Ein umfassendes Verständnis der Recovery-Orientierung ermöglicht einen anderen Blick auf die berufliche (Wieder-)Eingliederung von psychisch schwer kranken Menschen in den ersten Arbeitsmarkt. Die bisherigen Bemühungen zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt verfolgen das Ziel der Reduktion oder der Vermeidung von Rentenzahlungen der Invalidenversicherung (IV) mit Massnahmen der beruflichen Eingliederung als Mittel. Auf der Basis der Recovery-Orientierung kann dagegen gut aufgezeigt werden, dass Arbeit und die Teilhabe in einer Erwerbsgesellschaft einen wichtigen Beitrag für den Genesungsprozess von psychisch schwer kranken Menschen darstellen. Genesung ist somit das Ziel und die berufliche Eingliederung das Mittel. Diese Perspektive hat Auswirkungen auf die Zielsetzung der IV, aber auch auf alle involvierten Institutionen und Fachpersonen, die psychisch schwer kranke Menschen auf ihrem Genesungsweg begleiten. Show Benjamin Holinger Susanne Schoppmann von Benjamin Holinger1, Susanne Schoppmann2 Wichtige Merkmale in Zusammenhang mit der persönlichen Recovery sind Hoffnung, Identität, einen Sinn im Leben zu sehen und die Fähigkeit, Verantwortung für die eigene persönliche Recovery zu übernehmen (4). Hoffen zu können, optimistisch in die Zukunft zu schauen, wissen, wer man ist, und ein sinnerfülltes Leben zu leben, ist wohl für die meisten Menschen und nicht nur für Menschen mit ernsten psychischen Problemen von zentraler Bedeutung. Oder wie ein psychiatrischer Kollege es in einem Interview, geführt im Rahmen der Einführung von Recovery-Orientierung, ausgedrückt hat: «Ich finde das spannend auch für uns. Es regt an, sich auch selbst zu fragen, was du eigentlich mit deinem schönen Feierabend machst, ob du den Sinn in deinem Leben siehst – oder interessiert es dich nicht.» 8 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 4/2021 Foto: zVg FORTBILDUNG mengefasst werden. Psychiatrisch Tätige, gleich welcher Berufsgruppe, können Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen auf ihrem Genesungsweg unterstützen, indem sie ihr Augenmerk nicht nur auf die Behandlung der Erkrankung, sondern auch auf die genannten Komponenten richten, Hoffnung vermitteln, daran glauben, dass persönliche Genesung möglich ist, und die (Selbst-)Ermächtigung von Betroffenen fördern. Nur so können sich klinische und persönliche Recovery ergänzen. oder zum Abbruch einer Ausbildung führen, die Arbeitslosigkeit ist in dieser Bevölkerungsgruppe überdurchschnittlich hoch, obwohl die meisten Menschen mit psychischen Erkrankungen arbeiten wollen (8). Jegliche Form von Beschäftigung, bezahlt oder Freiwilligenarbeit, ist für die Betroffenen eine Möglichkeit, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, und somit Teil ihrer Recovery. Als Gründe für die tiefe Beschäftigungszahl von psychisch kranken Menschen führen Slade und Kollegen (12) an: Selbststigmatisierung und erwartete Diskriminierung der Betroffenen, Diskriminierung durch Institutionen und Gesellschaft sowie Arbeitgeber, denen Kenntnisse über die Beschäftigung von psychisch kranken Menschen fehlen. IV-Versicherte leiden zu jeweils 30 bis 40 Prozent unter dem Erleben negativer sozialer Reaktionen wie zum Beispiel soziale Distanzierung (25). Es besteht ein Zusammenhang zwischen sozialer Unterstützung und psychischen Belastungen: Je stärker die psychische Belastung ist, desto geringer ist die soziale Unterstützung, und Menschen, die sich wenig sozial unterstützt fühlen, berichten vermehrt von psychischen Belastungen (25). 4/2021 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 9 FORTBILDUNG Das erschwert den im Genesungsprozess notwendigen Schritt der Übernahme von Verantwortung für die eigene Genesung, denn die berufliche (Wieder-)Eingliederung ist Teil der persönlichen Recovery. Fazit: Positive Entwicklungen Erwerbsarbeit leistet einen wichtigen Beitrag zur per- sönlichen Recovery von psychisch schwer erkrankten Menschen. Wird die berufliche (Wieder-)Eingliederung als Teil des Genesungsprozesses und somit die Einglie- derung in die Erwerbstätigkeit als Teil der gesellschaft- lichen Inklusion respektive Teilhabe verstanden, ergibt sich daraus ein anderer Anspruch (3), aber auch die Auf- forderung an alle psychiatrisch tätigen Fachpersonen, zusammen mit den Betroffenen und der IV individuelle und selbstbestimmte Wege zurück zur Arbeit zu finden. Diese Tendenz schlägt sich bereits in einigen Reformen der IV nieder. So spricht das Bundesamt für Sozialversi- cherung (BSV) von einem Wandel der Rentenversiche- rung zu einer Eingliederungsversicherung (28). In der aktuell laufenden Weiterentwicklung der IV (WEIV) werden eine frühzeitige Erfassung und längerfristige Begleitung angestrebt, und die sozialberuflichen Inte- grationsmassnahmen sollen «besser an individuelle Be- dürfnisse angepasst» werden (28). Diese Entwicklung ist sehr zu begrüssen und könnte durch ein Reframing der Invalidenversicherung zur Inklusionsversicherung unter- stützt und verstärkt werden. l Korrespondenzadresse: Dr. rer. medic. Susanne Schoppmann Referenzen: 1. Ruggeri M et al.: Definition and prevalence of severe and persistent mental illness. Br J Psychiatry. 2000;177:149-155. 2. Deegan PE: Recovering our sense of value after being labeled mentally ill. J Psychosoc Nurs Ment Health Serv. 1993;31(4):7-11. 3. UN-Behindertenrechtskonvention (2014). Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Verfügbar über: https:// www.edi.admin.ch/edi/de/home/fachstellen/ebgb/recht/ international0/uebereinkommen-der-uno-ueber-die-rechte-vonmenschen-mit-behinde.html. Letzter Zugriff: 31.3.2021. 4. Slade M:. The contribution of mental health services to recovery. Journal of Mental Health 2009;15:367-371. 5. Von Kardorff E: Stigmatisierung, Diskriminierung und Exklusion psychisch kranker Menschen. Kerbe. Forum für Sozialpsychiatrie 2010;28(4):4-7. 6. Schomerus G et al.: Stigmatisierung psychisch Kranker. Psychiatrie und Psychotherapie up2date 2011;5(6):345-356. DOI: 10.1055/s-0031-1276917. 7. WHO: Europäischer Aktionsplan für psychische Gesundheit 2013– 2020. www.euro.who.int/__data/assets/pdf_ file/0008/195218/63wd11g_MentalHealth-2.pdf. Letzter Zugriff: 30.3.2021. 8. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN): S3-Leitlinie 2012. Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen (in German) (DGPPN Ed.). Berlin, Heidelberg: Springer. 9. 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Welches Geld bekomme ich wenn ich psychisch erkrankt bin?Kostenträger können – je nach Voraussetzungen – Arbeitsagentur, Rentenversicherung, Unfallversicherung, Jugend- und Sozialhilfeträger sein.
Was sagt man wenn jemand psychisch krank ist?Es ist hilfreich, dem psychisch Erkrankten gut zuzuhören und ihm Zeit zu geben, seine Probleme und seine Sicht der Dinge zu erklären. Zeigen Sie Interesse an seiner Sichtweise und versuchen Sie, Verständnis für ihn und seine Probleme aufzubringen. Vermeiden Sie es dagegen, ihm gute Ratschläge zu geben.
Was tun wenn man aus psychischen Gründen nicht mehr arbeiten kann?Wer eine psychische Erkrankung bei sich festzustellen glaubt, geht zunächst zum Hausarzt, der wiederum zum Psychiater oder Psychologen überweist. Führt eine ambulante Therapie nicht zur Besserung, kann bei der DRV eine Rehabilitationsmaßnahme beantragt werden. Drei Wochen dauert die Reha-Maßnahme in der Regel.
Warum wird jemand psychisch krank?Psychische Erkrankungen haben vielfältige Ursachen. Sie können die Folge schwerer körperlicher Erschöpfung, einer gescheiterten Beziehung oder lang dauernder Arbeitslosigkeit sein. Psychische Störungen können auf einer genetischen Veranlagung beruhen oder nervliche Ursachen haben.
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