politik. Das ist doch für mich persönlich ein Schluss aus dieser Debatte. Ja, Sie haben recht, es war zu wenig Substanz in diesem Rededuell, aber gleichzeitig haben die Menschen gespürt, sie können die Politik beeinflussen, sie können die Politik ändern und sie können auch denjenigen wählen, der aus ihrer Sicht diesen prowestlichen Kurs auch am besten durchsetzen kann. Und in diesem Sinne glaube ich, dass auch Selenskyj volle Unterstützung des Westens und auch der Bundesrepublik verdient hat.

Melnyk: Ja, dieser Verdacht stand im Raum, auch im Laufe des gesamten Wettkampfes in den letzten Monaten, auch in den letzten Tagen vor der Wahl. Ich glaube, dass wir in der Ukraine genug Kontrollmechanismen eingerichtet haben, damit, wenn das tatsächlich passieren sollte, dass der Einfluss von Oligarchen eher steigen als abnehmen würde, denn die Menschen wollten auch das Oligarchentum endlich besiegen mit ihrer Selenskyj-Wahl.

Ich glaube, dass der künftige Präsident Selenskyj keine Chance hatte, irgendwie durch den Hinterhof neuen Oligarchen Türen und Tore zu öffnen, damit sie auch weiterhin die Politik im Lande beeinflussen können.

Armbrüster: Aber Herr Botschafter, wie kann ein Präsident den Einfluss der Oligarchen beschränken, wenn er selber von einem Oligarchen gesteuert wird?

Melnyk: Ja, das ist jetzt die Stunde der Wahrheit in der Tat. Jetzt muss sich zeigen, dass all das, was über Selenskyj gesprochen wurde, und all diese Verdachtsmomente, dass er dafür sorgt, und zwar persönlich, nicht sein Team, sondern dass der Präsident Selenskyj persönlich jetzt Klarheit schafft und die Spielregeln schafft, nach denen die Oligarchen wirklich nicht mehr in der Ukraine das Sagen haben.

"Jetzt muss Selenskyj zeigen, was er besser als Poroschenko machen kann"

Armbrüster: Und lässt sich damit vielleicht auch Ihre erste Frage beantworten, warum Europa nicht endlich diesen Schritt macht und der Ukraine die EU-Mitgliedschaft anbietet?

Lässt sich das nicht damit erklären, dass man auf dieser Seite des Kontinents einfach gerne noch ein bisschen abwartet, um rauszufinden, ob sich das Land wirklich aus der Hand der Oligarchen befreien kann und ob das Land wirklich die Korruption besiegen kann. Und dann ist es möglicherweise auch reif für eine weitere Annäherung an die EU.

Melnyk: Ja, also Dank Präsident Poroschenko, das muss man auch sagen, wurden in den letzten fünf Jahren sehr, sehr viele Reformen angeschoben, auf den Weg gebracht, und es wurde ein sehr solides Fundament gebaut. Jetzt muss Selenskyj wirklich liefern, er muss zeigen, was er besser als Poroschenko machen kann. Die Möglichkeit dazu hat er, also das vollste Vertrauen der Menschen, und jetzt hoffen wir, dass auch Deutschland wie gesagt mit neuen Ideen, mit neuen mutigen Schritten uns unter die Arme greift.

Es war ein gutes Zeichen, dass die Kanzlerin Präsident Selenskyj gleich am Montag gratulierte und gestern auch mit ihm telefonisch gesprochen hatte und nach Berlin eingeladen hat. Ich glaube, heute sehen wir sehr, sehr viele neue Chancen, vor allem auch um den Krieg im Osten zu beenden.

Auch das war eine Hoffnung der Menschen, denn die Menschen, die sind müde vom Krieg, die wollen endlich Frieden, aber Fakt ist, dass man nur mit dieser deutschen Hilfe den Krieg beenden kann. Und aus diesem Grund hoffen wir. Sie haben gerade über den Vorsitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat gesprochen, und ich glaube, gerade heute haben wir diese einmalige Chance, die Friedensmission zu dem Donbass, über die man seit Jahren nur spricht, dass man endlich diese Initiative ins Rollen brächte mit der Hilfe von Paris und von Washington. Also diese Chance liegt auf dem Tisch.

Armbrüster: Herr Botschafter, welche Initiative, welche neue Initiative kann denn der neue Präsident da ins Rollen bringen?

Melnyk: Es gibt viele neue Ideen, wie dieser Reformplan, den Poroschenko ins Leben gerufen hat, jetzt auch fortgesetzt werden kann, denn es geht um einfache Dinge: also Oligarchentum besiegen und auch den Krieg beenden. Und auch den Wohlstand für die Menschen sichern, denn die Menschen haben zwar anerkannt, dass sehr, sehr viel getan wurde in den letzten Jahren, was die Reformen angeht, aber es war ihnen angeblich trotzdem zu wenig.

Die Menschen haben zu wenig Wohlstand gesehen, weil jede Reform bedeutet Einschnitte, jede Reform bedeutet, dass man vielleicht auch ärmer geworden ist, aber die allgemeine Situation, die makroökonomische Lage gesünder geworden ist. Und in diesem Sinne ist es jetzt wichtig, diesen Spagat zu schaffen, das heißt, Reformen weiterhin vorantreiben, das ist unerlässlich, aber gleichzeitig schauen, dass die Menschen diesen Fortschritt auch in ihrer eigenen Tasche spüren, denn auch das war quasi eine gewisse Abrechnung in dieser Wahl.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Wie hoch ist der Lebensstandard in der Ukraine?

Bevölkerung.

Wann begann Ukraine?

Die nachfolgende Zeitleiste gibt einen Überblick über die Geschichte der Ukraine von der Unabhängigkeit des Landes 1991 bis zum Kriegsausbruch 2022.